www.aec.at  
Ars Electronica 1994
Festival-Programm 1994
Back to:
Festival 1979-2007
 

 

Gates - Seven and Haunted


'Mark Trayle Mark Trayle

Seit Jahren habe ich nichts mehr wirklich geschrieben. Seit den späten 70er Jahren arbeite ich musikalische Details mit Hilfe elektronischer Hardware und Computersoftware aus und konzentriere mich auf die Schaffung größerer musikalischer Prozesse und Situationen. Ich bin nicht faul, ich habe mich nur vor langer Zeit dem Cage'schen Credo verschrieben, das Ego aus dem musikalischen Schaffensprozeß herauszuhalten, und anscheinend kann ich mich davon nicht mehr lösen. Außerdem habe ich eine Affinität für Klangmaterial, das ich zufällig finde – für die Verzerrungen und elektronischen Artefakte der Radio- und Fernsehsendungen, dem über-verstärkten Treibgut der populären Kultur.

GLÜCKLICHE UMSTÄNDE
Seit meinem Abschluß am Mills College 1982 lebe ich vom Computer-Programmieren. Dank des in der Computerindustrie verbreiteten Aberglaubens, daß Musiker gute Programmierer sind, und dank eines Grundverständnisses für digitales logisches Design und Programmieren, das ich mir durch meine Beschäftigung mit elektroakustischer Musik nebenbei erworben habe, bekam ich nach dem Collegeabschluß einen "richtigen Job". Seither habe ich viele solcher Jobs gehabt, die zwar meistens nicht ganz uninteressant waren, aber doch nie, was ich musikalisch inspirierend nennen würde. Auf Grund einer Verkettung glücklicher Umstände landete ich 1987 schließlich im Ames-Research-Center der NASA, einem der ersten Labors, das sich mit virtueller Realität beschäftigte. Ich lernte dort genug über VR, um zu wissen, daß ein Dataglove ein brauchbares Interface sein könnte, und ein vom Computer generierter dreidimensionaler Raum ein fruchtbarer Boden zur Realisierung dieser cage'schen musikalischen Prozesse.

Natürlich lag die VR-Technologie damals (und so ist es größtenteils bis heute) außerhalb meiner finanziellen Möglichkeiten. Irgendwann in den späten 80er Jahren brachte Mattel, der amerikanische Spielzeughersteller, einen billigen Dataglove für Nintendo-Videospiele unter dem Namen Power-Glove auf den Markt. Genauso wie die viel teureren Datagloves, die in der "ernsthaften" VR-Forschung verwendet werden, bewegt sich der Power-Glove in einem begrenzten, dreidimensionalen Feld und sendet die Information über seine Position in diesem Feld und die Haltung seiner Finger an einen Host-Computer. Am Bund des Power-Glove befinden sich auch Tasten, die ASCII-Codes an den Host senden. Die Power-Gloves waren so billig (ursprünglich ca. 80 US$, inzwischen ca. 20 US$, sofern man sie überhaupt noch bekommt) und so weit verbreitet, daß es, so dachte ich, bald in jedem Haushalt einen geben würde, der an irgendeinen nachgerüsteten Spielcomputer angeschlossen ist – das Walzenklavier des 21. Jahrhunderts. Das brachte mich auf die Idee, ein paar Stücke für den Glove zu schreiben, die auch Amateurmusiker spielen könnten, wobei das Interface so einfach zu verwenden war, daß man nicht erst jahrelang üben mußte, um seinen Freunden nach dem Abendessen etwas vorzuspielen. Virtuelle Kammermusik.

Mitte 1990 begann ich, Musiksoftware für den Glove zu schreiben. Kurz zuvor hatte ich bei einer ACM SIGCHI-Konferenz ein Demo gesehen und fand dann auf dem "grauen Markt" auch ein Produkt, durch das ich den Glove mit meinem Amiga verbinden konnte. Die Software, die ich entwickelte (sie ist in Lattice C unter Amiga DOS geschrieben), steuert durch Bewegungen des Glove die Tonhöhe, Amplitude und Länge gesampelter Sounds. Da ich ein erschwingliches Heimgerät entwickeln wollte, verwendete ich das interne Audiosystem des Amiga als Sampler. Obwohl es ein 8-Bit-System mit Low-Fidelity war, konnte ich auf Grund seiner offenen Architektur mit den Samples viel machen, z.B. die Anfangs- und Endpunkte in Echtzeit verändern, was man damals mit kommerziellen Samplern, auch wenn sie eine höhere Wiedergabetreue hatten, nicht konnte.
GATES
Eines der ersten Stücke, das ich für den Glove schrieb, hieß Gate. In dem Stück bzw. in den Versionen des Stückes, die hier beschrieben sind, stellen Bewegungen auf der horizontalen Ebene (x) Veränderungen der Tonhöhe dar, Bewegungen auf der vertikalen Ebene (y) Veränderungen der Amplitude und Bewegungen auf der senkrecht auf x und y stehenden Ebene (z) die Länge der Samples. (Hier ist anzumerken, daß Veränderungen der Samplelänge, zumindest in meiner Musik, normalerweise als Veränderungen der Klangfarbe wahrgenommen werden, wenn die Samples relativ kurz sind, d.h. etwa 0,25 Sekunden oder kürzer, und als Veränderungen des Rhythmus, wenn sie länger sind.) Innerhalb des Feldes können Ebenen definiert und als Auslöser sensibilisiert werden – bewegt man den Glove durch eine dieser imaginären Ebenen, wird ein Ereignis oder eine Ereigniskette ausgelöst. Ich bezeichne diese Ebenen daher oft auch als Auslöser-Ebenen. Die für Gate definierte Auslöser-Ebene verläuft senkrecht zur z-Achse an deren Mittelpunkt und erstreckt sich über die gesamte Länge der x- und y-Achsen. Diese Ebene ist das "Gate", das Tor. Wenn der Glove nach vorn (vom Körper weg) durch die Ebene bewegt wird, "öffnet" sich das Gate, wenn er nach hinten (zum Körper hin) bewegt wird, "schließt" sich das Gate. Immer wenn das Gate geöffnet oder geschlossen wird, wird ein Sample eines sich öffnenden oder sich schließenden Gates oder Tores gespielt. Auf der einen Seite der Auslöser-Ebene befindet sich eine Sammlung von Audiosamples, ich bezeichne das als den "Sample-Raum", Auf der anderen Seite der Auslöser-Ebene befindet sich ein Raum, in dem die Audiosamples aus dem Sample-Raum gespielt werden können, der sogenannte "Spiel-Raum" (siehe weiter unten). Mit den Tasten am Glove kann das Stück gestartet, beendet oder unterbrochen werden, oder es können neue Samples geladen werden.

Gate wurde zwar ursprünglich als Live-Performance konzipiert, gelangte dann aber das erstemal als Installation im Mills College in Oakland, Kalifornien, im Rahmen des Electronic-Music-Plus-Festival an die Öffentlichkeit, und zwar mit dem Untertitel "UFOs". Gate (UFOs) war als geschlossener Wohnraum geplant, der die verschwimmende Grenzlinie zwischen zwei Welten überspannen sollte. Entlang der Auslöser-Ebene wurde ein Zaun errichtet, der bis auf eine Öffnung für das Gate den Sample-Raum umschloß, Auf der Sample-Raum-Seite des Zaunes stand ein kleiner Tisch. Auf dem Tisch befanden sich etwa ein halbes Dutzend unsichtbare, nicht benannte Haushaltsgegenstände – Töpfe, Pfannen, Pfeffermühlen, Salzstreuer etc. -die jeweils durch ein Audiosample dargestellt waren und sich in einer im Verhältnis zur Auslöser-Ebene feststehenden Position befanden. Wenn das Gate offen war, konnte ein Gegenstand vom Tisch .genommen" werden, indem man den Glove an die Position des Gegenstandes bewegte und Daumen und Zeigefinger aneinanderlegte. Dann brachte man den Gegenstand durch das Gate in den Spiel-Raum, wo sich seine Klangeigenschaften untersuchen und manipulieren ließen, indem man den Power Glove in seinem 3-D-Feld umherbewegte.
HAUNTED … WIRKLICH VIRTUELLE IMMOBILIE
Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert verwendeten Magier und Medien besonders konstruierte Möbelstücke, sogenannte "Séancekabinette", als Tore zur Welt der Geister. Durch diese Kabinette kommunizierten Leute wie die Davenport Brothers oder Medien wie Mina Stinson Crandon mit den Verstorbenen. Mit Hilfe der damaligen technischen Spezialeffekte (Stimmtrompeten, pneumatisch gesteuerte Hände) und ein paar Tricks konnten diese "Spiritisten" Erscheinungen und Geister hervorzaubern. Priester und Schamanen hatten spezielle Hilfsmittel und Techniken, um in den Häusern der Lebenden wilde, lärmende Geister heraufzubeschwören und dann wieder zu vertreiben.

Wie Gate (UFOs), ein Séancekabinett oder ein Geisterhaus steht Gate (Haunted) für ein Tor zu einer anderen Welt, einer vorübergehenden Heimstatt für telenomadische Seelen, die auf die "andere Seite" hinübergewechselt sind. Statt – wie bei UFOs – auf dem Tisch, befinden sich die Samples auf Wandregalen. Durch Seile werden ein Haus und ein bestimmter Raum in dem Haus skizziert. An der Rückwand des Raumes befinden sich ein Relief mit schamanischen Symbolen und Fetischen und zwei Fächer. Auf diesen Fächern befinden sich vier rituelle Gegenstände zur Geisterbeschwörung. Die Benützerin betritt das Haus und geht auf den Raum zu. Von einem kleinen Tisch neben der Tür zu dem Raum nimmt sie einen Dataglove und steckt ihre rechte Hand hinein. Sobald sie durch die Tür zur Rückwand des Raumes greift, hört sie, wie die Tür sich öffnet. Mit der behandschuhten Hand nimmt sie einen der rituellen Gegenstände – der Gegenstand gibt einen Ton von sich. Durch die Tür holt sie den Gegenstand in den vorderen Teil des Hauses. Hier ändert sich der Klang des Gegenstandes, wenn sie ihn hin und her bewegt. Dann greift sie wieder durch die Tür, legt den Gegenstand an seinen Platz auf dem Regal zurück und nimmt einen anderen.
SEVEN
Als Kind hörte ich viel Kurzwellen- und Amateurradio Radio war das Hobby meines Vaters, seit er ein Teenager war, und eine Zeitlang arbeitete er auf Hawaii auch bei einer Radiostation. Der Cheftechniker dieser Station machte das nur nebenbei und war eigentlich bei einer Firma angestellt, die für das Defense Department arbeitete. Einmal nahm er mich in der Nacht zu einer Radar-Teststation am südöstlichsten Zipfel der Insel mit, einem ganz entlegenen Ort, wo angeblich KGB-Agenten aus ihren U-Booten an Land kamen und sich unter die Touristen mischten. Die Station war voll elektronischer Geräte, von denen die meisten immer eingeschaltet blieben und irgendwelche Geräusche machten – weit entfernte Mittelwelle-Radiostationen auf dem Festland, Kurzwellen, unheimliche militärische Meßgeräte. Diese Geräusche klingen mir heute noch in den Ohren.

Seven Gates ist eine interaktive Computermusik-Komposition, die Bühnen-Live-Version der Gate-Installationen. Mit dem Glove manipuliert der Künstler unsichtbare "Klangsouvenirs", Audiosamples verschiedener musikalischer Kulturen am Pazifik (wie wenn man durch Kalifornien fährt und sein Autoradio auf "Scan" eingestellt hat). Das Stück hat sieben, zwischen zwei und fünf Minuten lange, Teile – eine Folge von "Bagatellen" oder eine Art "Thema und Variationen", je nachdem, wie streng man letzteres definieren will. Wie auch bei den Gate-Installationen ist die Bühne in zwei Bereiche geteilt: einen "Sample-Raum" mit unsichtbaren "Regalen" und einen "Spiel-Raum". Die beiden Räume werden durch einen unsichtbaren "Zaun" getrennt. Dieser Zaun verläuft senkrecht zur z-Achse an deren Mittelpunkt und erstreckt sich über die gesamte Länge der x- und y-Achsen. Der Künstler greift mit dem Handschuh durch ein Gate, ein Tor, im Zaun, holt ein Sample vom Regal und bringt es durch das Tor in den Spiel-Raum, wo sein Klang dann moduliert werden kann. Das Tor ist klang-verdrahtet, und jedesmal, wenn es geöffnet oder geschlossen wird, wird ein Audiosample gespielt. (Mit jedem der sieben Teile ist ein anderes Gate oder Torsample assoziiert.) Solange der Künstler das Sample festhält (indem er eine Faust macht), ist es hörbar, macht er die Hand auf, verstummt das Sample.

Das Stück basiert zum Großteil auf Improvisation, abgesehen von ein paar allgemeinen Regeln hinsichtlich der in jedem Teil etwas unterschiedlichen Handbewegungen, Diese Regeln sind sieben einfache Diagramme, die die Bewegungen der behandschuhten Hand im Sample-Raum und im Spiel-Raum definieren (siehe unten). Das Repertoire der in diesem Stück verwendeten Handbewegungen ist symmetrisch: die Teile eins und sieben haben dieselben oder ähnliche Handbewegungen, ebenso die Teile zwei und sechs, und so fort. Der zentrale, vierte Teil entspricht normalerweise den Teilen eins und sieben – ich weiche bei diesem Teil allerdings meist von meiner "Partitur" ab. Seven Gates weist außerdem eine kontextuelle Symmetrie und eine Klangfarbensymmetrie auf. Die Teile eins und sieben verwenden Samples aus der Musik der pazifischen Inseln und der Nortena-Musik, die Teile zwei und sechs europäische Musik aus dem 18. Jahrhundert, die Teile drei und fünf Sprechsamples aus Radio und Fernsehen, und im vierten Teil werden die oben genannten Samples miteinander kombiniert.

Manchmal werde ich von Leuten, die Seven Gates auf der Bühne gesehen haben, gefragt, ob ich Tai-Chi mache oder irgendeine Tanztherapie. Die Antwort ist ein bedingtes Nein, obwohl es nach den vielen Jahren, in denen ich nur Tasten gedrückt und Computermäuse umhergeschoben habe, gut tut, auf der Bühne einmal richtig ins Schwitzen zu kommen. Die Beziehung zwischen Klang und Bewegung ist einfach und direkt, der Klang gibt den Ton an. Die Handbewegungen entstehen dadurch, daß große Brocken auditiver kultureller Verweise genommen und zu rein elektronischen Klangfarben zusammengeschrumpft werden – das alltägliche Klangterrain wird auseinandergenommen, wieder zusammengebaut und neu angelegt.
SCHLUß
Einige Definitionen des Wortes "gate" aus dem American Heritage Dictionary: "etwas, das Zutritt gewährt"; "eine Öffnung in einer Wand oder einem Zaun als Eingang oder Ausgang"; "die Konstruktion, die so eine Öffnung umschließt". In jedem Stück der Gate-Series werden ein paar gefundene Sounds genau untersucht. Mit meiner selbstgebrauten Software in Verbindung mit dem Glove kann der Künstler in das Innere dieser im elektronischen Gedächtnis gefriergetrockneten Klänge vordringen. Der Zuschauer oder Installationsbenutzer taucht nicht in eine auditiv oder visuell realistische Welt ein; durch die Verwendung gesampelter Sounds und ein bißchen Bühnenbilddesign wird seine Phantasie miteinbezogen. In den Installationen Gate (UFOs) und Gate (Haunted) definieren Darstellungen von Zäunen und Wänden einen Zugang zu dieser imaginären Welt. Indem der Benutzer die Einladung einzutreten, annimmt, wird er zum Künstler und agiert als Medium – er erweckt Klangerscheinungen zum Leben, tritt in ungehörte Welten ein.