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Ars Electronica 1994
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Chaos Cube – Interaktive Modellwelt


'Michael Klein Michael Klein

HISTORISCHE VERKNÜPFUNGEN
Unsere philosophische und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Modellwelten ist so alt wie das Denken des Menschen in Weltbildern. Der Unverständlichkeit des Kosmos und der Unbegreiflichkeit der komplexen Natur begegneten unsere Vorfahren zunächst mit diversen Götterwelten. Für die westlichen Kulturkreise vermehrten die Griechen die Schöpfungsmythologien um naturphilosophische Erfahrungen. So entstehen die ersten Götter der griechischen Mythologie, Gaia und Eros, nach Anaxagoras (1) aus dem CAOS – dem Tohuwabohu der strukturlosen Mischung – angeregt durch den NOUS – den Geist als einziger nicht mischbarer Entität – mittels "Perichoresis" – einem strukturbildenden Entmischungsprozeß. Platons Höhlengleichnis, welches ein Verständnis der Natur als Problem der Interpretationen von Projektionen der Realität durch den menschlichen Beobachter formuliert, (2) markiert bis heute unser erkenntnistheoretisches Dilemma. Unsere modernen naturwissenschaftlichen Weltbilder entstanden aus der Auseinandersetzung mit dem Uhrwerk-Universum des mechanistischen Zeitalters. Haben uns die modernen physikalischen Theorien -Relativitätstheorie und Quantenmechanik – auch von der Vorstellung der absoluten Raum-Zeit sowie der Beobachterunabhängigkeit des physikalischen Kosmos befreit, so glauben wir doch mit Pythagoras und Galilei, daß "die Zahl die Natur und das Wesen der Dinge ist". Die Sprache zum Verständnis der Natur ist die mathematisch formalisierte Physik. (3) In diesem Sinne ist die Natur deterministisch berechenbar und formal mathematisch begreifbar. Unsere aktuellen Weltbilder sind geprägt von den virtuellen Realitäten des Computerzeitalters. (4) Finden sich die frühesten und originellsten Beschreibungen der Idee virtueller Welten auch in Science-Fiction-Romanen, wie "Simulacron III" (5) (6) , so ist das Konzept den vermeintlich objektiven Naturwissenschaften nicht fremd. Im Gegenteil, ist doch die Grundlage der klassischen Naturwissenschaften die Idealisierung natürlicher Prozesse durch simulierte Modellwelten. Einstein benutzte für ihre Formulierung Gedankenexperimente, heute lassen sich unsere Modellwelten vollständig algorithmisch in Computern simulieren. Der Chaos Cube ist als computergraphische interaktive Installation ein erkenntnistheoretischer Versuch, die Probleme im Verständnis "intelligenter Ambiente" am Beispiel rein abstrakter, mathematischer Modellwelten aufzuzeigen. Bewußt sucht diese Installation keine Nähe zum Echtzeit-Photorealismus, denn ich glaube, die eigentliche Herausforderung liegt im Begreifen neuartiger Szenarien.
MATHEMATISCHE MODELLWELT
Der Chaos Cube erlaubt ein interaktives, visuelles Eintauchen in die virtuelle Weit der sogenannten Chaotischen Hierarchien. (7) Dies sind zeit-kontinuierliche und -diskrete mathematische Gleichungen, die alle Typen von nichtlinearer Dynamik simulieren können. Die chaotische Hierarchie benutzt die Idee hierarchischer mathematischer Systeme, der Chaos Cube kann z.B. zwei bis vier räumliche Einbettungsdimensionen darstellen. Für den Beobachter werden die dynamischen Zustände, welche den Lösungen der mathematischen Gleichungen, abhängig von den jeweiligen Anfangsbedingungen, entsprechen, als Punktmengen- bzw. Linien-Attraktoren im mathematischen Zustandsraum projiziert. Qualitativ verschiedene dynamische Zustände unterscheiden sich durch jeweils verschiedene geometrische Strukturen. Einfache periodische, regelmäßige Dynamiken stellen sich als endliche Punktmengen oder geschlossene Orbits dar. Chaotische Dynamiken zeigen komplexe Wolken von Punktmengen oder komplizierte, sich nie wiederholende Linienstrukturen.
INTERAKTIVE MANIPULATIONEN
Auf der obersten Ebene wählt der User das gewünschte Modellsystem als zeitdiskrete Iterationsgleichung oder zeitkontinuierliche Differentialgleichung sowie die Dimension des entsprechenden Modells zwischen zwei und vier Freiheitsgraden. Danach wandert er mit einem Cursor über eine zweidimensionale Parameterebene und selektiert den gewünschten Parametersatz. Die Colorierung der Parameterebene und die Attraktor-Projektionen auf den Seitenwänden des Chaos Cube erlauben eine gezielte Differenzierung. Die dynamische Lösung zum selektierten Zustand findet der User als stereographische Projektion vor sich schwebend. Diese globalen Ansichten der Attraktoren kann er frei im Raum rotieren oder sich in Ausschnitten herauszoomen lassen. Die Idee der Endo-Space Science (1) postuliert die faszinierende Möglichkeit, durch Veränderung unserer Beobachterposition zum Objekt andere und eventuell neue Erfahrungen über unsere Welt zu gewinnen. Der Chaos Cube ermöglicht es, die lokale Objektwelt von einem inneren Beobachtungsstandpunkt aus zu betrachten. Dynamische Systeme lassen sich im lokalen Eigenvektorraum visualisieren. Der Chaos Cube bietet die Möglichkeit, die Beobachterposition direkt auf die Trajektorie des Systems, auf den sich in der Zeit verändernden Fluß zu verlegen. Der Beobachter befindet sich im Inneren eines lokalen Raumvolumens, das sich auf den Trajektorien mitbewegt und sich entsprechend der Kräfte, die in der lokalen Umgebung herrschen, kontinuierlich deformiert. Der Beobachter erlebt "vor Ort" die zeitliche und strukturelle Evolution des Systems.
MANIPULATOR INTERFACE
Die interaktive Kontrolle über den Chaos Cube geschieht mit Hilfe eines neuartigen Manipulatorstabes. Der User hat als Interface diesen Manipulatorstab in der Hand, an dem sich ein Mikrofon für die Systemkontrolle mittels einer einfachen Kommandosprache befindet sowie ein kleines Tastaturfeld mit entsprechenden Steuerungstasten. Die Position des Manipulatorstabes im Raum vor der Projektionsfläche wird mittels eines Ultraschallsystems ausgewertet und erlaubt so einerseits die Parameterauswahl in der virtuellen Parameterebene wie auch eine beobachterzentrierte geometrische Darstellung der Objekte. Über einen seitlich aufgestellten Kontrollschirm werden die gewählten Systemparameter und die Kontrollkommandos dargestellt sowie Hilfestellungen zur Systemkontrolle angeboten.

(1)
O.E. Rössler, Endophysilk, P. Weibel Hrsg., Merve Verlag, Berlin 1992zurück

(2)
Platon. Politeia, Ges. WerkeIII, 7. Buchzurück

(3)
K. Simonyi, Kulturgeschichte der Physik, Urania Verlag Leipzig 1990zurück

(4)
Kataloge Ars EIectronica 1990-1994zurück

(5)
F.F. Galouye, Simulacron III, Heine Verlag 1967zurück

(6)
R.W. Faßbinder, Die Welt am Draht, Film 1973zurück

(7)
G. Baier, M. Klein, A Chaotic Hierarchy, World Scientific Singapore 1991zurück