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Ars Electronica 1993
Festival-Programm 1993
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Festival 1979-2007
 

 

Das andere Leben


'Katharina Gsöllpointner Katharina Gsöllpointner

"Die unterste, benthische Stufe der Ökosysteme ist das Ziel des Lebens auf Erden. Dorthin richtet sich die vom Lebensmotor entfachte Energie, richtet sich der lebensspendende Regen. Die dort lebenden Organismen sind das äußerste Glied der erdumspannenden Lebenskette. Es sind schwimmende, schreitende, sich eingrabende, im Meeresboden verankerte Tiere von beträchtlicher Körpergröße. Es gibt dort keine Pflanzen mehr, nur noch pflanzenähnliche Tiere. Und dort herrscht Vampiroteuthis infernalis giovanni: der Herr des Lebens auf Erden. Seine Umwelt ist Zentrum allen Lebens – das große Loch, das alles Leben in sich saugt."

aus Vilem Flusser, Louis Bec: Vampiroteuthis Infernalis
Eines der spannendsten Bücher über Leben und unsere Vorstellung davon ist ein Band, den der tschechisch-französische Philosoph Vilem Flusser und der Zoosystemiker Louis Bec 1987 gemeinsam herausgegeben haben: Vampiroteuthis infernalis.

Hinter diesem dämonischen Namen steckt ein Wesen, das sich wie ein Tier auf dem Grund des Chinesischen Meeres aufhält, dessen Lebensweise, Kultur, Sexualität, Sozietät und Kunst von Vilem Flusser beschrieben werden. Diese wunderbare Fabel über den Vampiroteuthis stellt einen philosophischen Ansatz dar, der auf dem Versuch einer Darstellung der Wahrnehmung von Welt durch ein anderes fußt. Durch die Geburt des Vampiroteuthis aus dem binären Ozean wirft Flusser die ganze große Frage des (künstlichen) Lebens auf uns selbst zurück: solange wir uns selbst nicht erkannt haben, kann der Versuch von Leben nur scheitern.

Der Vampirotheutis repräsentiert in zweifacher Hinsicht die Faszination von künstlichem Leben. Zum einen ist er Wesen aus einer Welt der Phantasie, der Märchen, Fabel und Science Fiction, die inzwischen realer geworden ist, als wir es uns je zu träumen wagten, und die durch ihre Wirklichkeit und Echtheit für uns daher nicht mehr mit den herkömmlichen Mitteln der Sprache und Kommunikation begreifbar ist. Zum anderen ist er in seiner Funktion als Widerspiegelung des Ich jenes Andere, in dem allein wir uns erkennen können.

Nur über das Begreifen des vampiroteuthischen Daseins können wir unsere eigene Existenz erkennen. Stammt daher die große Sehnsucht des Menschen, sein Ebenbild" zu schaffen? Und trägt die Idee von der Nutzbarmachung von Robotern, Animaten und Computerprogrammen nicht einen eigentlich unwesentlichen Anteil an der Vorstellung vom künstlichen Leben?

Dennoch stellt Artificial Life Forschung alle bisherigen Definitionen von Leben in Frage, sie spricht gleichsam eine neue Sprache. In ihr können wir wieder einmal versuchen, unser Leben zu begreifen, indem wir das Andere entdecken können. Dazu ist es notwendig, die Fremdheit, das Neue und Ungewohnte anzunehmen, sich mit ihm auseinanderzusetzen und ihm nicht kalt und feindlich zu begegnen. Denn uns und Vampirotheutis verbindet die Unvollkommenheit:
"… Daß wir beide Produkte eines albernen Zufalls sind, ist uns phänomenal anzusehen. Wir sind schlecht programmierte Wesen voller Defekte. Das zeigt sich vor allem daran, daß wir immer etwas benötigen, immer in Not sind. Unter anderem benötigen wir einander. Nicht etwa, wie Plato meint, um einander zu Perfektion zu vervollständigen – eine Synthese 'Mensch-Vampiroteuthis' wäre noch immer ein imperfektes Wesen –, sondern um einander zu spiegeln."
'Aber natürlich weiß ich, was das heißt, Henry', sagte Hammond. 'Es bedeutet, daß Sie Mist gebaut haben.'
'Sicher nicht.' 'Sie haben dort draußen Dinosaurier, die Junge kriegen, Henry.'
'Aber es sind alle weiblich', sagte Wu. 'Es ist unmöglich. Es muß ein Fehler sein'…"


aus: Michael Crichton, Jurassic Park