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From the Flipbook to the Museum on the Air


'Toshio Iwai Toshio Iwai

In der Volksschule füllte ich meine Hefte mit kleinen "bewegten Bildern". Ich zeichnete sie in alle Ecken meiner Hefte und erweckte meine Animationen zum Leben, angefangen von einfachen Strichen, die umherhüpften, über meine ganz private Cartoonfigur, die sich bewegen und verändern konnte, bis hin zum Mond, den ich die Erde umkreisen ließ. Diese "bewegten Bilder", mein Daumenkino von vor zwanzig Jahren, waren mein ganz persönliches Bildsystem – Papier und Bleistift mein einziges kreatives Werkzeug.

Viele Jahre später, an der Universität, lernte ich die Animationen verschiedenster Künstler auf der ganzen Welt kennen und begann, mit Film und Video zu experimentieren. Zugleich fing ich an, mich für die Geschichte der Animation näher zu interessieren, und im Laufe meiner Forschungen auf diesem Gebiet wurde mir bewußt, wie viele Animationstechniken es schon vor der Erfindung des Films gegeben hatte. Versunken in der prä-kinematographischen Ära war neben Erfindungen wie dem Lebensrad (Zoetrop) und der Wunderscheibe (Stroboskop, Phänakistoskop) auch der Taschenkinematograph oder das Daumenkino, mit dem ich als Kind so oft gespielt hatte. Ich dachte an den Spaß, den ich damals dabei hatte, und begann, wieder solche bewegten Bilder zu machen.

Das neue Daumenkino brachte dann ein Jahrzehnt später eine große Überraschung für mich. Es war ein viel freieres Medium als Film und Video, womit ich bis dahin gearbeitet hatte. Man brauchte sich nicht um Vorführzeiten oder -orte zu kümmern, man brauchte keine technischen Anlagen aufzubauen. Man konnte es überallhin mitnehmen und jederzeit aus der Hosentasche ziehen und seinen Freunden zeigen. Für mich war es ein persönlicheres Medium als alles, was es zu der Zeit gab. Man konnte die Vorführgeschwindigkeit mit der Hand steuern. Das machte es meiner Meinung nach zu einem sehr interaktiven Medium. Dadurch, daß ich mein Daumenkino bei mir trug und es sozusagen aus der hohlen Hand heraus ablaufen lassen konnte, entwickelte ich eine sehr enge Beziehung zu diesen Bildern. Ich dachte damals, daß das Experimentelle dieser Bilder, ihr Volumen, ihr Gewicht, wie sich das Abblättern der Seiten anhörte und anfühlte – wesentliche Elemente eines persönlichen Bildsystems – irgendwann in der Entwicklung der Bildmedien zur Massenmedienkultur verloren gegangen war. Das Daumenkino war für mich das Bildsystem mit der größten Freiheit und dem größten kreativen Ausdruckspotential.

Begeistert von diesen Erfindungen, die durch das Aufkommen des Films in Vergessenheit geraten waren, gab ich mein Industrial-Design-Studium auf und begann mich ernsthaft mit Bild-Arbeiten zu beschäftigen. Ich begann damit, diese alten Bildmedien mit modernen Technologien zu verbinden. Mit Hilfe von Computern und Videoprintern schuf ich Daumenkino-Animationen und computer-manipulierte Wunderscheiben. In meiner Arbeit 3-Dimensional Zoetrope plazierte ich in den Zoetrop kleine Figuren. Wenn man die Kurbel betätigte, bewegten sie sich wie dreidimensionale Animationen.

Von 1985 an verwendete ich Videomonitore und Projektoren als stroboskopische Lichtquellen in meiner Serie Time Stratum, um die Illusion dreidimensionaler Bilder zu schaffen. Mit dieser Arbeit wollte ich einen freieren Einstieg in die Welt der Bilder anbieten, als es die modernen Massenmedien tun. Wenn wir ins Kino gehen, müssen wir uns an die festgesetzten Beginnzeiten halten und still dasitzen und auf die Leinwand starren, bis der Film mit uns fertig ist. Ich wollte diese Beschränkung aufheben und eine Zugangsweise schaffen, wie wir sie zum Beispiel zu Skulpturen haben – wir können sie so lange betrachten, wie wir wollen, und von jeder beliebigen Seite. Die Serie Time Stratum war eine Art Antwort auf eine Frage, die ich mir selbst gestellt hatte, nämlich: Was wäre, wenn wir in den letzten 150 Jahren jene prä-kinematographischen Technologien weiter entwickelt hätten?

Vor ein paar Jahren begann ich, in meiner kreativen Arbeit PCs sowohl als Werkzeug als auch als Material einzusetzen, und das hat meine Arbeit stark verändert. Ich glaube, daß im Computer ein großes Potential liegt, um eine neue Beziehung zwischen dem Menschen und seinen Bildern zu schaffen. Der Computer ist das Medium nicht nur zur Revitalisierung, sondern auch zur weiteren Entwicklung der Interaktivität und jener anderen Elemente, die für unsere Partizipation wesentlich sind und von prä-kinematographischen Technologien sehr wohl angeboten wurden, aber im Laufe der Entwicklung des Kinos und des Fernsehens zu Massenmedien verloren gingen. Vor allem in Hinblick auf eine Echtzeit-Manipulation auditiver und visueller Komponenten leistet der Computer mehr als jedes bisherige Medium. Bei einer Reihe von Installationen habe ich mit diesem neuen kreativen Potential des Computers gearbeitet. Wie bei meinen ersten Bleistiftkritzeleien auf Papier kann der Benutzer hier wieder sowohl die auditiven als auch die visuellen Komponenten selbst steuern.

Diese Musik-Insekten, wie ich sie nenne, "reagieren" auf Farbpunkte auf dem Bildschirm. Wenn sie sich über solche Punkte bewegen, lösen sie Tonleitern und verschiedene Klänge und Lichtmuster aus. Der Benutzer wählt mit einer "Maus" aus einer Palette von Farben einige aus und koloriert damit ihren Pfad, und die Insekten führen die Farben aus, wenn sie darüber fliegen. Durch bestimmte Farben läßt sich die Richtung der Insekten ändern, und es können weniger zufällige musikalische "Performances" gewählt werden. Dieses Stück ist ein Werkzeug für visuelle Musik-Performance.

"Einstein TV" (Fuji Television, Oktober 1990 bis September 1991) war ein 30 minütiges Nachrichtenprogramm über wissenschaftliche Themen, das spät in der Nacht gesendet wurde. Vor einem ganz aus 3-D-Computergraphik bestehenden Hintergrund standen zwei Sprecherinnen, die mit der Hand (virtuelle) graphische Ikone aktivierten, Fenster auf virtuellen Tafeln, die sich öffneten und visuelle oder textliche Daten zeigten. Mit diesem Programm wollte ich ein Bild der Nachrichtensendungen schaffen, wie sie in Zukunft aussehen könnten und bei denen die Sprecher die Präsentation ihrer Geschichten freier manipulieren können.

"Ugo Ugo Lhuga" (Fuji Television, Oktober 1992 bis März 1994) war ein Experiment, um eine Art von Dingen anzubieten, die es in Kinderprogrammen ansonsten nicht gibt, und war ursprünglich als Unterhaltungsprogramm für Kinder konzipiert. Es wurde während der Woche jeden Tag in der Früh ausgestrahlt und dauerte 30 Minuten. Von Tag zu Tag sahen sich immer mehr und mehr verschiedene Leute die Sendung an, Leute aller Altersgruppen, und sie wurde schließlich in ganz Japan zu einer Kultsendung. Von mir stammen die Teile des Programms, wo die Stars der Sendung, zwei Kinder mit den Namen "Ugo Ugo" und "Lhuga", mit computer-generierten Figuren interagieren. Ich entwarf diese computer-generierten Figuren und ihr (virtuelles) Zimmer und produzierte einen Großteil der Computergraphik. Außerdem entwickelte ich, um diese Figuren natürlich erscheinen zu lassen, ein System, um ihre Lippenbewegungen mit dem zu synchronisieren, was die lebenden Schauspieler sagten, und um ihren Gesichtsausdruck jeweils den Improvisationen der Kinder anzupassen. Dadurch konnten die Kinder mit den computergenerierten Figuren in Echtzeit sprechen und interagieren, wobei sie auf digitalem Weg in ihr computer-generiertes Zimmer versetzt wurden. Für das, was die Kinder sagen, gibt es kein Drehbuch. Durch den Einsatz von Echtzeit-Computergraphik konnten wir ihre Natürlichkeit wunderbar einfangen.

"Ugo Ugo Lhuga live" war ein Experiment, um die Möglichkeiten von Live-Auftritten in einem Programm zu entwickeln, das eigentlich auf Voraufnahme und Schnitt ausgelegt ist. Kinder interagierten während Nachrichtensendungen und Wetterberichten mit computergenerierten Animationen, gesendet wurde in Echtzeit. Außerdem konnten Kinder aus ganz Japan während der Sendung anrufen und mit den computer-generierten Figuren sprechen. In einem Teil des Programms mit dem Titel "Ugo Lhu CG Sumo" konnten Kinder aus ganz Japan Bilder von Sumo-Ringern einsenden, die sie von Postkarten abgezeichnet hatten, und sie in der Sendung an einem Wettkampf teilnehmen lassen. Während sie sich dann zu Hause die Sendung ansahen, konnten sie, indem sie lauter als ihr Gegner ins Telefon schrien, die Figur des Gegners aus dem Ring stoßen. Mit diesen Experimenten brachten wir Interaktivität ins Fernsehen, machten es zu einem Ort, an dem Kinder spielen konnten, entwickelten sein Potential als ein Bildmedium für Kinder und gaben dem Programm eine ganz neue Richtung.

Media Epoch Exhibition / Museum on the Air (Fuji Television und Itabashi Art Museum, August 1993) Im Sommer 1993 wurde ich gefragt, ob ich eine Einzelausstellung am Itabashi Art Museum machen wollte. Ich schlug eine Kombination von Ausstellung und Live-Sendungen vor; letztere sollten in Zusammenhang mit "Ugo Ugo Lhuga" stehen, einem Fernsehprogramm, an dem ich zu der Zeit gerade arbeitete. Ich installierte im Museum 16 Computer und entwickelte ein digitales Mal-Software-Programm, mit dem jeder einfache Animationen anfertigen konnte; daraus wurde eine Ausstellung von Arbeiten, die Kinder während ihres Besuchs machten. Insgesamt entstanden in den 25 Ausstellungstagen über tausend Animationen. Während einer Woche gab es auch Live-Sendungen vom Museum, wo die elektronischen Bilder der Kinder in Echtzeit gesampelt wurden und mit den computer-generierten Figuren der Fernsehsendung interagierten. Von Zusehern aus ganz Japan wurden Fax-Arbeiten an das Museum geschickt, die dann auch in das Programm integriert wurden. Kinder, die die Fernsehsendung kannten, stürmten ins Museum, und tausende Fax-Seiten kamen aus ganz Japan. Das Fernsehen und das Museum, zwei typischerweise geschlossene Kommunikationsmedien, schufen gemeinsam ganz neuartige Möglichkeiten.

Die deutsche Übersetzung unterscheidet sich aufgrund nachträglicher Korrekturen des Autors geringfügig vom englischen Text.