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Ars Electronica 1994
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Video und Architektur jenseits des Bildschirms


'Kathy Rae Huffman Kathy Rae Huffman

EINLEITUNG
Ständig entstehen neue Formen elektronischer Architektur über das am Bildschirm Sichtbare hinaus; sie definieren den intelligenten Raum, sind Meditationen für die Medienkünstler von heute. Elektronische Architektur ist Kommunikation; sie besteht hauptsächlich aus Radio-, Telefon- und Fernsehtechnologien und deren manifesten Formen: Kunst für elektronische Netzwerke, Multimedia-Kunst, interaktive Kunst. Die elektronische Transparenz dieser zeitgenössischen Formen braucht Video- und Computertechnologien. Die physischen Dimensionen dieser Transparenz, die, wie Virilio anmerkt, "schon lange die Erscheinungen ersetzt hat" (1) , haben eine ganz neue Größenordnung, wenn es um die Darstellung einander überschneidender physischer und elektronischer Realitäten geht.

Von großer Bedeutung für die Betrachtung elektronischer Architektur ist der kritische und theoretische Diskurs, der Video, "Informatik" (2) und die Geographie des Raumes miteinander verbindet. Die Anliegen, die sich in drei Jahrzehnten praktischer Erfahrung, Forschung und Beobachtung von Videokünstlern konkretisiert haben, sind ais direkte Folge der Erforschung des veränderten, elektronischen Bildes zu werten. Medieninformationsnetzwerke bestätigen ein völlig neues Phänomen: das im elektronischen Raum vorhandene Raster. Eine neue Auffassung dieses Volumens im Medienraum war notwendig, weil es scheinbar unmöglich war, in einem elektronischen Rahmen Tiefe darzustellen. Aber Ideen werden, wie Deleuze feststellt, oft von einem Medium in ein anderes übertragen, weil "jemand, der nicht in einem Haufen von Unmöglichkeiten zu ersticken droht, nicht schöpferisch ist. Schöpferisch ist jemand, der seine eigenen Unmöglichkeiten schafft und dadurch Möglichkeiten." (3)

Video- und Multimedia-Kunst integriert demnach nicht nur das Sehen, sondern deckt auch den Akt des Sehens und Wahrnehmens auf. Sie ist eine On-line-Übung in der simultanen Übertragung von ldeen und eine Metapher für die Kommunikationsenergie und -impulse, von denen die Erdatmosphäre, der Weltraum und das Universum voll sind. In unserem realweltlichen Environment drängen hochfrequente Netzwerke in den Rhythmus des menschlichen Körpers, mit greifbaren und nicht-greifbaren körperlichen Auswirkungen. Dieses ansonsten unsichtbare Phänomen ist die Medieninformation und wird mittels digitaler und analoger Prozesse auf Video festgehalten. Die Video-Ausstellung lntelligente Ambiente / lntelligent Environments" will ein neues Verständnis für die künstlerische Interpretation der Geheimnisse der Kommunikation, der Medien und eines neuen epistemologischen Raumes schaffen: eines realen Raumes, der Video- und Computertechnologie mit theoretischen und praktischen Fragen der Architektur verbindet. (4)
ARCHITEKTUR UND KOMMUNIKATION
Das Eindringen der Medien in den urbanen Raum von heute ist unübersehbar. Die nächste Generation der Kommunikationstechnologie wird eine noch höher entwickelte, abstraktere Fähigkeit fordern, sprachliche Kurzformen aufzunehmen und zu verstehen, u.a. etwa, körperlich vollkommen in die Werbeelektronik einzutauchen. Erweiterte Artikulationsmöglichkeiten architektonischer Räume sind für Multimedia- und Videokünstler ein vorrangiges Anliegen geworden. Das Genre "Architektur im Film", das man früher nur in der filmischen Sprache kannte (und visuell umsetzte), geht bis in die Anfänge des Experimentalfilms zurück und ist traditionellerweise interpretativ.

Die ersten Filme, die von Architekten und Designern (manchmal gemeinsam mit Filmemachern) gemacht wurden, analysieren in erster Linie architektonische Formen. Diese Filme sind wertvolle Dokumente einer Architektur, die durch die Zeit, durch Krieg und Renovierung verlorenzugehen droht. Gefilmt wurden, als konzeptionelle Statements und Beobachtungen, u.a. Städte, Wohnprojekte, Autobahnknoten, Landschaften und Arbeitsplätze. Die Architektur wurde stark vom Film beeinflußt, und das Verhältnis zwischen Architektur und Film ist modellhaft für die heutige Medienkunst. Tatsächlich konnte man eine Interaktion zwischen Film und Architektur feststellen: "Die Architektur stellt nicht bloß Prospekte zur Ansicht, sie erzeugt vielmehr Energieräume, in die das Filmische hineinwirkt, um hierorts seine eigene Topologie zu gewinnen. Das Kino wird derart anwachsen, daß das Architekturale selbst sich mit filmischen Kräften aufzuladen beginnt". (5)
ELEKTRONISCHE ERINNERUNGEN
Mit dem Heimvideo-Boom der 80er Jahre haben auch ganz normale Menschen entdeckt, wie sich Raum anders sehen und erfahren läßt. Mit Videokameras kann man eine ganz neue Art von Erinnerungen anlegen – und diese Erinnerungen werden auch anders erlebt als früher, weil man Aufnahmen, die man gemacht hat, sofort abspielen kann. Menschen beobachten damit auch vertraute Räume und Momente in elektronischer Form – mit allen darin enthaltenen neuen Bedeutungen und Möglichkeiten, "das Selbst" und "andere" zu verstehen. Das Video, das diese Erinnerungen aufzeichnet, reflektiert sie als Augenblicke in einem sich ständig bewegenden und vollkommen integrierten Bild, das von einer elektronischen Lichtquelle geschaffen wird, die die vertrauten Bilder übereinander und nebeneinander legt, neu kombiniert, unnatürlich im physischen Leben, aber vertraut in der Illusion des Videos.

Die relativ neuen interaktiven Digital-TV-Environments und elektronischen Netzwerke ermöglichen einen direkten Zugang zu Kommunikation und den Massenkonsum von Informationsvolumen durch jeden und für jeden. Das ist die Kunst, überall zu sein, während man eigentlich nirgends ist. Zeuge und Transmutation der Darstellung; "die Entstehung von Formen als Volumen, die so lange existieren, wie ihre Materialien es zulassen, wird von Bildern abgelöst, deren Dauer rein retinal ist. (6)
VIDEO, INSTALLATION UND PSYCHOLOGISCHER RAUM
Das Videoband brachte einen Durchbruch im Verständnis der Beziehung, die zwischen der Herstellung von Bildern und der Wahrnehmung, die der Mensch von sich selbst hat, besteht. in den frühen 70er Jahren, als die erste Generation von "Videopionieren" (7) begann, in größerem Umfang mit Videos zu arbeiten, suchten die Künstler nach neuen Wegen, ihren persönlichen Raum zu beobachten und zu analysieren. Gleichzeitig bedeutete es auch, daß sie sich nicht mehr mit dem Einfrieren von Augenblicken zufrieden geben wollten, wo der zeitliche Raum eine gemalte Atmosphäre oder eine auf einer Photographie "eingefangene" Stimmung war. Sie verwendeten das Video wie Überwachungsgeräte, zur Beobachtung und Überwachung der Wirklichkeit. Ein Großteil dieses Videomaterials wurde nicht geschnitten und auch nicht gezeigt, doch war es eine wertvolle Übung für Künstler, um Raum, Erinnerung und die Fähigkeit des Videos, Erleben zu dokumentieren, besser zu verstehen.

Schon in der Anfangszeit der Videokunst schufen viele Künstler komplizierte "Settings", bei denen das Environment wesentlich zum Raumerlebnis beitrug. Der Gedanke, neues elektronisches Territorium zu schaffen und den Zuschauer einzubinden, ist der Vorläufer der interaktiven Multimedia-Installationskunst von heute. Frühe Installationskünstler (8) arbeiteten intensiv mit dem Konzept sowohl des psychologischen als auch des physiologischen Territoriums und führten überzeugend vor, wie das Video Raum, Zeit und Energie zu definieren vermochte.
LIVE-TV-EXPERIMENTE –
DAS SEIN IM ELEKTRONISCHEN RAUM
Das Fernsehen hat die Grenzen des Wohnraumes erweitert und seine Bewohner sensibilisiert. Wie das Radio und das Telefon ist es mit seiner Direkt-indirekt-Charakteristik im privaten/öffentlichen Raum allgegenwärtig. Während man es früher als "Fenster zur Welt" bezeichnete, wird es heute stärker und eindeutiger in seinem politischen und wirtschaftlichen Kontext und als Mechanismus zur Beeinflussung der Öffentlichkeit verstanden. Information, kulturelle Standardisierung, Trendsetting: das ist das große Geschäft, ganz zu schweigen von der endlosen Erforschung seiner Auswirkungen auf die Kultur.

Künstler haben den Fernsehraum in "interaktiven" experimentellen Live-Events untersucht, die auf einen realen Raum anspielten, in Wirklichkeit aber einen alternativen Fernsehraum zwischen Orten schufen. Erste TV- und Satelliten-Live-Performances, die zwei (oder mehrere) Orte/ Räume verbinden sollten, gab es schon in den späten 60er Jahren. Bei den "interaktiven" Live-Events, die nach dem Konzept von EVENTS und SPECTACLES angelegt waren, handelte es sich allerdings meist um Closed-circuit-TV, oder sie erreichten nur eine begrenzte Zahl von Haushalten. Die frühen Fernseh-Experimente waren nur möglich, weil man sie nicht für sehr wichtig hielt, weil die Sender Kunst für neutral ansahen und Künstler, ähnlich wie Wissenschaftler, eine besondere Stellung hatten. (9)

"In der Telekommunikation bedeutet zeitliche Annäherung Entfernung im Raum." (10) Viele der frühen Fernseh-Projekte bezeichneten sich selbst als "interaktiv", waren in Wirklichkeit aber Performances von Künstlern, die die Verbindungen zwischen Räumen demonstrieren wollten, mit theoretischen Subtexten über die Massenkommunikation und die Kontrolle des Informationsflusses durch die Sender. Selbst heute, im Kontext unserer fortschrittlichen Computertechnologie, haben einige der frühen Fernseharbeiten ihre zukunftsweisende Kraft nicht eingebüßt, für die Anerkennung von Kunst und Technologie durch die Kommunikationsindustrie waren sie von integraler Bedeutung. Durch die Archivierung und Bewertung der über Radio, Fernsehen, Telefon und verschiedene Kommunikationsnetze realisierten Arbeiten erhalten wir den Schlüssel zu einer Geschichte des kulturellen und individuellen "Sehens" elektronischer Bilder und Klänge.
DIE KRISE DER PHYSISCHEN DIMENSION IN DER MEDIATISIERTEN WELT
Grenzen lösen sich auf, das Konzept der Darstellung verändert sich. "Grenzen oder begrenzende Flächen" sind zu osmotischen Membranen, zu Löschblättern geworden. Auch wenn diese Definition radikaler zu sein scheint als vorhergehende, signalisiert sie doch eine Veränderung des Begriffs der Begrenzung. (11) Diese Ideen sind für Architekten und Kommunikationsexperten, die – zusammen mit den Designern neuer Formate für Informationssysteme – in den 90er Jahren grundsätzlich als Medienkünstler anerkannt werden sollten, eine interessante Herausforderung. Ihre praktischen und theoretischen Interessen haben sich – wie auch die Informationstechnologie – in Richtung Multimedia, virtueller Realtiät und cyberconnected networks verschoben. Neuland, das es zu erforschen und zu verstehen gilt. Das wachsende Interesse der Öffentlichkeit an elektronischen Datenräumen, interaktivem Fernsehen und virtuellem Erleben ist in erster Linie auf die Nachrichtenmedien zurückzuführen und deren Aufregung anläßlich der großen finanziellen Investitionen, die von Computerunternehmen und der Unterhaltungs-, Fernseh- und Telefonindustrie getätigt werden.

Die Möglichkeiten für eine Multimedia-Erforschung von Fernseh- und lnformationsnetzwerken, von spezifischen, von der Elektronik geschaffenen architektonischen Formen und Realitäten sind vorhanden. Einige neuere Beispiele aus dem Fernsehbereich: "Piazza Virtuale", das interaktive Computer-Environment für Live-TV des Ponton European Media Art Lab (über 100 Tage durchgehend von der documenta IX gesendet), mit Picturephone, digitalen Übertragungssystemen (ISDN), mit über die Telefontastatur steuerbaren Spielen und Aktivitäten sowie Chat-Programmen unter Verwendung von Modem, Fax, Telefon und Live-Entrypoints; der mythische TV-Raum "My Neighborhood", ein interaktives Community-TV-Programm, das an der New York University entwickelt wurde und in dem von den Zuschauern mit Hilfe ihrer Telefontastatur eine kleine Welt erforscht werden kann; und das "Electronic Cafe", ein realer Ort, an dem verschiedene Teilnehmer irgendwo auf der Welt zu Gesprächen, Dichterlesungen und Kommunikationskunst in Verbindung gesetzt werden. Bei diesen Beispielen wird deutlich, daß der Ort immer noch ein notwendiger Raum ist!

"Auch die Architektur kann nicht länger an die statischen Bedingungen von Raum und Ort, von 'hier' und 'dort', gebunden bleiben. In einer mediatisierten Welt gibt es keine Orte im alten Sinne mehr. Die Architektur muß sich heute mit dem Problem des Ereignisses auseinandersetzen. Heute können wir Rockkonzerte als neue Art von Environment aus Licht, Klang und Bewegung auffassen; sie bilden eine Ereignisstruktur, in der die Architektur nicht mehr einfach von den Medien konfrontiert, sondern von ihnen verschlungen wird." (12)

Wenn die neue Architektur ein Rockkonzert ist, wie Eisenman meint, dann ist der ultimative Wolkenkratzer der jüngsten Vergangenheit das "ZOO-TV" von U2, eine mobile Live-Satelliten-Show, bei der reguläre TV-Programme in die Show integriert sind und Fernsehzuschauer via Satellitenschüssel und Telefon mit dem Konzert verbunden sind. Als Finale wird nach jedem Konzert ein Telefonanruf ins Weiße Haus getätigt, um den Präsidenten zum Frieden aufzufordern, vor dem Hintergrund der tobenden Zuschauermenge.
DATENRAUM AUSTESTEN – OHNE ENDE
Das neue elektronische Territorium ist eine unsichtbare Architektur, die ohne Urheberrechtsschutz vor neuen Herausforderungen steht. Es handelt sich dabei nicht um ein fiktives virtuelles Ambiente. Künstler haben in theoretischer und künstlerischer Hinsicht bedeutende Erkenntnisse gewonnen über das Bild und sein Verhältnis zu diesem geschaffenen Raum. Sie beginnen, das riesige, weltweite"Netz" unbegrenzter Information als einen potentiellen neuen, gemeinsamen Kunst-Ort zu verstehen. Elektronische Netzwerke erfordern eine ganz neue Verwendung von Sprache, Raum und Zeit. Und wenn wir Wittgenstein Glauben schenken wollen, daß die Sprache, die ja im Grunde auch eine Technologie ist, nicht nur ein Mittel sei, um Gedanken auszudrücken, sondern auch die Triebkraft der Gedanken, dann sollten wir neue Informationstechnologien lieber ernst nehmen. Wir müssen wissen und beurteilen können, wie sie unsere Kultur beeinflussen unser Leben, den Raum und vor allem die Kunst.

(1)
Virilio, Paul: The Overexposed City. In: The Lost Dimension. Translated by Daniel Moshenberg. Semiotext(e) 1991, S. 25zurück

(2)
Informatik: Netzwerke, Memory-Banken und Terminalszurück

(3)
Deleuze, Gilles: Mediators. In: Jonathan Crary u. Sanford Kwinter (Hg.): Incorporations. 1992, S. 292.(Ursprünglich in: L'Autre Journal 8, Oktober 1985)zurück

(4)
Vasulka, Woody: The New Epistemic Space. In: Doug Hall u. Sally Jo Fifer (Hg.): Illuminating Video. 1989, S. 465–470zurück

(5)
Ries, Marc: Architecture and the Cinema/Architektur und Kino. In: film+arc 1, 1993, S. 13zurück

(6)
Virilio: a.a.0.zurück

(7)
Frühe Videoexperimente stammen von Peter Campus, Nam June Paik, Terry Fox, Vito Acconci, Bill Viola, Joan Jonas und Bill Wegman.zurück

(8)
Bedeutende frühe Installationen, die Videotechnologie verwendeten, stammen von Bruce Nauman, Dan Graham, Gary Hill, den Vasulkas und Nam June Paik.zurück

(9)
Frühe TV-Experimente stammen von Douglas Davis, Allan Kaprow, Nam June Polk, Kit Galloway & Sherrie Rabinowitz. Jaime Davidovich, Richard Kriesche, Rob Adrian, David Hall und Roy Ascott.zurück

(10)
Virilio: a.a.0., S. 74zurück

(11)
ebda., S. 17zurück

(12)
Eisenman, Peter: Die Entfaltung des Ereignisses. In: ARCH+ 119/120, Dezember 1993, S. 50zurück