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Ars Electronica 1994
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Interstitiell


'Carole Ann Klonarides Carole Ann Klonarides

Phantome balancieren auf den unsichtbaren Grenzen der Teiekommunikationsmatrix. Stimmen blenden sich ein und wieder aus, entweichen aus batteriebetriebenen Mobiltelefon-Gesprächen, nur um in die neuen Party-Leitungen eingespeist zu werden – eine Art improvisierter Techno-Séance. Nicht-funktionale "interstitielle" Räume dekonstruktivistischer Gebäude als "vector holding-pens" für die verlorenen Seelen der in der Vergangenheit beanspruchten Territorien – buchstäbliche Sackgassen. Die Verlockung der Kamera ist wichtiger als das Wohnen – zu Dokumentationszwecken gebaute Gebäude werden hyperreal; Architektur, die sich selbst schafft. Licht und Form zwischen totem Raum und Bewegung gefangen; gelegentlich definiert durch das Unerwartete … ein Bild oder eine angedeutete Erzählung.

Ich werfe mein Netz aus: eine Video-8-Kamera als psychographisches Instrument im Wexner Center for the Arts der Ohio State University, entworfen von dem Architekten Peter Eisenman. Durch diese mediatisierte Erfahrung, in jeden dunklen Winkel und Spalt einzudringen, Rampen hinaufzugehen, in Sackgassen zu stehen und seine Materialien, Metall, Holz, Glas und Stein, die in rechten Winkeln kreuz und quer laufen, einzufangen, entdeckte ich Eisenmans Theorie des Dazwischenliegens.
LED-Leuchtschriften schwanken zwischen ihrer Funktion als Marktschreier und Wahrsager. Digitale Daten laufen auf beschleunigter Bandbreite ab und bilden ein Interface zwischen Bewußtem und Unbewußtem; nicht unbedingt, um gelesen zu werden, sondern als visuelles Kontinuum. Wer ist der Autor dieser Nachrichten? Ist das wichtig? Simulierte Musik ist allgegenwärtig, wird in Aufzüge, Foyers, Toiletten und Arbeitsräume gepumpt. Hat diese Anhäufung visueller und auditiver Medien Interferenzfunktion oder ist sie der Versuch des Architekten, Architektur als einen Hypertext zu schaffen?

Spiegeln und Glasfenstern wird bald dasselbe Schicksal zuteil werden wie der Schreibmaschine, nachdem schwenkbare Flüssigkristall-Bildschirme HDTV-Phantasien von Landschaften und Vergnügungen ausstrahlen sollen; theoretisch aus Gründen der Synästhesie, wahrscheinlich aber aus kommerziellen Überlegungen. Wie steht es mit unserer Reflexion, wenn alle reflektierenden Flächen ersetzt worden sind? Der Fluch der Vampire unser Bild wird nicht mehr reflektiert, sondern von einer Kamera digital erfaßt und im Tagesprotokoll des Gebäudelebens gespeichert.
In dem Gebäude gab es das modernste Überwachungssystem, das ich je gesehen hatte. Nachdem das Wexner Center keine eigene Kunstsammlung besitzt, erkundigte ich mich, weshalb so ein kompliziertes System installiert wurde. Wie man mir sagte, wurde damit das Gebäude überwacht, das zu dieser Zeit leer stand.
Sichtbarkeit wird eine Falle – existieren heißt, gescannt zu werden – es ist besser, ein undeutlicher Fleck zwischen den Scannerlinien zu sein, als gar nicht gescannt zu werden. Wir sind Phantome – unser Schatten markiert unseren Weg. Die Gesichter berühmter Leute oder ethnischer Typen werden zum Spaß digital zu einem gemeinschaftlichen Wesen übereinandergelegt, das für kurze Augenblicke auf der großen Bildwand erscheint. Dieses gemeinschaftliche Wesen ist der Traumbewohner der neuen Architektur. Existieren die Gebäude für uns? Wir befinden uns in diesen Gebäuden, aber sie bewegen sich für uns wie die Bilder in einem Kino. Sie sind hybride Mechanismen, bei denen der Techniker Regie führt, der Architekt Produzent ist und der Bewohner den Schnitt erledigt.
Meine Erfahrung des Gebäudes war durchsetzt von filmischen Verweisen – "Letztes Jahr in Marienbad", "Shining ", "The Haunting" (dt. "Bis das Blut gefriert "), die Filme von Peter Greenaway und Chris Marker, um nur einige zu nennen. Video konnte meiner Meinung noch in diesem Kontext nur als holographische Erfahrung eingesetzt werden – Personen, die in den leeren Räumen und Keilen auftauchten und wieder verschwanden. Um besser zu verstehen, wer diese Personen sein könnten, wollte ich lesen, was Eisenman geschrieben hatte. Ich bot ihn um eine Auswahl seiner Schriften (siehe Anmerkungen), und darin fand ich die Hinweise, die ich suchte.
Aber es können jederzeit auch zufällige, nicht zu erklärende Phänomene auftauchen. Ein unbekanntes Bild aus einer fremden Quelle kann plötzlich durch den Raum schießen, zufällig von einer Satellitenschüssel aufgefangen und eine kurze Sekunde lang in die simulierte Realität des Flüssigkristall-Bildschirms eingebettet werden. Ein solches Ereignis wird dann als "Heimsuchung" verkündet – und die, die das Glück haben, diesen Moment zu erleben, werden die "Auserwählten" sein.

Das Kino ist nicht die einzige Metapher für die Architektur; diese Metapher wird sich als konzeptioneller Diskurs erschöpfen. Die virtuelle Realität? Wohl kaum. Gebaute Architektur ist immer noch von der Dimensionalität und Unterteilung von Objekten besessen, und das Paradigma wird weiterbestehen. Es gibt allerdings eine Architektur, die nicht ortgebunden, aber doch "real" ist, zwischen dem, was kognitiv ist, und dem, was filmisch gedacht ist. Die neue Metapher ist der Computer. Theoretisch ist die Architektur zunehmend nicht-linear geworden; ein Analogon, das den Gedanken des Schauspiels wieder aufgreift. Computer strukturieren unser geistiges Environment neu – reizen uns durch ihr enormes Potential, während sie zur gleichen Zeit die Möglichkeit unbekannter Gefahren offenbaren. Ist das das Ziel jeder bedeutenden Architektur? Oder liegt das Ziel darin, den Zusammenhang aller "Dinge" aufzudecken und dafür zu sorgen, daß sie interagieren, harmonieren, nahtlos verschmelzen? Computer sind dazu da, das zu tun, und entwickeln sich je nachdem, wie sich die Information, die sie bekommen, entwickelt.
Ich sprach über diese Dinge mit meinem Video-Mitarbeiter Michael Owen, und er fügte noch eine weitere Interpretationsebene hinzu. Als mir klar wurde, daß man eine Geschichte schreiben müßte, am besten etwas Schauerromanartiges, begann ich, Geschichten zu lesen, als wären sie Architektur.
Wir sind im täglichen Leben bereits in eine neue Klanglandschaft eingetaucht: summende Computer, knarrende Faxgeräte, der Mechanismus einer Überwachungskamera, digitale Tastenblöcke für Einlaßcodes, hochfrequente Türsummer – Mantras für jene, die in der unsichtbaren Architektur leben. Eine kybernetische Infrastruktur verbindet alle diese Technologien über ein Interface. Wir sehen die Triebkraft dieses Systems nicht, wenn wir uns aber hinsetzen und damit befassen, betreten wir eine gefühllose Welt des rein Konzeptionellen. Wir werden zu den Programmierern und Architekten. Eine Schwelle kybernetischen Feedbacks nach der anderen – so fest verbunden, daß es eigentlich keinen "Raum" mehr gibt. Das ist der Cyberspace, in dem das Dazwischensein möglicherweise irrelevant geworden ist. Hier werden wir gezwungen, in unserer Phantasie umherzunavigieren: der Cyberspace verlangt Partizipation.
Man empfahl uns, die Autorin Suson Daitch zu kontaktieren, die in ihrem Roman "The Colorist" die "symbiotische Beziehung zwischen Künstler und Kunst" untersucht. Wir sprachen mit ihr darüber, wie wir zusammen an einer Geschichte arbeiten könnten, die sich dann für das Medium Video adaptieren ließe. Wir schickten ihr das Video-8-Material, die filmischen Anspielungen und die Schriften Eisenmans, die in Hinblick auf dieses Projekt am interessantesten waren. Drei Tage später schickte sie uns die Geschichte mit dem Titel "Analogue"; außer dem Material, das sie von uns bekommen hatte, verwendete sie für die Geschichte "Die Postkarte des Sokrates" von Jacques Derrida, "The Turn of the Screw" von Henry James und ein Buch über Edgar Allan Poe von Harold Bloom. Das Gebäude kannte sie nur von Bildern, die vor allem das Äußere des Gebäudes zeigten oder das Raster, das sich von außen nach innen fortsetzt. Ich hob diese Teile des Gebäudes mit Absicht nicht besonders hervor, sondern nahm die noch nicht photographierten Räume auf Video auf.
Alles Reale ist veränderlich, und jede Erfahrung wird gespeichert, jeder Entwicklungsschritt ist ein digitales Bit. Jedes Bit hat in diesem Mutationsprozeß seinen besonderen Wert; jedes Bit hat seine eigene "Aura". Es gibt Algorithmen, die die Funktionsweise des Lebens simulieren, und zwar mit Hilfe komplexer interaktiver Systeme, die programmiert wurden, damit der Computer die ursprünglich entworfene Kernarchitektur fortsetzen konnte. Mit den immer besseren Softwareprogrammen verringert sich die Gefahr, daß der Computer abstürzt, die Kernarchitektur bleibt stabil und es entstehen repräsentative Räume. Damit werden die immanenten Dimensionen der Matrix zur Schaffung eines neuen Koordinatensystems und eines neuen Raums erschlossen.

Gibt es Hacker, die die einzigartigen Fähigkeiten dieser neuen, unsichtbaren Architektur ausnutzen? Künstler legen Geister-Fallen aus, werfen innerhalb der multimodalen Interface-Technologien ihre Netze aus, um Klänge, Text und Bilder so einzufangen, daß die ontologischen Aspekte unserer Existenz in Frage gestellt werden. Es gibt Bilder, deren Autor nicht identifizierbar ist, und indem sie ein Künstler neu artikuliert, werden sie zu seinen Bildern – zumindest für den Moment. Denn der Computer speichert alles, und der nächste Hacker kann ein Bild "finden", es identifizieren und verändern. Jeder Schritt in diesem Entwicklungsprozeß wird gespeichert; im Gegensatz zu einem Restaurator, der von einem Gemälde eine Schicht nach der anderen abträgt und darin viele andere Gemälde entdeckt, aber nur, um jede dieser Schichten zu zerstören. Willkürliche Eingriffe in den Computer während der Bildherstellung sind leicht zu machen und schwer festzustellen. Den Ursprung eines Bildes innerhalb der Computermatrix zu untersuchen bedeutet in jedem Fall den Verlust der Autorenschaft im herkömmlichen Sinn. Im Gegensatz zur Aneignung, wo man etwas nimmt und es sich zu eigen macht, wird durch die Mutierungsfähigkeiten des Computers der Akt der Aneignung eines Bildes neu definiert – vor allem deshalb, weil das Bild nicht wirklich eine eigene Identität besitzt und auf etwas anderes verweist als auf sich selbst; es befindet sich immer in einem Prozeß. Man sieht das Bild auf dem Computermonitor, der im Unterschied zu Videomonitoren weniger indirekt ist; das Bild ist nicht stabil, weil es ständig erneuert wird. Wer im Computer Bilder herstellt, arbeitet immer mit einem Softwareprogrammierer zusammen und allen anderen, die Daten in den Computer eingeben.
Die Adaptation der Geschichte für das Medium Video war ein vielschichtiger Prozeß – es galt, die im Gebäude angelegten Ideen, Daitchs Geschichte und meine Erinnerungen an meinen Gang mit der Kamera durch das Gebäude zu synthetisieren. Als ich die Rampe hinaufging und die auf die Decke gerichtete Kamera herumschwenkte, ging dort oben eine verschwommene Figur über eine Brücke, die zwei Gebäudeteile verbindet. Für den Bruchteil einer Sekunde war mir ganz schwindlig, obwohl ich auf dem Boden stand. In meiner Benommenheit begann ich, den Schwindel mit der Kamera nachzuvollziehen, bis ich schließlich auf einer Linie am Boden einhielt. Diese Linie verfolgte ich dann bis an ein dunkles, keilförmiges Ende. Als ich durch das "Rauschen" blickte, tauchte langsam ein Bild auf.
Literatur:
BLOOM, HAROLD: Edgar Allan Poe. New York 1985
DERRIDA, JACQUES: Die Postkarte des Sokrates. BerIin 1982
DERRIDA, JACQUES: Why Peter Eisenman Writes Such Good Books. Translated by Sarah Whiting. reprinted with permission from Psyche (Paris: Galilee, 1987) in: Marco Diani u. Catherine Ingraham (Hg.): Restructuring Architectural Theory. Evanston, 111. 1989, S. 99 – 105
DERRIDA, JACQUES: A Letter to Peter Eisenman. In: Assemblage 12, August 1990, S. 7 – 13
EISENMAN, PETER: Die Entfaltung des Ereignisses. In: ARCH+ 119/120, Dezember 1993, S. 50 – 53
EISENMAN. PETER: Architecture as a Second Language: The Texts of Between. In: Threshold 4, Frühjahr 1988
EISENMAN, PETER: In Terror Firma: In Trails of Grotextes. In: Form, Being, Absence/Architecture and Philosophy. Pratt Journal of Architecture. New York 1988, S. 111 – 121
EISENMAN, PETER: Yale Seminars in Architecture. Bd. 2. New Haven 1982
HEIM, MICHAEL: The Metaphysics of Virtual Reality. New York/Oxford 1993
JAMES, HENRY: The Turn of the Screw, The Lesson of the Master. New York 1930
LUNENFELD, PETER: Hardscapes, Imagescapes & The Paradox of UnfoIding: Architecture in the Age of Electronic Ubiquity. Vortrag gehalten bei Cine City: Film and the Perception of Urban Space. Getty Center, Santa Monica, Kalifornien, 30, März 1994
MITCHELL, WILLIAM J. The Reconfigured Eye: Visual Truth in the PostPhotographic Era. Cambridge, Mass. 1992
POE, EDGAR ALLAN: William Wilson. Selected Tales. Oxford 1980