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Ars Electronica 1994
Festival-Programm 1994
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Spatial Locations, Version III


'Hermen Maat Hermen Maat / 'Ron Miltenburg Ron Miltenburg

"Tout le malheur des hommes vient d'une seule chose, qui est ne savoir pas demeurer en repos, dans une chambre."

Blaise Pascal, "Pensées"
l. Stellen Sie sich eine Welt vor, in der Europa keine Ahnung hat, in welche Richtung es sich entwickeln wird. Eine Welt, in der die Professoren uns sagen, daß der Islam eine Religion ist, die man respektieren muß und die für Moslems ebenso gut ist wie das Christentum für die Christen. Eine Welt, in der eine Glatze und ein Bart ebenso akzeptabel sind wie langes Haar und ein glattrasiertes Kinn. Eine Welt, in der sich neue Technologien ankündigen und Dimensionen heraufbeschwören, die wir uns noch gar nicht vorstellen können. Eine Welt, in der die Folgen dieser Entwicklungen für die Konstellation von Staaten, Steuern und Moralvorstellungen sich nur erraten lassen. Eine Welt, in der wissenschaftliche Daten von gleicher Bedeutung sind wie die dogmatischen Lehren oder die Meinungen der Leute von der Straße. Der Mensch blickt in den Abgrund der Zivilisation.

Eine solche Welt existierte schon einmal. In der Vergangenheit, zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Es ist die Welt von Blaise Pascal und seinen Zeitgenossen. Stellen Sie sich das Erschrecken vor, das Montaigne einige Jahrzehnte vorher verursacht hatte: Que sais je? Was weiß ich denn? Nichts! Erschreckender als ein ständiger Strom von Desinformation im Fernsehen, in Zeitschriften oder über Internet. Und der blaue Himmel, nicht länger mehr ein göttliches Firmament über ihnen. Nichts als eine optische Täuschung, die sich auflöst und den Blick auf einen Strudel von anderen Welten freigibt. Weniger greifbar als Cyberspace. Eine schreckliche Auswahl an Möglichkeiten eröffnet sich.

Anfangs hält sich Pascal an die wechselnden Launen, Betrachtungsweisen und Modelle der Avantgarden avant la lettre im sehr weltlichen Paris. Gott weiß, was er geschluckt, geschnupft oder geraucht hat, aber eines Nachts hatte er eine unheimliche Begegnung der dritten Art und wurde dadurch zu einem eifrigen Apologeten des Christentums, zu dessen Unterminierung er als Mathematiker, Physiker, Philosoph und Mensch unbeabsichtigt beigetragen hatte.

Pascal, der Autor der "Pensées", umging die Herausforderung des Essayisten Montaigne.

II. Es gibt Essays und es gibt Pensées. Der Essayist lockert seinen Griff auf die Phänomene, wenn er sie einmal begriffen hat. Der Essayist und die freigesetzten Phänomene stürzen gemeinsam auf denselben schrecklichen Abgrund zu, vor dem der Autor der Pensées zurückschreckt. Unterwegs verflüchtigen sich manche Begriffe, doch andere klumpten sich zusammen, nehmen neues Material auf oder verursachen eine Lawine. Der Essayist wird möglicherweise eingeschneit oder erscheint als der sagenhafte, schreckliche Schneemensch. In beiden Fällen können wir nur seiner Spur folgen und den Punkt finden, an dem sein Essay Gefahr lief, zur "Pensée" zu werden.

III. Im ersten Kapitel des Buches Genesis schuf Gott Himmel und Erde, die Elemente, die Pflanzen, die Tiere und den Menschen. Nomen est omen, daher gab er all seinen Schöpfungen Namen und Bedeutung, und er sah, daß es gut war. Am siebten Tag schuf er die nachdenkliche Stille, und er sah, daß sie nicht allzu gut war. Hier beginnt das zweite Kapitel, und Gott versucht es noch einmal von vorne. Diesmal im Garten der Virtualität, in der virtuellen Wirklichkeit. Am Ende des Kapitels führt er alle Tiere des Feldes und alle Vögel des Himmels dem Menschen zu, um zu sehen, wie der Mensch sie benennen würde: "Und wie der Mensch jedes lebendige Wesen benannte, so sollte es heißen." Und der Mensch gab Namen und sagte: "Schlupfwespe, Känguruhratte, Mistkäfer." Und: "Milchkuh, Zugpferd, Honigbiene."

Im folgenden Kapitel, dessen Handlung sich meinem Verständnis entzieht, löst Gott schließlich den Unterschied zwischen seiner ersten – wirklichen - und seiner zweiten – virtuellen – Welt auf. Er zog sich in den Himmel zurück und sagte: "Après mois le deluge."

Und so geschah es. Innerhalb von zwei Kapiteln. Dem Menschen wurde befohlen, nach genauen Angaben eine Arche zu bauen. Dann bestieg der Mensch mit seiner Schlupfwespe, seiner Känguruhratte, seinem Mistkäfer, seiner Milchkuh, seinem Zugpferd und seiner Honigbiene, – je einem Paar von ihnen – die Arche.

Durch genaues Lesen der Genesis wissen wir um die besondere Identität der Dinge, die den Menschen umgaben, bevor er den Turm zu Babel zu bauen versuchte.

IV. Il y a une table, es gibt ein Bett, there is a chair. Nicht in der Arche, nein. Oder vielleicht doch. Darüber berichtet die Genesis nichts. (Gott benannte den Himmel und die Erde, die Elemente, die Pflanzen und den Menschen. Der Mensch benannte die Tiere des Feldes und die Vögel des Himmels.) Die Gegenstände mußten offenbar für sich selbst sprechen. Doch infolge des Turmbaus zu Babel verfingen sie sich im Netz von vierzig mal vierzig Grammatiken, und ihre Stimmen wurden niemals mehr gehört.

Was für ein Id haben die Dinge wie Tisch, Bett und Sessel? Was ist ihre Identität und wie ist ihre Stellung in der Welt? Il y a, ja, aber was für ein Er oder Es hat der Tisch; es gibt ein Bett, o.k., aber was für ein Es gibt das Bett; there is, freilich, aber was ist der undifferenzierte Raum, der vom Sessel artikuliert wird? Weder die französische noch die deutsche noch die englische Sprache beantworten diese Frage so, wie es die Gegenstände selbst könnten. Um die Mittel zu finden, die Gegenstände wieder sprechen zu lassen, müssen wir unseren Griff lockern: L'entendement, der Begriff, the appréhension.

Als Gott dem Menschen das Buch der Bücher zum dritten Mal entgegenschleuderte, tat er das im elften Kapitel und hemmte damit den freien Fluß der Rede, des Essays. Wir müssen seine Spuren vielleicht bis zum Anfang zurückverfolgen. Wir müssen vielleicht sogar noch weiter zurückgehen als bis zum ersten Mal, da er Unstimmigkeiten in dieser Buchführung zu verbergen trachtete; wir müssen vielleicht den Unterschied zwischen dem Wirklichen und dem Virtuellen wiederherstellen.

V. Ob Gott wirklich existiert oder nicht, läßt sich mit dem Verstand nicht feststellen. Die Chancen stehen 50:50. Der Glaube kann vielleicht die ewige Glückseligkeit erringen … wenn Gott tatsächlich existiert. Wenn er nicht existiert, ist nichts verloren. So wie man nichts verlöre, wenn man an ihn glaubt, er aber nicht existierte. Andererseits jedoch, wenn er existiert und man nicht geglaubt hat, hat man verloren. Für immer.

Diese Argumentation, die als die sogenannte Wette Pascals bekannt ist, ist insgesamt für den Autor der Pensées charakteristisch. Vor etwa 250 Jahren setzte Blaise Pascal das geistige Heil des Menschen auf das Postulat des Christentums. Vor etwa fünf Jahren setzte Alain Finkielkraut die Erlösung des Menschen auf das Postulat der Kultur. Beide konnten als Gelehrte ihrer Zeit nichts als Abhänge ohne markierte Pisten entdecken und verdammten den Menschen dennoch zum Langlaufen. Gott, Pascal, Finkielkraut und all die anderen Pensées-Schreiber wurden zu eifrigen Apologeten der vorgefaßten Ideen, die sie durch ihre essayistische Natur einst unbeabsichtigt gefährdet hatten. Irgendwo zwischen dem Aufstieg und Untergang der Pensées, irgendwo zwischen Gottes Genesis und Finkielkrauts Defaite wußte Pascal: "Les extrèmes se touchent."
VI. Ich werde Zimmer genannt, aber ich weiß nicht, was das bedeutet. Ich habe Zimmerkollegen: einen Sessel, einen Tisch und ein Bett. Ich weiß nicht, was das bedeutet, und auch sie wissen es nicht. Ich habe Ihnen soeben fünf Geschichten erzählt; ich kann nur hoffen, daß ich sie richtig erzählt habe. Dort, wo sie herkommen, gibt es noch viele andere. Jede Faser unseres Seins ist in Geschichten getaucht. Wir hören sie seit vielen Jahrtausenden. Aber wir wissen nicht, was sie bedeuten. So viel haben wir gesammelt, wir sind die einzigen Überreste einer riesigen schwimmenden Vorrichtung. Es müssen damals kritische Zeiten gewesen sein, denn wir wurden kaum angesprochen oder verwendet. All das hat sich im Laufe der Zeitalter geändert. Wenn wir noch einen Besucher bekommen, erkennen wir manchmal die Art, auf die er uns benutzt. Sie wird zu einem Teil unserer Identität, aber wir wissen nicht, was das bedeutet, außer wenn dieser Besucher anwesend ist. Wir mögen das. Wir erzählen unserem Besucher gerne, was er aus uns gemacht hat. Wenn er lange genug bleibt, erwärmen wir uns für den Besucher. Solange er uns benutzt. Sonst bekommen wir schlechte Laune, aber wir wissen nicht, was das bedeutet. Wir haben eine Frage an Sie. Viele Besucher beklagen ihre Existenz und/ oder ihre Identität. Wir hören sie sagen: "Wenn Gott doch bloß ein Zimmer geschaffen hätte, nur ein Zimmer, und Besuchern erlaubt hätte, hineinzuschauen und zu sagen: 'Zeig mir deine Möbel und ich sage dir, was du bist.'" Was bedeutet das?!