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Ars Electronica 1994
Festival-Programm 1994
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Festival 1979-2007
 

 

Die kurze physische Präsenz der Architektur


'Gerhard Schmitt Gerhard Schmitt / 'Florian Wenz Florian Wenz / 'David Kurmann David Kurmann / 'Eric van der Mark Eric van der Mark

Die Architektur ist seit ihrer Anfängen eine raumschaffende Disziplin, spätestens seit der Einführung der Architekturzeichnung wurde sie auch zur bildgebenden Kunst. Sie manifestiert sich physisch durch reales, hartes Material. Diese Phase der physischen Existenz kann kurz sein im Verhältnis zur gesamten Existenz eines Gebäudes: Davor liegt die bildliche Darstellung, um geplante Gebäude in der Vorstellung der Betrachtenden möglichst überzeugend entstehen zu lassen, danach hinterläßt gebaute Architektur in unserer Erinnerung abstrakte Bilder. Beides sind virtuelle Phasen der Architektur, unterbrochen von der physischen Existenz eines Gebäudes. Die Kunst der Zeichnung hat in der Architektur ein hohes Niveau erreicht, wobei die Diskussion über Abstraktion und Realismus eine wichtige Rolle spielte. Seit Beginn der achtziger Jahre bietet die Computersimulation, seit Beginn der neunziger Jahre die Technik der virtuellen Realität (VR) neue Möglichkeiten, die sich zunächst an den bestehenden Darstellungsarten ausrichteten, sich aber heute zunehmend in eigene Richtungen entwickeln und die materielle Phase der Architektur relativieren.

NEUE ABSTRAKTIONEN IM ENTWURF
Im architektonischen Entwurfsprozeß treten verschiedene abstrakte Modelle physischer Objekte mit unterschiedlichsten Eigenschaften, Funktionen und Beschränkungen miteinander in Beziehung. Das traditionelle Architekturmodell zeigt primär die formal-geometrischen Eigenschaften eines Entwurfs. Arbeitsmodelle erlauben ein interaktives und schnelles Testen von räumlichen Alternativen und Materialien. Präsentationsmodelle sind trotz der notwendigen Abstraktion ein Versuch der Vorwegnahme von Realität und dienen als Entscheidungshilfe. Im traditionellen Modell kann den Modellelementen lediglich eine begrenzte Zahl von Attributen zugeordnet werden. Die sich daraus ableitenden Folgerungen müssen im menschlichen Gedächtnis analysiert werden. Damit ist die Wiederverwendbarkeit der traditionellen Modelle wesentlich geringer als die der elektronischen. Das Verlangen der Designer geht in Richtung einer nahtlosen Integration interaktiven Skizzierens, Modellierens und photorealistischer Darstellungen in einem durchgehenden Computerprogramm.

Mit dem Forschungsgebiet 'Computer Aided Architectural Design' entstanden neue Abstraktionen. Die Analyse von Gebäuden oder von Entwurfsprozessen (Akin, 1986) führte zu Computerprogrammen, die implizite Strukturen der Architektur formalisierten und damit sichtbar machten. Dazu gehören die fraktalen Aspekte in der Architektur Peter Eisenmans (Schmitt, 1988), die Grammatik von Frank Lloyd Wrights Präriehäusern (Koning, 1981), die Formengrammatiken amerikanischer Queen Anne Häuser (Flemming, 1987) oder der prototypische Charakter des Routineentwurfs (Gero, 1988). Es wäre ein Trugschluß anzunehmen, daß solche Analysen durch Umkehrung der Prozesse automatisch in Synthesen verwandelbar sind. Doch auch die automatische Erzeugung von Gebäudeteilen durch generative Techniken wie Grammatiken ist ein Schritt weg von der materiellen Architektur und stärkt die abstrakten Aspekte der Architektur.
VON DER TRADITIONELLEN ARCHITEKTURPRÄSENTATION ZUR VIRTUELLEN ARCHITEKTUR
Die Wichtigkeit der Architekturrepräsentation wird bei jedem Wettbewerb erneut unterstrichen. Doch bereits mit dem Erscheinen der ersten Architekturzeichnung begann in der Baukunst eine Entwicklung, deren nächster konsequenter Schritt die Anwendung der Technik der Virtuellen Realität (VR) ist. Die Virtuelle Realität basiert auf einem Modell der Wirklichkeit, das in vereinfachter Form im Computer als Datensatz vorhanden ist und mit dem die Betrachter interagieren. Dieses Modell macht Aspekte der Realität zugänglich, die verschiedene Sinne des Menschen ansprechen. Der Übergang von der traditionellen Simulation zur VR ist fließend. Für den Entwurf sind die beiden wichtigsten Charakteristika der VR die Interaktion und die Immersion, also erstens die Fähigkeit, Objekte direkt manipulieren zu können und zweitens das Gefühl zu vermitteln, von einem virtuellen Raum vollkommen umschlossen zu sein.

Die Architektur ist ein natürliches Anwendungsgebiet der VR. Jeder Plan, jede Perspektive versucht bei den Betrachtern eine Illusion zu erzeugen, die mit möglichst einfachen Mitteln eine möglichst vollständige architektonische Aussage macht (Schmitt, 1993). Allerdings verstehen die wenigsten Laien die Sprache der zwei- und dreidimensionalen Abstraktion genügend, um auf dieser Basis neue Projekte fundiert beurteilen zu können. Noch weniger werden dadurch die Zusammenhänge zwischen Form, Funktion, Verhalten und Kosten genügend klargestellt und abschätzbar gemacht. Ein virtuelles Modell mit hohem Realitätsgrad, das all diese Aspekte in integrierter Form berücksichtigt und das die Betrachter in jeder beliebigen Art erkunden können, wird deshalb eine große Hilfe darstellen.
DAS ARCHITECTURAL SPACE LABORATORY – EIN VIRTUELLER ARCHITEKTURBAUPLATZ
Die Herstellung einer VR-Umgebung für die Architektur setzt extrem schnelle Hardware und intelligente Software voraus. An der Architekturabteilung der ETH Zürich besteht eine solche Umgebung in der Form eines Architectural Space Laboratory (ASL), das Szenarien für das Architekturbüro des nächsten Jahrhunderts testet. Die Computer des ASL sind an weltweite Netzwerke angeschlossen, und die permanente Vernetzung mit den Architekturschulen von Harvard und MIT in einem virtuellen Studio ist in Vorbereitung (MIT, 1993).

Neue, von uns entwickelte Software erlaubt es, komplexe Modelle mit intelligenten Objekten aufzubauen und direkt zu manipulieren. Diese intelligenten Objekte können physische Äquivalente besitzen wie Gebäudeelemente oder Möbel, oder sie können funktionalen Charakter haben. Mit den intelligenten Objekten gekoppelte Energie-, Kosten- und sonstige Informationen, die normalerweise nicht sichtbar oder direkt erfahrbar sind, werden im ASL simuliert. Bei den wissenschaftliche Applikationen des ASL haben wir das Ziel, durch Ausweitung der Wahrnehmungsfähigkeiten neue Zusammenhänge zu finden und zu erklären.
Am ASL sind in kontinuierlicher Folge eine Reihe innovativer Arbeiten entstanden, die sich mit den neuen kreativen Möglichkeiten des Computermediums in der Architekturproduktion auseinandersetzen. Darunter besonders zu nennen sind:
  • "Reading Space" – ein interaktives Environment, basierend auf einem nicht ausgeführten Bibliotheksprojekt von Rem Koolhaas (Marc Grootel).

  • "Eileen Gray" – eine digitale Architekturrekonstruktion des Hauses "En bord de mer" der schottischen Architektin Eileen Gray als interaktiv begehbares Modell (Stefan Hecker-Kitsios, Christian F. Müller).

  • "The Swimming Pool Library" – ein Film, der in der Verbindung von Computergraphik und Video die Möglichkeiten des architektonischen "Storytelling" untersucht und im Programm der diesjährigen "Ars Electronica" erscheint (Herman Verkerk).

  • "Sculptor" – der Prototyp eines realtime-basierten virtuellen Modellierwerkzeugs mit Autoanimation, Schwerkraftsimulation und Modelling-Constraints (David Kurmann). Ein mit "Sculptor" erstelltes Video gewann kürzlich den ersten Preis für Animation der Swiss Computer Graphics Art Competition 1994 (David Kurmann, Eric von der Mark, Nathanea Elte).

  • "Impuls" – eine interaktive Installation zur Ausstellung "Künstliche Spiele" in München (Künstlerwerkstätten, September 1993), die aus "Sculptor" entstandene Objektcluster einem künstlichen evolutionären Prozeß unterzog. (David Kurmann, Florian Wenz).

  • "Kraftstrasse 35" – eine Installation, in der eine hochkomplexe Stahllinie in eine Villa am Zürichberg implantiert wurde. Hier konnte zum ersten Mal Erfahrung mit Werkplanung unter Verwendung interaktiver Computergraphik gemacht werden (Christoph Rütimann, Florian Wenz).

  • "Die endlose Linie" – Wettbewerbsbeitrag für eine Kunstinstallation im Neubau der Hauptzentrale des Schweizer Bankvereins in Chur, ausgezeichnet mit dem ersten Preis und derzeit in Realisierung begriffen (Christoph Rütimann, Florian Wenz).
DIE VORPHASE DER PHYSISCHEN PRÄSENZ IN DER PRAXIS
Die Holzlattengerüste, die in der Schweiz bei geplanten Bauvorhaben die Umrisse des neuen Objekts zeigen, sind eine sehr abstrakte Darsteliung des neuen Gebäudes, die keinerlei Aussagen über Material und andere wichtige architektonische Merkmale macht. Bedenkt man, daß diese Gerüste als wichtige Entscheidungsgrundlage dienen, dann wird der Bedarf nach einer realistischeren Simulation sofort klar. Um große Bauvorhaben gibt es regelmäßig Auseinandersetzungen zwischen allen Beteiligten. In der weitgehend bebauten Umwelt der industrialisierten Länder ist jede Neuerung, jedes neue Gebäude ein Eingriff, der viele Anlieger direkt betrifft. Es ist daher absolut notwendig, die Konsequenzen dieser Eingriffe den Betroffenen vorher so klar wie möglich vor Augen zu führen. Dies gilt vor allem für die positiven Aspekte neuer Projekte. Die virtuelle Architektur bietet einen Ausweg aus der unguten Situation, jede Änderung nur als Gefährdung zu betrachten. Architektinnen und Architekten werden die Technik der VR dazu nutzen, ihre Kompetenz bei der aktiven Gestaltung der Umwelt zu beweisen. Die VR sollte dabei helfen, mehr als nur die formal-geometrischen Aspekte der neuen Projekte zu vermitteln.

Andererseits bietet die Virtuelle Realität ihren Gegnern beliebig viele Angriffsflächen. Abgesehen davon, daß es sich hier um eine sehr kapitalintensive Technik handelt, liegt der Verdacht nahe, sie könne zur Blendung potentieller Entscheidungsträger benutzt werden. Der Entzug von "erlebbarer, fühlbarer Wirklichkeit" führe zu einer "einseitigen Beanspruchung der visuellen Wahrnehmungssinne und des Vorstellungsvermögens" und damit zur "Verwischung von Realität und Wiedergabe von Realität" (Degler, 1993, S. 153). Die Befürchtungen des Aachener Wissenschaftsethikers Matthias Gatzemeier sind in der Tat bereits bei vielen Konsumenten der neuen Technologie wahr geworden. Die Gefahr beginnt, wenn Menschen ihre Sichtweise auf die Maschine projizieren und ein dementsprechendes 'Verständnis' von der Maschine verlangen. In vielen Fällen tritt die Simulation bereits an die Stelle der bisher bekannten Realität, wie Joseph Weizenbaum in einem Vortrag beklagte (Weizenbaum 1993). Doch was heute als beängstigende Möglichkeit gilt, ist oft bereits morgen verarbeitete Normalität, wie die Einführung von CAD in den Architekturbüros zeigt.
EINE VIRTUELLE ARCHITEKTUR?
Es stellt sich natürlich die Frage, ob wirkliche Architektur überhaupt noch notwendig ist, wenn eine virtuelle Architektur Dinge erlaubt, die physisch schwer ausführbar sind. Ist es nicht vorstellbar, daß Bewohner eines Hauses sich jede erwünschte Wohn- oder Erlebnissituation über eine VR-Umgebung abrufen und erzeugen werden? Besonders in Zeiten, da die Abstraktheit des Lebens-, Wohn- und Arbeitsraumes in der nachindustriellen Gesellschaft ein Höchstmaß erreicht hat, ist es durchaus denkbar, daß modernste Technik zum Rückzug in ein virtuelles Biedermeier, Rokoko oder in die Römerzeit benutzt wird.

Andererseits wird die größere Freiheit im Modellieren und in der integrierten Evaluation zu neuen Entdeckungen und architektonischen Erfindungen führen. Diese Entwicklung wäre den bereits heute verbreiteten Anwendungen der VR, die zum Teil destruktiver Natur sind, auf jeden Fall vorzuziehen. Unsere Erfahrungen haben gezeigt, daß VR in der Architektur eine beträchtliche Faszination ausübt. In der Tat verwischt sich so der Unterschied zwischen Geplantem, Gebautem, und Zerstörtem oder Zerfallenem immer mehr. Doch anstelle, wie zu erwarten, den Wert des physisch Existierenden zu mindern, wird VR den Wert der wirklich gebauten Architektur als eine der wenigen Konstanten über die Zeit verstärken.

Bibliographie:
DEGLER, HANS-DIETER (1993). Wissenszwerge unter Druck – Die Krise auf dem Weg ins Informationszeitalter, Der Spiegel, Nr. 14, 1993, S. 150–158
FLEMMING, ULRICH (1987). More than the Sum of Parts: The Grammar of Queen Anne Houses, in: Environment and Planning B, 14 1987, S.323–350
GERO, JOHN (1990). Design Prototypes: A Knowledge Representation Schema for Design, in: AI Magazine, Vol. 11, Nr. 4 1990, S. 26–36
KONING, H. UND J. EIZENBERG (1981). The Language of the Prairie: Frank Lloyd Wright's Prairie Houses, in: Environment and Planning B, 8:295–323, 1981
MIT (1993). The Design Studio of the Future. Informationsbroschüre, School of Architecture, MIT
SCHMITT, GERHARD (1988). Microcomputer Aided Architectural Design, John Wiley & Sons, New York
SCHMITT, GERHARD (1993). Architectura et Machina, Vieweg Verlag, Wiesbaden
WEIZENBAUM, JOSEPH (1993). Just a Tool, in: Vortrag am 10. Internationalen ACS Kongreß, Wiesbaden, 25. November 1993