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Ars Electronica 1994
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Die Zukunft der Demokratie und die vier Grundprinzipien der Computerkommunikation


'Howard Rheingold Howard Rheingold

Es vollzieht sich in jüngster Zeit ein kolossaler Machtwechsel, bei dem es – ungeachtet der obskuren Terminologie, mit der darüber gesprochen wird – in erster Linie um Menschen und ihre Fähigkeit geht, miteinander auf neuartige Weise zu kommunizieren, und nicht um Glasfaserkabel und Multimedia-Geräte. Bei der Revolution, die durch die Erfindung der Druckerpresse ausgelöst wurde, ging es um die Fähigkeit der Menschen, lesen und schreiben zu können, und darum, wozu gebildetere Bevölkerungsteile in der Lage waren (z.B. sich selbst zu regieren), und nicht um die Technik der beweglichen Lettern an sich. Die neue Technik ermöglichte zwar den Machtwechsel, vollzogen wurde er jedoch von den Menschen, die sich des neuen Werkzeuges bedienten, um sich zu bilden.

Man spricht heute sehr viel über "Informations-Superhighways". Ich verstehe, weshalb man diese Metapher verwendet, doch interessiert mich das nicht. Highways langweilen mich. Menschliche Gemeinschaften sind etwas viel Aufregenderes. Und ich bin davon überzeugt, daß eben dieser Aspekt der Gemeinschaft – die zwischenmenschliche Kommunikation, nicht der Zugang zu Unterhaltung und Information – die neuen Computer-Kommunikationsmedien für die Menschen so attraktiv macht.

Auf meinen Reisen in Nordamerika, Europa und Japan ist mir immer wieder aufgefallen, wie dieselbe Grassroots-Bewegung, die man heute als virtuelle Gemeinschaft bezeichnet, überall dort aus dem Boden schießt, wo Menschen Zugang zu einem öffentlichen Telekommunikationsnetz und erschwinglichen Desktop-Computern haben. Ich sehe "computer conferencing" als eine potentielle Kraft, damit sich in unserer fragmentierten Gesellschaft wieder so etwas wie ein Gemeinschaftsgefühl entwickeln kann. Die Fähigkeit und die Freiheit der Menschen, ohne jede Beschränkung miteinander kommunizieren zu können, ist meiner Ansicht nach für die Demokratie von genauso grundlegender Bedeutung wie für die Gemeinschaft. Wir müssen die Welt auf eine neue Art und Weise verstehen, und das muß schnell geschehen, wenn wir angesichts immer mächtiger werdender Staaten unsere Freiheit nicht gefährden wollen. Die Kunst kann uns helfen, die Welt mit neuen Augen zu sehen, und eine neue Wahrnehmung der Welt ist ein notwendiger Schritt hin zu einem neuen Verständnis der Welt.

Die Macht von virtuellen Gemeinschaften und Computernetzwerken basiert auf vier Besonderheiten der Computerkommunikation:

Erstens, sie ist ein "many-to-many medium" (Viele-an-viele-Medium).

Zweitens läßt sie die Menschen auf neue Art und Weise miteinander in Verbindung treten.

Drittens wird sich die Macht der Technologie, die diese Gemeinschaften stützt, auch in absehbarer Zeit weiterhin noch potenzieren, indem alle Medien zu digitalen Formen konvergieren.

Viertens und letztens kann der Cyberspace eine Plattform für Innovation werden, so daß Unternehmer neue Anwendungen für das neue Medium entwickeln können. Neue Anwendungen, neue Kulturen, neue Industriezweige, neue Märkte, neuer Wohlstand, neue Macht für größere Gruppen von Menschen können auf einer Plattform entstehen, die für Innovation offen ist.
Ein Many-to-many-Medium ist ein Medium, durch das große Gruppen von Menschen mit anderen großen Gruppen von Menschen effektiv kommunizieren können. Ein "One-to-many-medium" (Eins-an-viele-Medium) wäre dagegen etwa eine Zeitung oder eine Fernsehstation, wo eine kleine Gruppe von Menschen mit Hilfe teurer Technologie Information an eine große Gruppe von Menschen sendet. Die Reporter, Redakteure, Produzenten und Eigentümer dieser Medien fungieren als Gatekeeper, oder Torwächter, die bestimmen, welche Informationen das Publikum bekommt und welche nicht. Solche One-to-many-Medien sind in der Regel zentralisiert. Um über so ein Medium zu verfügen, braucht man entweder sehr viel Geld, um Sendezeit kaufen zu können, oder einen Trupp von Fallschirmspringern, um den Sender zu besetzen.

Mit einem Computer, einem Modem und einem Telefonanschluß kann jeder als Verleger tätig werden, jeder Schreibtisch kann eine Sendeanstalt sein. Große Gruppen von Menschen können, über die ganze Welt verstreut, über öffentliche elektronische Bulletin-Boards oder private elektronische E-mail-Systeme interaktiv miteinander kommunizieren, Manifeste publizieren, Debatten führen, sich Zustimmung holen, Aktionen organisieren. Jeder Teilnehmer eines Computerkommunikationsnetzwerkes ist gleichzeitig Informationskonsument und -produzent. Jeder Schreibtisch ist eine Druckerpresse, ein elektronisches Podium, eine Multimedia-Sendeanstalt. Jeder Teilnehmer ist potentiell mit jedem anderen Teilnehmer verbunden. Die Macht der Many-to-many-Medien ist radikal dezentralisiert und ist deshalb eine Gefahr für weitgehend zentralisierte Machtstrukturen.

Ein bekanntes Beispiel: Während der Ereignisse am Tian-anmen-Platz wurde das politische Potential der Many-to-many-Medien auf dramatische Weise offenbar, als dissidente chinesische Studenten via Telefon und Radio Augenzeugenberichte aus China hinausbrachten, sowie durch den weltweiten Gedankenaustausch unter dem Namen "Usenet". Ich erinnere mich noch, wie ich meinen Computer einschaltete, nicht den Fernsehapparat, wie sich das Netzwerk während der Krise entwickelte, und wie die Informationen, die ich über diesen Kanal erhielt, bald viel mehr waren, als ich hätte aufnehmen können.

Auch während der Umsturzversuche am Ende der Gorbatschow-Ära boten solche Netzwerke einen geheimen Kanal, um Nachrichten nach draußen zu bringen und um innerhalb Rußlands den Widerstand zu organisieren. Die Medien griffen für ihre Berichterstattung auf diese "Quellen" zurück. Beim zweiten Umsturzversuch konnte die Tochter eines On-line-Freundes aus dem Fenster ihrer Moskauer Wohnung das Weiße Haus aus einer Perspektive beobachten, die die CNN-Kameras nicht hatten; ihre E-mail-Berichte erreichten tausende Menschen, vielleicht sogar noch mehr, in Echtzeit, während die Ereignisse fortschritten. Sie beschrieb das Gefühl, einen Häuserblock vom Artilleriefeuer entfernt in einer Wohnung zu sitzen.

Das grundlegendste Computerkommunikationsmedium, das elektronische Bulletin-Board-System, ist eine lächerlich billige Version dieser Many-to-many-Technologie, weil die Entwicklungskosten für andere Anwendungen bezahlt wurden. Es dauerte ein Jahrhundert und kostete Milliarden von Dollar, um die Welt zu einem Telekommunikationsnetzwerk zu verkabeln. Es dauerte ein halbes Jahrhundert und kostete Milliarden von Dollar, um Computer zu entwickeln, die man sich leisten konnte. Heute kann ein zehnjähriges Kind, das 100 Dollar hat, diese zwei Technologien verbinden und hat auf Knopfdruck Zugang zu jeder größeren Universitätsbibliothek der Welt, einer wunderbaren Kanzel und einer Welt voller Verbündeter.

Die zweite Machtquelle dieses neuen Mediums liegt in der Möglichkeit begründet, daß es Menschen miteinander auf bahnbrechende Art und Weise kommunizieren läßt. Ein Schüler in Taiwan, eine Großmutter in Prag, ein Geschäftsmann im Silicon Valley oder in Osaka können sich "treffen" und miteinander über Ökologie oder Astronomie, über Politik oder Kindererziehung, über die neueste Technologie oder Antiquitäten diskutieren. Und aus diesen öffentlichen Verbindungen können persönliche Beziehungen entstehen – über die traditionellen Barrieren wie Geschlecht, Alter, ethnische Zugehörigkeit, Klassenzugehörigkeit, Nationalität oder geographische Distanz hinweg. Aus diesem Verbindungs- und Beziehungsgeflecht können sich Industrien, Märkte und Gemeinschaften entwickeln.

Vergessen wir nicht, daß das Telefon ursprünglich nur für Geschäftszwecke angeboten wurde – und erst auf Grund der Nachfrage seitens der normalen Bürger, die miteinander über alles, nur nicht über Geschäftliches, sprechen wollten, sahen sich die Telefongesellschaften gezwungen, eine Dienstleistung anzubieten, die dann den größten Erfolg hatte, nämlich das Telefon als soziales Werkzeug. Somit erfanden die Kunden das Telefonsystem, sobald sie einmal Zugang zur technischen Infrastruktur hatten.

In Frankreich passierte mit den Computerkommunikationsmedien etwas ganz Ähnliches. Die Regierung baute eine landesweit zugängliche Datenbank und Telekommunikationsinfrastruktur auf und gab sechs Millionen Minitel-Terminals ab. Geplant war das System als One-to-many-Medium, das der Bevölkerung Telefonbücher und andere Informationsdatenbanken zur Verfügung stellen sollte. Sehr bald aber wurde das Minitel-System geknackt und die Kunden konnten miteinander kommunizieren. Michel Landaret, der Leiter des Minitel-Experiments, war, als Kunden begannen, über ein illegales Chat-Programm miteinander zu kommunizieren, klug genug, die dahinterstehende Botschaft zu verstehen. Die Chat-Programme wurden schnell zur beliebtesten und lukrativsten Einnahmequelle für France Telecom.

Was diese beiden Geschichten – die Entwicklung des Telefonsystems in Amerika und das Minitel-Unternehmen in Frankreich – zeigen, ist, daß Menschen vor allem Zugang zueinander haben wollen, nicht so sehr zu nackten Informationen.

Die Menschen werden Gründe erfinden, um ein Kommunikationsmedium zu benutzen, sobald sie die Werkzeuge haben, eines zu entwickeln.

Als dritte Machtquelle ist das Konvergieren aller anderen Medien zu einem einzigen digitalen Medium zu nennen. Die Leute, die die nächste Hardware-Generation für solche Netzwerke entwickeln, wissen, daß es nur mehr eine einzige Leitung zur Übertragung von Text, Stimme, Video, Graphik und sogar von Computerprogrammen geben wird. All die Diskussionen über "Multimedia" in der Presse und auf teuren Konferenzen zielen möglicherweise in die falsche Richtung.

Niemand weiß, was Millionen Menschen zu kaufen bereit sein werden, um von diesem neuen Medium zu profitieren. Vielleicht CD-ROM oder CD-I oder DVI oder die Bildplatte. Niemand weiß das wirklich. Und niemand kennt den Inhalt des Mediums genau.

Eines ist aber sicher: Jede Information, die man auf CD-ROM oder einer Computerdiskette speichern kann, kann über Netzwerke geschickt und in die Märkte und Gemeinschaften integriert werden, die sich rund um die ausschließliche Textform des Mediums entwickeln. Haben diese Netzwerke, außer ein Many-to-many-Medium zu sein und die Menschen untereinander zu verbinden, auch noch Multimedia-Fähigkeiten, dann werden die Konsumenten den Inhalt möglicherweise selbst definieren und ihre eigenen Gründe dafür erfinden, weshalb sie sich mit diesen neuen Geräten in die Informationsleitungen einschalten wollen, so wie sie es damals beim Telefon taten. Und das führt uns zur vierten und letzten Machtquelle – dem Potential dieses Mediums, eine Plattform für Innovation zu werden.

Nehmen wir als Beispiel den Apple Computer.

Der Erfolg der gesamten PC-Industrie ist darauf zurückzuführen, daß diese kleinen neuen Unternehmen, die in den 70er Jahren entstanden, etwas taten, was im vollkommenen Gegensatz zu der Marketingstrategie von IBM und der etablierten Computerindustrie stand. Anstatt zu versuchen, einen möglichst großen Marktanteil zu erobern und einen möglichst großen Teil des Marktes auf die eigenen geschlossenen Systeme festzulegen, schuf Apple ein offenes System und wandte sich an Enthusiasten. Bei den ersten Computern ließ man bewußt Leerstellen, so daß Dritte mit neuer Hardware eine Chance zur Aufrüstung der Computer hatten. Es wurden "Prediger" ausgeschickt, die Software-Unternehmen dazu überreden sollten, Programme für Apple Computer zu schreiben, und die dazu notwendigen technischen Spezifikationen wurden nicht zurückgehalten.

Überall tauchten Hinterhof-Erfinder auf, die hofften, auf den Erfolgszug von Jobs und Wozniak aufspringen zu können. Viele von ihnen wurden reich dabei. Die Erfinder von VisiCalc, dem ersten Spreadsheet für Apple II, schufen den ersten echten Markt für Personal Computer. Der Apple II war eine Plattform für Innovationen. Eine einzige dieser Innovationen, das elektronische Spreadsheet, löste das enorme Wachstum aus, durch das Apple zu einem Milliarden Dollar schweren Unternehmen wurde.

Eine auf einer Plattform für Innovationen aufbauende Industrie gibt den Kunden die Möglichkeit, neue, lukrative Anwendungen für das Produkt dieser Industrie zu entwickeln und davon zu profitieren.

Die Kommunikation unter den Menschen ist der Grundstein jeder demokratischen Gesellschaft. Philosophen wie John Locke und Verfasser von Streitschriften wie Tom Paine waren fest davon überzeugt, daß die Bevölkerung sich selbst regieren könnte, wenn die Menschen genug Bildung und Freiheit besäßen, um miteinander zu diskutieren. Die Selbstregierung der Bürger, nicht der Könige, bestünde nicht nur darin, daß sie in geheimer Wahl ihre Vertreter bestimmen, sondern auch darin, daß sie über die Fragen, die sie angehen, Bescheid wissen und diskutieren können. Das ist "Öffentlichkeit".

Die Massenmedien, die One-to-many-Medien, vor allem das Fernsehen, veränderten den Diskursmodus zwischen den Bürgern auf eine Art und Weise, die der Demokratie nicht förderlich war. Die Öffentlichkeit wurde zu einer Ware, die man kaufen und verkaufen konnte. Wohlüberlegte Argumente wurden von fesselnden Bildern und emotionalen Soundbites in den Hintergrund gedrängt. Die Menschen kommunizierten immer weniger miteinander, während die Werbeindustrie lernte, wie man Fragen und Kandidaten verpacken und vermarkten muß. Das Spektakel, das Hyperreale, die Verwandlung der Öffentlichkeit in eine Ware, so bezeichnen politische Analysen die Folgen der Dominanz der Massenmedien in den letzten 40 Jahren. Diese Analysen haben zweifellos ihren Wert, doch sie setzen sich nicht mit der hierarchieauflösenden, entmassifizierenden Wirkung von Computerkommunikationsnetzwerken auseinander.

Solange die Many-to-many-Medien für die gesamte Bevölkerung zugänglich sind, solange sie erschwinglich, leicht zu handhaben und als Forum für freie Meinungsäußerung gesetzlich geschützt sind, versprechen sie die Wiederbelebung der Öffentlichkeit.

Im 16. Jahrhundert wurden die Fundamente der Demokratie gelegt, als die damalige Informationstechnologie, nämlich der Buchdruck, das Veröffentlichungsmonopol der Kirche und der Könige brach. Ein Jahrhundert nach Gutenberg konnten -zig Millionen Europäer schreiben und lesen. Auf dieser Fähigkeit gründet die Demokratie. Könnte das einfache Bulletin-Board-System die Druckerpresse der nächsten Revolution sein?

Künstler müssen jetzt klar Position beziehen im Dialog darüber, welche Art von Gesellschaften und Menschen wir durch die Technologien, für die wir uns entscheiden, hervorbringen. Die erste große Barriere für Künstler, der Zugang zu den Produktionsmitteln, ist inzwischen mit den erschwinglichen Preisen von Desktop-Video, Desktop-Audio und Desktop-Graphik gefallen. Die zweite große Barriere, der Zugang zu den Mitteln für die Verbreitung, ist mit dem explosionsartigen Wachstum der Computerkommunikationsnetzwerke überwunden.

Mit den wirtschaftlichen und politischen Infrastrukturen und den nötigen Technologien verändert sich auch das menschliche Interface zu den Netzwerken rapide. Die richtige Verwendung der Produktionswerkzeuge war für Künstler bisher auch eine Barriere. Die Netzwerke waren für alle, die keine Computer-Experten waren, zu abstrakt, um sie als künstlerisches Ausdrucksmittel zu sehen. Die jüngsten Ereignisse in der Entwicklung des menschlichen Interfaces im Netzwerk werden das aber ändern. Auf meiner letzten Tokioreise zeigte mir mein Freund Joi Ito das erstemal das sichtbare Fenster ins Netzwerk. Was für mich jahrelang nichts als stumme, alphanumerische Abstraktion war, war plötzlich eine erfahrbare Realität.

Auch wenn der Grabstein der Familie Joichi Itos in Iwate die Namen von 27 Generationen trägt, ist Joi zweifellos ein junger Mann des 21. Jahrhunderts. Nach einem späten Abendessen in Roppongi gingen wir in einer der seltenen Schneenächte in Tokio Anfang 1994 in seine Wohnung, um mit dem Netzwerk die Zeit totzuschlagen, bis das Nachtleben in Tokio beginnen würde. Auf dem Bildschirm seines PowerBooks erschien eine Seite von Mosaic. Links waren briefmarkengroße Bilder von Galaxien und Popgruppen aufgereiht, daneben Kopfzeilen und Unter-Kopfzeilen. Bevor er einen Befehl eingab, wußte ich schon, daß ich in eine neue Welt blickte. Ich schoß buchstäblich hoch, als Joi auf das Bild einer Popgruppe zeigte und aus dem Lautsprecher seines Computers Musik kam.

"lch habe mir Hypertext-Markup-Language gerade selbst beigebracht", sagte er. Joi bringt sich immer gerade etwas selbst bei, wovon ich noch nie gehört habe. Diese Sprache ist ein Code, mit dem er auf seinem Computer gespeichertes Video-, Graphik- und Textmaterial an -zig Millionen lnternet-Teilnehmer senden kann.
Ich erinnere mich, wie ich 1984 das erstemal einen Macintosh sah. Ich erinnere mich, wie ich 1985 das erstemal WELL anloggte. Ich erinnere mich, wie mir beim Durchlesen der Namen tausender Newsgroups ganz schwindlig wurde, als ich das erstemal in Usenet hineingekommen war. Inzwischen erkenne ich die Momente, wenn wir von einem technologischen Durchbruch in eine neue Dimension geschleudert werden. Mosaic hatte dieses Flair des Zukünftigen, das man sofort erkannte. Es könnte die "killer app" sein – die unerwartete Applikation oder Anwendung, einer Technologie, die aus dieser Technologie ein Massenmedium machen würde, so wie einst Spreadsheets für Personal Computer. Es hat auf jeden Fall das gewisse Etwas.

Draußen, in den Straßen von Harajuku, wo Joi Itos Wohnung liegt, folgen die Tokioer Teenager einem durchgeplanten Medienloop: Modedesigner und Geschäfte entscheiden, welche Mode sie im nächsten Monat verkaufen werden, der neue Look wird in genau getimeten Zeitabständen über auflagenstarke Zeitschriften und über Sängeridole an die richtigen Leute herangebracht. Joi Ito macht sich dagegen seine eigenen Medien.
Die erste Seite von Mosaic sieht genauso aus wie das Inhaltsverzeichnis einer Farbillustrierten auf Hochglanzpapier. Menüs weisen den Weg zu persönlichen Informationen über Joi – Multimedia-Selbstporträts. Auf einem Video springt Joi aus einem Flugzeug. Er wollte dann aber höher hinaus.

"Schauen wir uns als erstes einmal den Weltraum an", sagte Joi und klickte im Menü das Feld "Hubble Pictures" an. Es dauerte einen Augenblick, bis das Bild von einem 15 Zeitzonen entfernten Computer abgezogen wurde. Dann erschien ein detailliertes Farbbild einer fernen Galaxie, das am Morgen vom Hubble-Space-Telescope auf die Erde gebeamt worden war.

"Was haben wir für Wetter?" Ich wählte von den kleinen Bildern von verschiedenen Teilen der Erde eines aus – den Nordpazifik, wo wir uns gerade befanden. In wenigen Sekunden hatte ich am Bildschirm die Wetterlage, die eine Stunde zuvor von einem Satelliten auf die Erde gesandt worden war.

Der MTV.COM-Server war auch nicht schlecht. Das ist eine digitale Zweigstelle von MTV im Internet. Ich klickte ein Ikon auf Jois Bildschirm an und stellte damit eine Verbindung her zwischen seinem Computer in Tokio und dem Internet-Stützpunkt von MTV in den USA. Ich sah mir Plattencovers an, hörte mir ein paar Songausschnitte an. Es gab zum Beispiel auch ein kurzes Video von einem VJ (inzwischen ist er wohl ein "EJ"), der zur Musik von Elton Johns "Rocketman" in einem Raumschiff davonzischte.

Joi Itos Tomogaya ist ein Net-Zine, eine Multimedia-on line-Version eines nur wenig älteren kulturellen Phänomens, das von Gruppen kommt, die Zugang zu Kommunikationstechnologien haben. Die Zines kamen von einer Generation, der die Massenmedien gleichgültig waren. Zinesters machen mit ein paar Freunden eine Jam-Session mit Kopierern und Computergraphikprogrammen, drucken die Sachen dann am Abend am Laserdrucker des Chefs aus und verschicken sie an ein ausgewähltes Kultpublikum.

Joi und seine Net-Head-Freunde haben ihre eigene Vorstellung davon, in welche Richtung die Technokultur geht. Sie spielen mit dem Netzwerk, wie ihre Eltern mit der E-Gitarre spielten. Ich passe aber auf, in welche Richtung sie gehen, denn vielleicht wissen sie etwas darüber, wo wir uns hinbewegen.

Der Kampf um die Form der Netzwerke hat begonnen. Zum Teil ist es ein Kampf um Geld und Macht, aber der Knackpunkt ist immer noch das Verstehen – wenn genug Menschen verstehen, was passiert, können wir, glaube ich, auch etwas bewirken. Ob wir in zehn Jahren in einem Uberwachungsstaat oder in einer demokratischen Gesellschaft leben, hängt vielleicht in nicht geringem Maße davon ab, was du und ich heute wissen und tun. Das Ergebnis steht nicht fest. Was aus den Netzwerken wird, hängt immer noch zu einem großen Teil von uns ab. Und wie immer in Zeiten des politischen Chaos, ist die Verantwortung, die Künstler tragen, jetzt besonders groß.