www.aec.at  
Ars Electronica 1993
Festival-Programm 1993
Back to:
Festival 1979-2007
 

 

Die drei Gesichter des Lebens


'John L. Casti John L. Casti

1. DAS "WARUM" DES LEBENS
Laut Cäsar war Gallien in drei Teile geteilt. Auch bei der Betrachtung des Lebens sieht man, daß die entscheidendsten Fragen in drei unterschiedliche Kategorien aufgefächert zu sein scheinen. Zuerst kommt natürlich die nasse, schwammige, auf Kohlenstoff basierende Form des Lebens, die uns hier auf Erden wohlvertraut ist. In diese Kategorie fallen all die gewöhnlichen Fragen nach dem Ursprung bzw. Anfang des Lebens auf diesem Planeten ("origin-of-life", kurz: ORI). Die zweite Kategorie, die viel jüngeren Datums ist, ist weniger auf den Beginn des Lebens gerichtet als auf eine noch tiefer gehende Frage, die mit dem Titel von Erwin Schrödingers Buch "Was ist Leben?" Berühmtheit erlangte. In dieser Kategorie findet man neuere Arbeiten zum Thema künstliches Leben (Artificial Life, kurz: AL), in denen versucht wird, Schrödingers Frage durch die Konstruktion des Lebens zu beantworten, wobei von Informationsschemata, die nun aus Silizium und Strom und nicht mehr aus Kohlenstoff und Wasser bestehen, ausgegangen wird. Zu diesem Zweck werden möglicherweise auch neue Kombinationen herkömmlicher chemischer Stoffe aufgebaut, aus denen sich das Leben auf Erden zusammensetzt. Schließlich kommt man in enge Berührung mit Leben einer dritten Art: außerirdische Lebensformen (ET). In dieser dritten Kategorie finden sich all die Rätsel über das mögliche Wesen von Lebensformen, die unter Umweltbedingungen entstanden sind, welche radikal (oder vielleicht gar ununterscheidbar) von denen auf Erden abweichen. Oberflächlich betrachtet scheinen diese Kategorien grundverschieden zu sein. Zumindest ist dies der Eindruck, den man bei der Lektüre der einschlägigen Forschungsliteratur gewinnt. Anläßlich des Ars Electronica Symposiums über künstliches Leben werde ich nun argumentieren, daß diese Kategorien nicht untrennbar miteinander verbunden sind und daß eine eher funktionsorientierte Sicht des Lebens eine Möglichkeit zum fruchtbaren Gedankenaustausch unter den einzelnen Forschungsgruppen zu den jeweiligen Kategorien eröffnet. Das erste, was jeder Journalist lernt, ist, daß eine gute Story Antworten auf die folgenden Fragen liefert: Wer? Was? Wann? Wo? Warum? Wie? Wenn man dieses zeiterprobte Prinzip auf die Geschichte des Lebens anwendet, läßt sich leicht erkennen, daß diese Fragen wie folgt den Kategorien I–III zugeordnet werden können:
  • Ursprung des Lebens: WIE? Die meisten Studien über den Ursprung des Lebens befassen sich mit Fragen, die mit WIE? beginnen. Bisweilen gesellt sich ein WO? dazu, wie etwa in den verschiedenen Theorien, die einen außerirdischen Ursprung des Lebens postulieren. Doch im großen und ganzen beschränken sich sich solche Studien auf die Konstruktion verschiedener Szenarien, wie das Leben vor etwa 4 Milliarden Jahren auf Erden begann. Dieses Thema ist natürlich eng mit der sogenannten "Ursprungsfrage" verbunden, wo gefragt wird, welche Merkmale moderner Lebensformen erhalten blieben, wenn wir in der Lage wären, "das Band zurückzuspulen" und den Vorgang von Anfang an zu wiederholen. Wir werden später zu dieser Frage zurückkehren.


  • Künstliches Leben: WAS?: die Schlüsselfrage, um die sich die meisten Studien zum künstlichen Leben drehen, ist Schrödingers berühmte Frage: "Was ist Leben?" Genauer gefragt: läßt sich in einer Maschine ein echtes Lebewesen durch ein entsprechend aufgebautes Informationsschema darstellen? Der entscheidende Begriff ist hier WAS?


  • Außeridisches Lebens: WER? WO? WANN? – "Wo sind sie?" Dies ist Enrico Fermis berühmte Entgegnung auf die Behauptung, daß das Universum voller außerirdischer Wesen sein müßte. Studien im letzten halben Jahrhundert richteten ihr Augenmerk in erster Linie auf die Fragen, wo bzw. wonach man schauen muß und wann wir etwas (jemanden?) finden werden.
Der auffallendste Aspekt dieser Auflistung journalistischer Fragen ist das recht seltsame Fehlen von jeglichem "Warum". War im 20. Jahrhundert Schrödingers Frage richtungsweisend für Betrachtungen des Lebens, so möchte ich voraussagen, daß im 21. Jahrhundert Betrachtungen des Lebens von der Frage "Warum Leben?" bestimmt werden. Ich werde dies auf den nächsten paar Seiten zu begründen versuchen.
2. VON NEWTON ZU ARISTOTELES
Das Hauptziel von mathematischen und sonstigen Modellen ist die Beantwortung der Frage "Warum?". Dem Physiker Newton zufolge besteht das entsprechende "Weil" in örtlichen Wechselwirkungen zwischen stofflichen Teilchen und unerklärlichen Kräften. Der Biologe Aristoteles hingegen hatte eine ziemlich andere Art "Weil" zu vertreten. Aus der Sicht Aristoteles läßt sich das "Warum" von Dingen in Form von drei Grundentitäten ausdrücken: (i) Die materielle Substanz, aus der sich physikalische Objekte zusammensetzen, (ii) die abstrakten oder geometrischen Formen, die Objekte annehmen können und (iii) die Prozesse der Veränderung, durch welche entweder die Substanz oder die Form sich verwandeln kann. Das aristotelische "Weil" ergibt folglich vier unzusammenhängende und ungleichartige kausale Kategorien, die zusammen eine vollständige Antwort auf die Frage "warum" die Welt so ist, wie sie ist, liefert. Diese kausalen Kategorien sind:
  • Materialursache: die Dinge sind aufgrund des Stoffes, aus dem sie zusammengesetzt sind, so wie sie sind.


  • Wirkursache: die Dinge sind aufgrund der Energie, die verbraucht wurde, um sie zu dem zu machen, was sie sind, so wie sie sind.


  • Formursache: die Dinge sind aufgrund des Plans, nach dem sie aufgebaut wurden, so wie sie sind.


  • Finalursache: die Dinge wurden aufgrund jemandes Wunsches oder Willens, daß sie ihren gegenwärtigen Zustand annehmen, so geschaffen, wie sind.
Man bemerke, daß im obigen Schema der Dinge die Materialursache der Substanz entspricht und die Wirkursache zu den Prozessen, in denen Substanz verändert wird, in Beziehung steht. Auf ähnliche Weise erklärt die Formursache die abstrakte oder geometrische Form einer Entität, während die Finalursache beschreibt, wie Form verändert wird. Dieses Schema erklärt, warum es vier Grundursachen im Aristotelischen Weltbild gibt und nicht drei oder fünf oder 3,469.

In der Erkenntnistheorie von Aristoteles läßt sich alles unter Berufung auf die vier Grundursachen erklären, wobei jede Ursache einen anderen Grundaspekt des jeweiligen Systems beleuchtet. Wir können diese ungleichwertigen kausalen Kategorien auch so deuten, daß wir jede Kategorie als eine Manipulation von "etwas" betrachten, wie in Tabelle 1 dargestellt wird.

Tabelle 1: aristotelische kausale Kategorien und Manipulationen:


URSACHEMANIPULIERTES
Materialursache
Wirkursache
Formursache
Finalursache
physikalischer Stoff
Energie
Information
Wunsch, Wille


Interessanterweise thematisieren sowohl das Newtonsche als auch das aristotelische Erklärungsmodell genau dasselbe, nämlich eine materiale Substanz und den Prozeß, durch den sich diese Substanz verändern kann. Im aristotelischen Bild ist jedoch die Substanz nicht ausreichend. Man braucht auch die Vorstellung von Form und eine Art Dynamik, mittels derer eine Form in eine andere verwandelt werden kann. Letztere Vorstellung fehlt gänzlich im Newtonschen Bild. Um dies teilweise wiedergutzumachen, bietet das Modell Newtons das mathematische Instrumentarium, mit dem man sowohl die Teilchen (Materialursache) als auch die Kräfte (Wirkursache) erfassen kann, die den Kern von Newtons paradigmatischem Modell darstellen. Das aristotelische Modell bietet keine mathematischen Werkzeuge – lediglich eine verbale Beschreibung von Ursache. Es ist aufschlußreich, diese Dichotomie etwas eingehender zu betrachten, um ein Gefühl dafür zu bekommen, was erforderlich ist, um den Newtonschen Formalismus zu erweitem, damit in diesem Rahmen auch die aristotelischen Ursachen untergebracht werden können.

Newtons zweites Gesetz wird meistens als x(t) = F(t), x(0) = x. Differentialgleichung formuliert, wobei x(t) den Zustand des Teilchensystems zu einem Zeitpunkt t, die Größe F die unerklärten externen Kräfte und x(0) den Anfangszustand des Systems darstellt. Für unsere Zwecke ist es sinnvoller, diese Beziehung in Integralform als x(t) =x0 + ∫t0 F (s)ds auszudrücken, wobei F(s) = ∫s0, F(r)dr.

Wir können nun fragen: Warum ist das System zum Zeitpunkt t im Zustand x(t)? Newton kann nur zwei Antworten dafür liefern.
1) Das System ist im Zustand x(t) zum Zeitpunkt t, da es im Zustand x0 zum Zeitpunkt t=0 (Materialursache) war;
2) Das System ist zum Zeitpunkt t im Zustand x(t), da der Operator ∫A0, (…) den Anfangszustand in den Zustand zum Zeitpunkt t (Wirkursache) verwandelte.

Der Newtonsche Rahmen hat daher weder die Notwendigkeit noch den Platz, um noch die aristotelischen Kategorien Formursache und Finalursache unterzubringen. Manche – auch ich – würden behaupten, daß diese Tatsache mehr als alles sonst für die Verbannung der Formursache und vor allem der Finalursache aus dem etablierten Wissenschaftsdiskurs für so gut wie drei Jahrhunderte lang verantwortlich ist. Sie passen ganz einfach nicht in den klassischen Newtonschen Rahmen.

In Wirklichkeit kamen auch die hartgesottensten Newtonianer zur Einsicht, wenn auch implizit, daß man der klassischen Struktur die fehlenden kausalen Kategorien irgendwie aufpfropfen müßte. In Teilchensystemen wird die Rolle der formalen Ursache meist verschiedenen Parametern zugeschrieben, die wichtige Konstanten in der Situation angeben. So dienen Dinge wie Teilchenmassen, Gravitationskonstanten, Stromladungen usw. dazu, den "Plan" des Systems zu beschreiben. Mit Hilfe der Bestimmung solcher Parameter und ihrer Einbindung in den mathematischen Rahmen schlich die Formursache durch die Hintertür in das Newtonsche Schema der Dinge ein. Doch wie steht es mit der Finalursache? Wie geht Newton mit der Vorstellung von Wunsch oder Willen um? Die Antwort lautet ganz einfach, daß er es nicht tut.

Wenn wir Aristoteles Abhandlung über kausale Kategorien lesen, fällt auf, daß er dem Begriff der Finalursache große Bedeutung beimißt. In der Tat scheint es, als wäre die Finalursache für Aristoteles ein wenig angemessener als die anderen Kategorien und als hätte er den größten Respekt und die freundlichsten Worte für das, was heute (von Newtonianern) "Teleologie" genannt werden würde. Für jene Art von Problemen, die Newton betrafen, scheint es sinnvoll, Endursache aus der Betrachtung auszuklammern, da es schwierig ist, sich nichtlebende, materiale ** Teilchen vorzustellen, die irgendeine Art Wille, Wollen oder Bewußtsein haben. Folglich hatten Newton und seine Nachfolger es nicht notwendig, sich in ihren Analysen von physikalischen Vorgängen sich auf Vorstellungen, die mit Endursache assoziiert werden, wie etwa Ziele, Pläne, Wille oder gar Selbstbezug, zu berufen.

Von diesem Standpunkt aus ist es ziemlich einfach zu verstehen, warum das Instrumentarium der Mathematik für die jeweilige Aufgabe völlig ausreichend zu sein schien, auch wenn es natürlich keine Möglichkeit enthielt, die Finalursache zu erklären und mit der Formursache ziemlich ad hoc umging. Unglücklicherweise – für den Biologen, den Ökonomen und den Psychologen – brachten die Sätze von Newton bei der Beantwortung von Fragen im Bereich der Physik, der Chemie und der Technik Erfolg. Dies führte allmählich dazu, daß es als Bruch mit den guten Umgangsformen der Wissenschaft galt, wenn nicht als schlichtweg unwissenschaftlich, etwas, was selbst nur eine entfernte Ähnlichkeit mit Finalursache hatte, in den etablierten Wissenschaftsdiskurs einzuführen. Mit anderen Worten, wenn man nicht mit den Methoden, die in der Physik funktionieren, arbeiten kann, dann treibt man nicht Wissenschaft. Und mit den Methoden der Physik zu arbeiten, hieß innerhalb des Rahmens des Newtonschen Paradigmas zu bleiben.

Newtons Welt sieht Organismen nur als besondere Arten von materialen Objekten. Kurz, die Biologie ist eine Untermenge der Physik. Aristoteles' Weltanschauung argumentiert andererseits zugunsten der gegenteiligen Sicht und deutet damit an, daß die Physik der Teilchen und der Kräfte nur ein Spezialform der Biologie ist. Mit anderen Worten: die aristotelische Welt ist eine, in der der Newtonsche Rahmen nur ein Sonderfall eines breiteren, für die Beschreibung des Lebens geeigneten Paradigmas ist. Das Problem, das sich Aristoteles stellte, war, daß ihm kein mathematischer Formalismus zur Verfügung stand, mittels dessen er seine kausale Theorie hätte beschreiben können. Die mathematische Modellbildung hat sich aber in den zweitausend Jahren seit Aristoteles beträchtlich entwickelt. Und eines der Ergebnisse war die Entwicklung eines formalen Rahmens, der dazu beiträgt, einige Fragen von ORI, AL und ET auf eine gemeinsame Grundlage zu stellen. Dieser Rahmen wird als "Metabolismus-Regenerationssystem" (Metabolism-Repair SYSTEM M,R) bezeichnet, dessen Details in den Arbeiten (1), (2), (3), (4), (5), (6) beschrieben werden. Da diese Ergebnisse etwas zu kompliziert sind, um hier eingehend behandelt zu werden, werde ich mich hier auf die Feststellung beschränken, daß dieses System die abstrakte Form einer lebenden Zelle darstellt. Im folgenden werde ich zeigen, wie die Kombination aus aristotelischer Ursache und dem (M, R) Schema dazu beitragen kann, einige der Schlüsselfragen in ORI, AL und ET zu beleuchten.
3. DIE HENNE ODER DAS EI?
Fast alle konkurrierenden Theorien über den Ursprung des Lebens haben mit einem Szenario zu tun, in welchem das erste Lebewesen entweder mit einem Stoffwechselsystem ausgestattet war und später die Fähigkeit zur Replikation entwickelte, oder ein Replikator, der Stoffwechselfunktionen annahm. Von daher auch die Frage: Was kam zuerst? Die Henne oder das Ei?

Während der gegenwärtige Trend im Bereich der Forschung zum Ursprung des Lebens in Richtung zuerst der Replikator zu gehen scheint, mit einer Evolution des Lebens aus selbstkatalysierender RNA, legt das (M, R)-Modell die Vermutung nahe, daß die Dinge anders liegen. Auf rein logischer Grundlage – unabhängig von physikalischen Substraten wie Nukleotidbasen, Aminosäureketten und dem anderen Drumherum des irdischen Lebens –, läßt sich sehr schwer erkennen, wie es ausgehend von einem abstrakten Replikator möglich ist, daß Stoffwechseltätigkeit aus der Replikation hervorgehen kann. Es scheint keinen direkten Weg zu geben, auf der Grundlage des Replikationsprozesses "natürliche" mathematische Operationen auf Systeme und Pläne zu aufzuwenden, um dadurch ein mit Stoffwechselfunktionen ausgestattetes Lebewesen zu schaffen. Ein Teil der Schwierigkeit liegt in der Tatsache begründet, daß die Regenerationskomponente der Zelle als Vermittler zwischen Replikation und Stoffwechsel fungiert und es weitaus leichter ist, zu erkennen, wie diese Operation aus etwas und nicht aus nichts entstand. Da Replikation nichts Neues produziert und nur etwas kopiert, gibt es einfach nicht genug Rohstoff für die Bewältigung der Aufgabe. Wenn man vom (M, R) Modell überzeugt ist, dann wird man auch glauben, daß die Zeit für Theorien reif ist, in denen der Ursprung des Lebens zuerst aus dem Stoffwechsel erklärt wird.

Nun zurück zu Aristoteles und seinen Ursachen: die eigentliche Frage nach dem Ursprung des Lebens scheint eine Erklärung des Lebens auf Erden mit Hilfe der Materialursache zu verlangen. Das unterscheidende Merkmal, das die konkurrierenden Theorien trennt – selbst-replizierende RNA, Hyperzyklen, Lehm, Eisen – ist die Art materieller Substanz, aus der sie behaupten, daß sich der erste Organismus zusammensetzte. Doch das (M, R)-Modell beruht auf Form- und Finalursache, nicht auf Material- und Wirkursache. Insbesonders das Denken in alternativen Kausal-Kategorien ermöglicht uns, den schwer faßbaren Begriff der Finalursache festzulegen. Es handelt sich einfach um die Funktion der Zelle oder – biologisch ausgedrückt – ihren zweckgerichteten Metabolismus. Betrachten wir nun, wie diese Begriffe in der oben erwähnten Frage des Ursprungs des Lebens zum Tragen kommen.
4. LEBEN NACH PLAN
Einer der Eckpfeiler wissenschaftlicher Methode ist die Vorstellung eines wiederholbaren Experiments: die Ergebnisse, die ein Forscher in einem Labor erhält, sollen von anderen, unter ähnlichen Bedingungen arbeitenden Forschern wiederholt werden können. Diese Vorstellung der Wiederholbarkeit ist ein zentraler Bestandteil der Bekräftigung von wissenschaftlichen Behauptungen und der Begründung der konventionellen Weisheiten unserer Zeit über das, was die Natur tut und nicht tut. Es ist klar, daß die Forderung nach Wiederholbarkeit den Forscher vor riesige Schwierigkeiten stellt, in Fragen, die mit dem Ursprung des Lebens, Kosmologie, Evolution, zu tun haben, und in jedem Bereich, in dem es eine einzige Gruppe von Beobachtungen gibt und das System nicht auf einen Anfang zurückgeführt werden kann, um von neuem wieder zu beginnen. Dies ist das sogenannte "Ursprungsproblem". Die Frage ist freilich, was unternommen werden kann, um es zu überwinden.

In Arbeiten über den Ursprung des Lebens stellt die folgende Frage eine Angriffsfläche dar: Angenommen, man könnte das Band zurückspulen und das System von neuem anfangen lassen. Gibt es Eigenschaften existierender Lebensformen, die wir wieder in der neuen Welt von "Erde-II" zu sehen erwarten könnten? Mit anderen Worten, gibt es bestimmte Merkmale von Organismen, die "universell" sind, und kann man erwarten, daß es sie überall, wo es Leben gibt? Oder ist unsere Lebensform in jeder Hinsicht besonders? Vor kurzem haben Fontana und Leo Buss diese Frage mit den Mitteln der mathematischen Logik und der Evolutionstheorie betrachtet. (11) Sie gelangen zu der Schlußfolgerung, daß es tatsächlich solche universelle Eigenschaften gibt, Dinge wie etwa selbsterhaltende Organisationen (Selbstregeneration), Entitäten, die ihre eigene Replikation und die hierarchische Organisation von lebenden Entitäten katalysieren. In einem ganz bestimmten Sinne haben diese Ergebnisse mit dem zu tun, was wir die Logik des Lebens nennen. Im Aristotelischen Schema der Dinge haben sie mit formaler Ursache zu tun. Doch wie steht es um die künstlichen Lebensformen, die aus den herkömmlichen Stoffen – Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff, usw. – des täglichen Lebens erzeugt werden?

Es ist heute schwierig, die Wissenschaftsseite einer Zeitung zu lesen, ohne daß man auf eine Geschichte von irgendwelchen Wundertaten im Bereich der Molekularbiologie stößt, wie etwa die Entwicklung neuer genetischen Codes, um Krankheiten zu heilen, den Ernteertrag zu steigern oder Schädlinge zu vernichten. Was hier natürlich passiert, ist, daß Gentechniker RNA/DNA-Stränge schaffen, die es in einem natürlichen Organismus noch nie gab. Betrachten wir nur ein Beispiel.

1992 gelang es Gerald Joyce und Amber Beaudry, zwei Forschern am Scripps Institute in Kalifornien, ein biologisches Molekül dazu zu bringen, sich in einem Zeitraum von wenigen Wochen künstlich zu entwickeln, was früher Jahrtausende erfordert hätte. (12)

Ausgehend von einer Population von Billiarden von molekularen Varianten einer RNA-Kette, entwickelten Joyce und Beaudry ein RNA-Enzym, das DNA-Ketten 100 Mal effizienter durchtrennen konnte als das Ausgangsmolekül. Kurzum gelang diesen Forschern das, was man vielleicht Evolution durch "unnatürliche Auslese" nennen könnte. Frühere Arbeiten hatten gezeigt, wie zwei von drei Komponenten, die für die Darwinsche Evolution nötig sind – Auslese und Verstärkung – nachgeahmt werden können. Doch das entscheidende Element, das im Scripps Experiment hinzukam, war die Möglichkeit, Moleküle beliebig zu mutieren. In unserer Aristotelischen Aufteilung können wir also die Arbeit von Joyce und Beaudry unter Berufung auf die Materialursache erklären – ohne allerdings, daß dies jemals an einem natürlichen Organismus wirklich beobachtet wurde.

Bevor wir die allzu kurze Abhandlung über das zweckgerichtete Leben abschließen, möchte ich noch auf die recht umfangreiche Arbeit hinweisen, die in der allgemeinen Rubrik "Roboterwissenschaft" geleistet wird. Wie fast jeder, der den Film "Krieg der Sterne" gesehen hat, weiß, sind Roboter eine andere Art und Weise, das Leben zu untersuchen, indem Gegenstände entworfen werden, die die verhaltensmäßigen und kognitiven Merkmale natürlicher Organismen – einschließlich der Menschen – erfassen! Wechseln wir nun den Schauplatz vom echten Leben zum echten künstlichen, Leben.
5. LEBEN IN SILICO
Im Sommer 1991 entwickelte Tom Ray, ein Pflanzenbiologe in Delaware ein Computerprogramm, das reproduziert, spontane genetische Veränderungen durchmacht, diese an die Nachkommen weitergibt und neue Arten hervorbringt, deren Interaktionen jene der echten biologischen Evolution und Ökologie nachahmen – all dies ohne menschliches Zutun oder Intervention. (9) Die Bedeutung von Rays Programm lag darin, daß es das erste war, das die Gültigkeit der Darwinschen Theorie demonstrierte. Und genau darauf haben es die Befürworter des künstlichen Lebens abgesehen: der Nachweis, daß die logische Struktur des Lebens von der Materialursache völlig unabhängig ist. Ob dies stimmt oder nicht, es ist nicht nur in Zusammenhang mit Fragen nach dem Ursprungs des Lebens, sondern auch im künstlichen Leben von Nutzen, in anderen Kausalkategorien zu denken. So geht aus der Darwinschen Theorie implizit hervor, daß die Umwelt, in welcher ein Organismus sich entwickelt, die physikalische Form und Funktion des Organismus stark beeinflussen wird. Dies erklärt auf der Grundlage der Materialursache, warum die große Mehrheit der Lebewesen auf Erden wie Zylinder mit Anhängseln geformt sind. Doch angenommen, wir verfügten über so etwas wie Rays elektronische Organismen, die sich innerhalb der bequemen Grenzen der Speicher eines Computers entwickeln. Im Sinne der Materialursache könnten wir nun fragen: Welche Form hat eine solche elektronische "Wanze"? (Anm.d.Übers.: "bug" hat im Englischen zwei Bedeutungen, auf die hier vermutlich angespielt wird: 1) Wanze, 2) technische Störung). Und was würde ein solcher Organismus sehen, wenn er seine "Umwelt" betrachtet? Und auf welche Weise müßte sich dieses Lebewesen einer solchen Umwelt anpassen? Und so weiter und sofort. Entscheidend ist hier, daß wir dazu verleitet werden, eine Reihe von Fragen zu stellen, die anders als jene sind, die einem im ursprünglichen Kontext der Formursache spontan einfallen.

In einer anderen Richtung könnten wir auf die Arbeiten des holländischen Biologen Aristid Lindenmayer über künstliche Pflanzen hinweisen. Mit Hilfe einer geringen Anzahl einfacher Regeln, die sich auf Verästelungen, Blätterarten und ähnliches beziehen, schufen Lindenmayer und seine Kollegen eine erstaunliche Vielfalt von pflanzenähnlichen Objekten, die eine auffallende Ähnlichkeit mit Blumen und Bäumen, wie man sie in der Natur auf Erde findet, haben (10). Es versteht sich aber von selbst, daß diese "elektronischen Pflanzen" bisher weder in einem Garten noch auf der Speisekarte eines Haute cuisine-Restaurants zu sehen waren. Sie sind der Inbegriff dessen, was wir künstliche Pflanzen nennen.

Bevor wir die Sache mit dem Leben in Silizium abschließen, möchte ich hinzufügen, daß es möglich ist, eine elektronische Ökologie, wie jene, die in Rays Computer erzeugt wurde, zu konstruieren, indem man eine Ansammlung abstrakter Zellen, die jener des (M,R)-Systems ähneln, nimmt und diese in ein Netzwerk einbindet. Einige Vorschläge, wie dies zu machen wäre, findet man in Veröffentlichungen (1), (6). Ein Ergebnis einer solchen Übung ist, daß es schlichtweg unmöglich ist. Mit anderen Worten, es können sich nicht alle genetischen Linien unendlich fortsetzen. Diese Erklärung beruht auf der Formursache. Es ist eine sinnvolle Annahme, daß wir zusätzliches Licht auf dieses Phänomen werfen könnten, wenn wir es vom Standpunkt der Materialursache betrachten. Doch dies ist eine Aufgabe der künftigen Forschung. Für eine weit ausführlichere Diskussion dieses Punktes möge der Leser in der "Bibel" des künstlichen Lebens (8) nachlesen.
6. WER IST DA?
Vom Standpunkt des physischen Lebens ist die zentralste Frage im Zusammenhang mit der Existenz von ET (außerirdischen Lebewesen) folgende: Wie sehen "sie" aus? Mit anderen Worten, welche Art von physikalisch-chemischer Struktur werden solche Wesen haben? Dies ist natürlich grundsätzlich eine Frage von Material- und Wirkursache. Und um ein Spektrum möglicher Antworten zu erhalten, kann man kaum besseres tun, als die auf "harten Tatsachen" beruhende Science-Fiction-Literatur studieren.

Das unter Abbildung 1 gezeigte Lebewesen ist eine künstlerische Darstellung eines "Cygnan", einer Rasse von fremden Wesen, die die Erde in Donald Moffitts klassischem Science fiction-Roman "The Jupiter Theft" bedrohen. Der "Cygnan" stammt von einer Rasse von Wesen ab, die auf dem Satelliten eines riesigen Gasplaneten lebt, der um ein binäres Sternensystern kreist. Es ist etwa 11/2 Meter groß und mit sechs Gliedern ausgestattet, die entweder als Arme oder Beine verwendet werden können, und einem langen, dreigeteilten Schwanz, der sich faltet, um die Geschlechtsorgane zu verbergen, ausgestattet. Der schmale, röhrenförmige Körper umgibt ein Knorpelskelett, mit dem Gehirn zwischen dem oberen Gliederpaar am oberen Teil des Rückgrats. Die drei Augen befinden sich auf Stengeln, die ein gleichseitiges Dreieck um einen breiten, flexiblen Mund bilden. Der "Cygnan" hat einen harte, rauhe Platte im Mund und eine stachelige, röhrenförmige Zunge. Er hat ein gut integriertes Nervensystem, dessen synaptische Reflexe weitaus schneller sind als die des Menschen. Die Sprache des "Cygnan" ist musikalisch und besteht aus Tönen, die von mehreren Kehlköpfen gebildet werden und vom absoluten Gehör abhängen. Die Sprache ist unglaublich reich und vielfältig, mit mehr als einer Million Phonemen, wobei jedes Wort aus einigen Phonemen gebildet wird.

Hier haben wir also ein gut ausgearbeitetes Beispiel eines außerirdischen Lebewesens, das sich in fast jeder wichtigen Hinsicht von irdischen Organismen unterscheidet (für die Menschen in Moffitts Geschichte ein unglücklicher Umstand). Doch wenn wir die Formursache betrachten, bietet die Literatur der Science Fiction noch seltsamere Möglichkeiten.

Abbildung 2 zeigt den "Cryer", ein Lebewesen aus Joseph Greens Buch "Conscience Interplanetary". Der "Cryer" ist eine selbständig funktionierende Einheit einer planetenweit verbreiteten, auf Silizium beruhenden Pflanzenintelligenz, die den Planeten Crystal bevölkert, dessen Atmosphäre zu 18% aus Sauerstoff und zum restlichen Teil aus Stickstoff und Wasserstoff besteht. Das Leben auf Crystal basiert auf Silizium und einem hohen Anteil metallischer Elemente.

Der "Cryer" ähnelt einem zwei Meter hohen Busch aus Kristall und Metall und Zweigen mit kleinen, scharfen Glasblättern. Der Stamm enthält Speichereinheiten aus Silizium, die von einer Niedervolt-Solarspeicherbatterie angetrieben werden und über feine Silberdrähte verbunden sind. In etwa sechs Zoll Höhe befindet sich auf dem Stamm des "Cryer" eine organische Luftvibrations-Membran, die es ihm möglich macht, mit Menschen zu sprechen. Es ist ein breites, untertassenförmiges Blatt, das mit gedehnten Drähten fixiert ist, um ein vibrierendes Diaphragma zu schaffen. Ein magnetisches Feld in Spulen aus Silberdraht auf beiden Seiten des Lautsprechers bewirkt, daß die Membrane vibriert und Laute erzeugt werden.

Die planetenweite Intelligenz besteht aus Tausenden kleinerer Einheiten wie dem"Cryer", die über ein unterirdisches Nervensystem aus feinem Silberdraht miteinander verbunden sind. Jede Einheit hat eine spezifische Funktion, einige speichern die von der Sonne produzierte Elektrizität, während andere Silber für den Bau des Nervensystems gewinnen, Speicherplatz bereitstellen und als Sensoreinheiten fungieren. Die Gesamtintelligenz ist in der Lage, Temperatur, Bewegung, Stellung, Strompotential und Vibrationen rnit Hilfe von an den Gliederenden angebrachten Einheiten wahrzunehmen.

"Cygnane" und "Cryers" sind natürlich nur Gedankenexperimente. Von diesen sind noch viele mehr in einem fantasievollen Band (7) angeführt. Durch die Betrachtung von einem fast unendlichen Spektrum von möglichen Lebensformen und die Untersuchung außerirdischer Lebewesen unter Berücksichtigung aller vier Aristotelischen kausalen Perspektiven können wir hoffen, daß wir ein Gefühl dafür bekommen, was eines Tages in unseren Funkteleskopen oder in unserem Garten auftauchen könnte. Und wie die Arbeit (1) aufzeigt, bilden die Regenerationssysteme für den Stoffwechsel das, was in der Mathematik eine "Kategorie" von Objekten genannt wird. Jedes Einzelglied dieser Kategorie entspricht einer anderen Biologie, wodurch sich die Möglichkeit eröffnet, Exobiologien durch die Betrachtung der mathematischen Strukturen und der von den verschiedenen Objekten in der Kategorie auferlegten Zwänge zu untersuchen.
7. DAS IST DAS LEBEN!
In diesem Aufsatz wurde behauptet, daß es nicht ausreicht, nur die materialen Aspekte von Lebewesen zu betrachten, um den Unterschied zwischen dem Lebenden und dem Leblosen zu erfassen. Wenn man eine weniger nach Newton als nach Aristoteles ausgerichtete Sicht des Problems annimmt, wird man dazu verleitet, Erklärungen des Lebens auf der Grundlage anderer kausalen Kategorien außer der materialen im gleichem Maße zu berücksichtigen. Es wurde hier vor allem gezeigt, daß viel zu gewinnen (und nichts – außer Vorurteile – zu verlieren ist), wenn man andere Lebensformen außer denen, denen wir hier auf Planet 3 oft begegnen, betrachten. Daraus ist insgesamt zu schließen, daß signifikante Synergien zwischen dem Leben auf Erde, künstlichem Leben in Maschinen und außerirdischem Leben "da draußen" bestehen. Weiters werden Forscher in jedem Bereich davon profitieren, wenn sie die Arbeit jener in anderen Kategorien berücksichtigen. Um eine berühmte Bemerkung über Krieg und Generäle zu paraphrasieren: das Leben ist einfach zu wichtig, um es den Biologen zu überlassen.


(1)
Rosen, R., "Some Relational Cell Models: The Metabolism-Repair Systems," in Foundations of Mathematical Biology, Bd. 2, Academic Press, New York, 1972. zurück

(2)
Rosen, R., Anticipatory Systems, Pergamon, Oxford, 1985. zurück

(3)
Rosen, R., Life Itself, Columbia University Press, New York, 1991. zurück

(4)
Casti, J., "Linear Metabolism-Repair Systems," Int'IJ. GenSys 14 (1988), 143–167. zurück

(5)
Casti, J., "The Theory of Metabolism-Repair Systems," Applied Math& Comp 28 (1988), 113–154. zurück

(6)
Casti, J., "Newton, Aristotle, and the Modeling of Living Systems," in Newton to Aristotle, J. Casti und A. Karlqvist, (Hrsg.) Birkhauser, New York, 1989, S.47–89. zurück

(7)
Jonas, D. und D. Jonas, Other Senses, Other Worlds, Stein and Day, New York, 1976. zurück

(8)
Artificial Life, C. Langton, Hrsg. Addison-Wesley, Redwood City, CA, 1989. zurück

(9)
Ray, T., "An Approach to the Synthesis of Life", in Artificial Life-II, C.Langton, et al, Hrsg. Addison-Wesley, Redwood City, CA, 1992, S–371–408. zurück

(10)
Prusinkiewicz, P. und A. Lindenmayer, The Algorithmic Beauty of Plants, Springer, New York, 1990. zurück

(11)
Fontana, W. und L. Buss, "What Would be Conserved if the Tape Were Played Twice?", vorgelegt bei Proc. NAt. Acad. Sci. USA, Mdrz 1993. zurück

(12)
Coghlan, A., "Survival of the Fittest Molecules," New Scientist, Oktober 3, 1992, S. 37–40. zurück