www.aec.at  
Ars Electronica 1993
Festival-Programm 1993
Back to:
Festival 1979-2007
 

 

Ein Lob der Parasiten


'Florian Rötzer Florian Rötzer

"Der Parasit ist ein Erreger. Er bringt das Gleichgewicht oder die Energieverteilung des Systems zum Fluktuieren. Er dopt es. Er irritiert es. Er entzündet es. Oft hat dies Gefälle keine Wirkung. Es kann Wirkungen hervorrufen – und durch Verkettung oder Reproduktion sogar gewaltige."

Michael Serres
Offenbar tritt natürliches Leben dann auf, wenn eine gewisse Komplexität erreicht ist, die es ermöglicht, Lernprozesse als Text in einem Gedächtnis zu speichern, das diesen zudem kopieren und in Instruktionen zum Bau einer Maschine umsetzen kann. Eine der wesentlichen Eigenschaften des Lebens ist ja, unter geeigneten Randbedingungen sich nicht nur als Organismus über eine bestimmte Zeit hinweg erhalten und teilweise reparieren, sondern sich auch selbstreproduktiv fortpflanzen zu können. Beides impliziert ein Gedächtnis, das nicht nur digitale und zweidimensionale Information speichert, sondern auch die Instruktion zur Bildung des eigenen dreidimensionalen Organismus, sowie von neuen Organismen enthält. Durch Kopierfehler, durch Einflüsse von außen oder im Falle der geschlechtlichen Fortpflanzung durch die Zusammenfügung von zwei Gedächtnistexten ist überdies die Möglichkeit gegeben, daß das Gespeicherte sich verändern kann, wodurch die Überlebenschancen von Textvarianten durch "Anpassung" d.h. durch interne Umstrukturierung, steigen können.

Ob dadurch in der immer noch teleologisch geprägten Sprache der Evolutionstheorie eine Optimierung beinhaltet ist, kann man infragestellen, denn es gibt keine irgendwie geartete Möglichkeit, Kriterien der Anpassung über die banale Aussage hinaus anzugeben, daß manche Organismen überleben, also daß sie "funktionieren", mit der sich verändernden Realität fertigwerden und Nachkommen in die Welt setzen. Die Rede von der Anpassung durch den Kreislauf von Mutation und Selektion impliziert eine vorausgesetzte Realität und damit eine Art der klassischen Wahrheitsrelation der Übereinstimmung von Erkenntnis und Erkenntnisgegenstand, die wohl nicht mehr zu halten ist. Schließlich verändert das Leben selbst seine Randbedingungen, etwa wenn es im Präkambrium erst die sauerstoffhaltige Atmosphäre durch die Photosynthese aufgebaut hat, die die Grundlage des heutigen eukaryontischen Lebens ist. Auch die Kennzeichnung von Organismen als Problemlöser ist eine Metapher, die allerdings bei der Generierung von genetischen Algorithmen einen Sinn macht, weil hier das Problem und damit eine stabile = künstliche Umwelt vorgegeben ist. Eingelagert in die Prinzipien der Evolution ist vielfach auch die Idee des Fortschritts, also der allmählichen Verbesserung von Populationen durch ansteigende Komplexität, obgleich noch immer über 90% der existierenden Lebewesen in Form von Mikroorganismen existieren. Die meisten von ihnen sind für das höhere Lebewesen unschädlich oder kooperieren mit ihm sogar in einer Symbiose, doch zeigt sich bei krankheitsauslösenden Viren, daß sie ungeheuer schnell mutieren können, um das Immunsystern zu täuschen, das meist noch schneller Mutationen zur Abwehr erzeugen kann. Die ungeheure Vielfalt der Antikörper – man nimmt an, daß es 108 verschiedene gibt –, zeugt von der Vielfalt der Mikroorganismen, gegen die sie schützen sollen. Die Antikörper werden aus der Mutation von wenigen Grundstrukturen erzeugt und vervielfältigen sich dann lawinenartig in einer Variante, wenn ein Antigen von den Rezeptoren eingefangen wurde. Im Immunsystem und vermutlich auch im neuronalen Netzwerk des Menschen wird der Mechanismus der Evolution in gewissem Sinne kopiert, verstärkt und beschleunigt. Die höheren Organismen sind also nur die Spitze eines Eisberges, bevölkert von einer Vielzahl von Mikroorganismen und Parasiten, die im evolutionären Wettrüsten noch immer die Chance haben, die komplexeren Lebewesen durch eine tödliche Kommunikation zu vernichten, indem sie das Programm von dessen Zellen umfunktionieren. Jenseits der Bewertung mittels Anpassung bürgt die biologische Information jedenfalls für einen Prozeß, der innerhalb eines instabilen komplexen Systems, mit dem der die Information tragende Organismus in Wechselwirkung steht, ständig Neues entstehen und realisierte Texte sterben lassen kann, sofern die Umwelt nicht stabil ist. Unsicher freilich ist, ob die "automatische" Mutation des Genoms im Zusammenhang mit der Selektion wirklich für die Evolution so bedeutsam ist, wie die klassische Theorie es meint. So verändern sich beispielsweise Moleküle, an die nur geringe funktionelle Ansprüche gestellt werden, schneller als solche, an die höhere Anforderungen gestellt werden. Erklären läßt sich dadurch auch nicht, warum bei einigen Linien die phänotypische Veränderung schneller vor sich geht als bei anderen. Und die meisten Allele, die durch Mutation entstehen, gehen durch Zufall wieder verloren, wobei viele Mutationen zwar zur Bildung von nicht-identischen Proteinen führen, diese aber in einer großen Vielfalt in Organismen vorliegen und Unterschiede oft keine phänotypischen Wirkungen zeigen. In aller Regel scheinen Mutationen innerhalb der genetischen Drift entweder letal oder neutral zu sein, was hieße, daß Einflüsse der Umwelt oder Selbstorganisationsprozesse innerhalb des Organismus eine höhere Wirksamkeit haben könnten als viele es bisher vermuten. Meist fehlen beispielsweise Übergangsformen, Brüche und Bifurkationen scheinen ziemlich plötzlich zu geschehen. Da Organismen selbst höchst komplexe Systeme sind, die verschiedene Ebenen sich selbst organisierender Systeme integrieren, wäre auch hier anzunehmen, daß Übergänge nicht kontinuierlich sich ereignen, sondern sprunghaft. Die Einbahnstraße der Entwicklung vom Genom zum Organismus erscheint auch deswegen zweifelhaft, weil gelegentlich, wie bei Seeigeln oder Laubfröschen, die geschlechtsreifen Tiere nahezu gleich aussehen und auch dieselben Verhaltensweisen zeigen, ihr Wachstum aber sehr verschieden sein kann. So sind die Larven bei sehr nahe verwandten Seeigel gänzlich unterschiedlich, manche können frei schwimmen und Plankton essen, andere lassen sich treiben und können nur am Boden Nahrung aufnehmen. Daraus könnte man schließen, daß der Druck der Außenwelt größer ist als an Genen angelegte morphogenetische Entwicklungen. Daß im Genom der vollständige Satz der Instruktionen zur Bildung eines dreidimensionalen Organismus gegeben ist, scheint überdies nur eine Unterbietung des evolutionären Ansatzes in der Anlehnung der herkömmlichen linearen Computerarchitektur zu sein. Schon aus wahrscheinlichkeitstheoretischen Überlegungen heraus kann die im Genom gespeicherte Information nicht die Instruktion für jede Zelle und auch nicht die dreidimensionale Form eines Proteins in einer Eins-zu-Eins-Entsprechung festlegen. Vielleicht ist das Genom eher als Katalysator und Morphoregulator zur Bildung von dreidimensionalen Mustern und interagierenden chemischen Prozessen zu verstehen, während etwa die Lokalisierung einer Zelle und ihre Aktivität aus der Lage und Aktivität von lokalen Zellkollektiven, d.h. aufgrund einer Oberflächenkommunikation zwischen benachbarten Molekülen und Zellen, bestimmt wird. Der genetische Code gäbe dann nur Richtung und Grenzen für eine Entwicklung, die selbst wiederum Vielheit und Variabilität innerhalb des Organismus mittels des evolutionären Mechanismus hervorbringt und eine Abgleichung der unabhängig voneinander evolvierenden verschiedenen Zelltypen ermöglicht. Akzeptiert man eine solche Vorstellung, so wäre die mechanistische Intention, als der vollständigen Kartierung des Genoms und seiner Protein-, Steuer- und Strukturcodes die morphogenetische Entfaltung des Phänotyps ableiten und dann gezielt differenziert auch beeinflussen zu können, ein Phantasma. Schon bei nicht-linearen Algorithmen ist aus dem Programm das künftige Verhalten eines Computers, in dem Hard- und Software anders denn bei biologischen Systemen getrennt sind, nicht mehr vorhersagbar. Wenn die Beziehungen zwischen Geno- und Phänotyp nicht-linear sind und stark auf der Wechselwirkung zwischen Teilen beruhen, die nicht durch eine Zentrale Rechen- und Organisationseinheit gesteuert werden, dann läßt sich allein aus dem genetischen Programm weder der dreidimensionale Organismus noch dessen Verhalten vorhersagen.

Die Definition des Lebens – Fähigkeit von offenen metabolischen Systemen zur Selbstreproduktivität, zur Vermehrung, Variation und Vererbung – ist bekannt und auch der Umstand, daß der Übergang ins Unbelebte nicht scharf markiert, sondern fließend ist. Selbstreproduktiv und mutierend können auch Kristalle sein. Auf diese Fähigkeit hat der Chemiker Graham Cairns-Smith seine bekannte und faszinierende Hypothese zur Entstehung des Lebens durch Machtübernahme aufgebaut. Da DNA- oder RNA-Moleküle recht kompliziert sind, geht er davon aus, daß zunächst ein anderer Replikator dagewesen sei, nämlich einfache, aber sich selbst verdoppelnde anorganische Kristalle, wie man sie im Lehm findet. Sobald sich der Kern eines Kristalls spontan herausgebildet hat oder ein entsprechender "Same" in eine übersättigte Lösung fällt kann er wachsen und eine feste, geordnete Gestalt werden. Hin und wieder bricht er auseinander und die Teile wachsen ebenfalls weiter. Weil beim Wachstum von den sehr regelmäßigen Kristallstrukturen aber auch chemische oder mechanische Fehler auftreten können, die sich im weiteren Wachstum replizieren, besitzt er auch einen Mechanismus der Mutation, wobei die Wachstumsvarianten beispielsweise durch das Auseinanderbrechen an die "Kinder" vererbt werden. Manche Kristalle können schneller wachsen und sich ausbreiten, so daß hier bereits eine Vorform der Evolution auftritt, in der Information hervorgebracht und neue Generationen weitergegeben wird. Irgendwann begannen die wachsenden und sich vermehrenden Kristalle organische Verbindungen zu produzieren, die ihnen zum Überleben verhalfen. Cairns-Smith vermutet, daß diese organischen Formen, die bislang eher Werkzeuge waren sich plötzlich, nach dem Auftritt einer ersten selbstreduplizierenden einfachen RNA, schneller vermehrt haben könnten als die Kristalle und so langsam aus dem Status von Parasiten, die auf eine Wirtszelle angewiesen sind, zu autonomen Wesen wurden, welche das kristalline Leben allmählich ausgebootet haben.

Übernahme heißt daher; daß ein Teil einer sich selbst organisierenden Struktur sich verselbständigt und seine Vorform verdrängt. Wenn diese Hypothese stimmen sollte, dann könnte aus der Kristallbildung weiterhin neues Leben entstehen, was wir vielleicht nur noch nicht beobachtet haben, vielleicht haben sich aber auch durch die Entstehung des auf DNA und RNA basierenden Lebens die Randbedingungen verschoben. Pikant ist diese Hypothese der Übernahme auch dadurch, daß mit den wiederum auf Silizium basierenden Computern möglicherweise sich eine erneute Machtübernahme vollzieht, so daß das biologische Leben nur ein Zwischenspiel des auf Silizium aufbauenden Lebens wäre. Schließlich beginnt im Augenblick bereits sogenanntes Künstliches Leben etwa in Form von zellulären Automaten oder von Computerviren zu wachsen.

Auch der von Manfred Eigen entwickelte molekulardarwinistische Ansatz geht von der These aus, daß Selektionsmechanismen bereits im unbelebten Bereich der Materie wirksam sind, so daß das Leben aus der Selbstorganisation von Makromolekülen hervorgeht, die durch den Eintritt in Hyperzyklen generiert werden. Das ist jenseits jeder wissenschaftlichen Erklärung der Lebensentstehung schon deswegen spannend, weil hier deutlich wird, daß Selbstorganisation dann eintritt, wenn sich unter bestimmten Bedingungen verschiedene Prozesse gegenseitig aufschaukeln und sich in gewissem Sinne gegenseitig "benützen", woraus Neues in den Grenzen der wechselwirkenden Kräfte emergieren kann. Das Neue wiederum benutzt oder "versklavt", sofern es die lebendige Fähigkeit der Speicherung und Instruktion besitzt, die Agenten und integriert sie beispielsweise wie eine Zelle die Mitochondrien, wie ein Virus die Zelle, wie ein vielzelliger Organismus die verschiedenen Zelltypen oder wie ein Organ die Parasiten, was immer auch heißt, daß unter bestimmten Umständen die angeeigneten Agenten, fremde Organismen oder überhaupt Kräfte aus der Umwelt das Verhältnis umdrehen können. Der Uhrmacher wäre also noch blinder, als es die genetische Evolutionstheorie uns suggeriert. Und der kreative Zufall innerhalb der Evolution wäre, abgesehen von Veränderungen der Umwelt relativ zum Organismus, nicht wesentlich bestimmt durch zufällige Genmutation; sondern ergibt sich aus den nicht im Detail vorhersehbaren Wechselwirkungen zwischen Populationen (Molekülen, Zellen, Viren, Bakterien etc.) unter- und miteinander.

Voraussetzung der Evolution ist eine gegebene Vielfalt von verschiedenen, jedenfalls nicht identischen selbstreproduzierenden komplexen Systemen, weil erst dann Selektion als kreativer Mechanismus auftreten kann. Entgegen den üblichen Bildern des Evolutionsbaumes mit einem Stamm, der sich immer weiter verzweigt und so in seiner Krone erst Vielfalt zeigt, spräche dies dafür, daß auch am Ursprung bereits viele Zweige vorhanden sind, daß also auch unabhängig voneinander mehrmals einzellige und dann auch mehrzellige Lebewesen entstanden sind. Neben den zwei Organismenlinien, den Tieren und den Pflanzen, hat man noch eine weitere gefunden: die Archäbakterien. So wird man gezwungen, den Urahn des Lebens noch tiefer als bei den Prokaryonten anzusetzen.

Die Vielfalt der Bakterien ist jedenfalls ungeheuer groß und es ist noch nicht gelungen, einen Stammbaum aus den verschiedenen Formen, Stoffwechselarten und Umweltanpassungen zu konstruieren. Dafür sind sie nicht differenziert genug, und vermutlich sind sie sehr oft parallel oder hintereinander entstanden. Offenbar können verschiedene Bakterien auch miteinander kommunizieren, in dem sie in einer Vorstufe zum genetischen Cross-over, das mit der sexuellen Paarung eine Art stabilisiert, Genstränge austauschen und so ihre DNA-Pläne beliebig rekombinieren. Bakterien könnten also über ein allgemeines Kommunikationssystem verfügen, wobei sie auch mit Pflanzen und Tieren DNA-Stückchen austauschen können. Man vermutet beispielsweise, daß die eukaryotischen Zellen, die einen Kern mit DNA und kleinere, membranbegrenzte Untereinheiten enthalten, aus einer Symbiose mit Prokaryonten, die nur einen einzigen DNA-Ring besitzen, hervorgegangen sind. Und auch der eukaryontische Zellkern scheint mindestens drei Arten von Genen zu enthalten, so daß er eine Chimäre aus DNA-Texten sein könnte. Daneben gibt es noch die Viren, die normalerweise nicht zu den lebenden Organismen zählen, aber bereits Stränge aus DNA oder RNA besitzen und von einer Proteinhülle umgeben sind. Anders als die Organellen, die ebenfalls einen eigenen genetischen Code aufweisen, haben sie sich nicht in die Wirtszelle integriert, welche man als Zelle von Zellen verstehen kann, sondern sie bewahren ihre Information, indem sie Zellen infizieren und sie zu ihrer Vermehrung umfunktionieren. Bis sie eine entsprechende Zelle und deren Gentext anzapfen und für sich arbeiten lassen, z.B. indem sie ihren genetischen Code an den der Wirtszelle anfügen, befinden sie sich in Ruhestellung und sind "leblos". Viren können also entweder das Programm der Zellen umhüllen oder es im Sinne einer genetischen Machtübernahme unmittelbar verändern.

Aus diesen vielen Wechselwirkungen der Aneignung und des Parasitismus könnte man die Vermutung ableiten, daß Parasiten die Evolution zumindest beschleunigt haben und daß der Kampf zwischen Parasiten, die parallel zu den ersten lebenden einzelligen Organismen entstanden sind, und Wirtszellen einen wesentlichen kreativen, aber natürlich auch tödlichen Mechanismus in Gang setzt. Ohne Bakterien würde höheres Leben nicht existieren können.

Auch Viren gehören zur Umwelt von lebenden Organismen, und die Evolution scheint nicht besonders fähige Einzelindividuen oder einzelne Genstücke zu belohnen, sondern Populationen, die miteinander in kooperativer Wechselwirkung stehen, was auch Beziehungen zwischen Parasit und Wirtsorganismus oder Beutetieren und Jägern einschließt. Ist die Nische zu einfach, werden die Organismen nicht bedroht, so findet oft keine weitere Entwicklung mehr statt, sondern eine Reduktion des Programms.

Interessant in dieser Hinsicht ist, daß das Künstliche Leben seine ersten, wenn auch vielfach ungeliebten Erfolge mit den sogenannten Computerviren feierte. Wie biologische Viren haben sie ein Programm, d.h. ein Information speicherndes Gedächtnis, das, einmal infiziert, den Computer als Wirtsorganismus benutzen, sich in einen anderen Computer kopieren und sich vermehren kann. Viren agieren in der Computerökologie autonom und sie kommunizieren mit deren Programmen, was nicht unbedingt heißt, daß sie ihren Wirtsorganismus und die Nische der vernetzten Computer mit ihren stetig anwachsenden Datenräumen schädigen. So hat Harold Thimbleby beispielsweise selbstreproduzierende Viren, die er "lifeware" nannte, so programmiert, daß sie Datenbanken miteinander verglichen und bei Nicht-Übereinstimmung selbständig die fehlenden Daten in die andere Datenbank kopierten. Fred Cohen glaubt gar, daß symbiotische Computerviren in Zukunft die Hauptarbeit bei den untergeordneten Aufgaben in Informationssystemen besorgen könnten. Niemand weiß zwar, ähnlich wie bei gentechnisch veränderten Mikroorganismen, ob diese weiterhin "freundliche Helfer" bleiben, wenn sie einmal in eine evolutionäre Drift eintreten. Allerdings werden die meisten Viren bislang sowieso nicht von den Systembenutzern programmiert, sondern die Computer werden von außen mit mehr oder weniger schädlichen Viren infiziert. Die Folge ist eine Art des Wettrüstens: die Computersysteme werden besser gesichert und die Viren dementsprechend intelligenter. Man nimmt an, daß die sexuelle Paarung in der biologischen Evolution sich unter anderem auch deswegen durchgesetzt hat, weil dadurch der Eingriff von Bakterien besser abgewehrt werden konnte. Noch gibt es freilich nur rudimentäre Formen der Mutation, mit denen sich Computerviren neuen Umgebungen anpassen können. Ihre Evolution wird durch menschliche Programmierer vorangetrieben, aber es wird vermutlich bald möglich sein, Computerviren zu entwickeln und freizusetzen, die sich verändern können, um den Suchprogrammen zu entgehen und sich neuen Umgebungen flexibler anzupassen.

Bei genetischen Algorithmen, die die Evolutionsmechanismen der Selektion, der Mutation und des genetischen Crossover durch Paarung benutzen, um Programme zur Lösung von Aufgaben zu optimieren, deren Struktur man nicht im Detail kennen muß, werden Populationen von nicht-identischen Programmen oder ganz zufällig aus Nullen und Eins zusammengesetzten Ketten einem Lösungsraum ausgesetzt und dann nach ihrer Qualität bewertet. Programme sind ein Bit-Code aus Regeln, um Merkmale zu erkennen und Handlungen auszulösen. Damit genetische Algorithmen nicht-linear organisiert sind, um sie nicht auf eine dominante Regel zu reduzieren und so für komplexe Situationen untauglich zu machen, konkurrieren auch die Regeln miteinander und alle Regeln, die an einer "gelungenen" Aktion beteiligt waren, werden belohnt, d.h. verstärkt. Solche sich allmählich heterarchisch und hierarchisch organisierenden Programme können sehr flexibel sein, aber sie werden natürlich einer starren Umwelt ausgesetzt und von außen bewertet. Zudem sind ihre Populationen, verglichen mit denen biologischer Arten, meist noch sehr klein. Ihr Vorteil liegt darin, daß sie die Generationenfolge in hoher Geschwindigkeit durchlaufen können und sich so die Evolution beobachten läßt, wobei, anders denn in der biologischen, alle Entwicklungsstufen und Sackgassen erhalten haben. Mit der steigenden Kapazität von Parallelrechnern – die "Verknüpfungsmaschine" von Hillis entstand übrigens im Kontext der Forschung über Künstliches Leben – wird man allerdings Programm-Populationen züchten können, die der Individuenzahl von natürlichen Populationen hinreichend nahekommt. Obgleich bei genetischen Algorithmen, die man wieder mit Viren vergleichen kann, vor allem durch das Cross-over wirklich neue Baupläne oder Verhaltensweisen auftreten können, weist John H. Holland darauf hin, daß auch hier sich bereits Phänomene wie Symbiose, Parasitismus, Mimikry, Räuber-Beute-Koevolution, Nischenbildung und Aufspaltung einer Art in neue Stammeslinien beobachten lassen. Übrigens zeigte sich bei genetischen Algorithmen, daß die Mutationsrate gegenüber dem Crossingover für die Evolution eine nahezu vernachlässigenswerte Größe war. Beschränkt sind genetische Algorithmen und Zellulärautomaten in ihrer Selbstorganisation vor allem dadurch, daß sie nicht in einer komplexen Umwelt existieren, auch wenn sie selbst in der Lage sind, über rückgekoppelte Prozesse ohne übergeordnete Regeln relativ komplexe kollektive Verhaltensweisen aus der Reaktion von einzelnen "Organismen" in lokal begrenzten Situationen hervorzubringen.

Daß die Existenz von Parasiten und damit die genetische Übernahme ein wichtiger Katalysator für die Vielfalt und Komplexität des Lebens gewesen sein könnte und möglicherweise noch immer ist, hat Danny Hillis in einer Computersimulation auf einer seiner Verknüpfungsmaschinen mit 64000 parallel arbeitenden Prozossoren zeigen können. Er hatte "Organismen", d.h. binäre Zahlenketten, die Gene repräsentieren und die auf der Basis von genetischen Algorithmen rechnerische Aufgaben lösen sollten, in ein evolutionäres Wettrüsten mit Parasiten geschickt, die gleichfalls bei Erfolg belohnt wurden. Die Arten koevoluierten, indem sie immer geschickter auf die Angriffe oder Verteidigungsstrategien reagierten. Immer wenn die Organismen sich stabilisiert und immunisiert hatten und es so schien, als wären die Parasiten aus dem Rennen, entstand plötzlich wieder eine Flut von Angreifern, die ihre Sicherheitssysteme knackten. Hillis fand heraus, daß während den Phasen des Stillstands beim Phänotypus, hier definiert durch seine rechnerischen Fähigkeiten, sich bereits Veränderungen im digitalen Erbgut vollzogen, die ab einem kritischen Punkt dann plötzlich zu einer größeren Veränderung führten. Diesen Wechsel von Perioden des Stillstands und schnellen Innovationen haben Evolutionsbiologen auch immer auf der Ebene des Phänotyps beobachtet, aber sie können nicht erklären, wie dieser plötzliche Wandel geschieht, der ja im Gegensatz zum Dogma der Änderung mittels Häufung von kleinen Schritten steht. Auffallend war überdies, daß die Organismen viel mehr Generationen benötigten, um sich zu optimieren, wenn im Computertop keine Parasiten existierten. Deren Anwesenheit beschleunigt also den Evolutionsprozeß und die Vielfalt, indem sie ihn am Rand des Chaos hält, also für Ungleichgewicht sorgt. Auch die sprunghafte Innovation bei Parasiten und Organismen läßt sich als eine Übernahme denken. Zunächst werden Allele produziert, die entweder neutral sind oder für andere Funktionen gebraucht werden konnten, da in der Natur nicht das Prinzip der Identität, sondern das flexiblere der Ähnlichkeit herrscht. Ist aber einmal eine Menge an alternativen Genen vorhanden, die durch Rückkopplung zu einem anderen Verhalten führen, das Vorteile mit sich bringt, könnte sich eine neue Eigenschaft durch Paarung sprunghaft ausbreiten.

Der Biologe Thomas Ray hat mit "Tierra" versucht, ein evolvierendes System zu entwerfen, bei dem die digitalen Lebewesen in Konkurrenz um Prozessorzeit und Speicherplatz standen und durch verschiedene Mutationen ihres Erbgutes verändert wurden. Die Umwelt veränderte sich auch durch eine Art des Rechnerrauschens und die Organismen aus 80 Gen-Befehlen hatten nur eine begrenzte Lebenszeit, d.h. selbst gut "angepaßte" mußten irgendwann abtreten. Nachdem das System einige Zeit lief und Mutanten entstanden, die effektiver arbeiteten, tauchten auf einmal Organismen mit nur 45 Gen-Befehlen auf, die sich nicht selber fortpflanzen konnten. Aus diesem Grund mußten die Parasiten einen Wirt suchen, um deren Replikationscode zu benutzen. Weil sie einfacher waren, konnten sie sich schneller ausbreiten als die komplizierteren Lebewesen, hatten sie aber zuviele Wirte zweckentfremdet und getötet, ging natürlich auch ihre Zahl zurück. Mit den Parasiten entstehen neue Randbedingungen zwischen Lebewesen, die ein evolvierendes System gewissermaßen wie ein Katalysator entwickelt und woraus durch gegenseitiges Wettrüsten auch Mutanten eine Lebenschance erhalten, die in einer stabilen Umwelt mit einem gleichbleibenden Lösungsraum nicht überleben könnten.

Parasiten scheinen also zumindest ab einer bestimmten Komplexität im Laufe der Evolution des Lebens aufzutreten und diese weiter voranzutreiben, gleich ob dies im Sinne eines Wettrüstens oder als Symbiose geschieht. Parasiten des biologischen Lebens gibt es in einer ungeheuren Vielfalt, vermutlichen übertreffen ihre Arten bei weitem die aller anderen Tierarten. Größere Parasiten zeigen eine verrückte Vielheit von Metamorphosen und nützen eine unwahrscheinliche Folge von Zwischenwirten aus. Parasiten sind Räuber und Gäste, die ein komplexes System aus dem Gleichgewicht bringen und verändern: sie sind Agenten der Metamorphose, machen die Evolution offen auf unvorhersehbare Entwicklungen, die sonst nur durch Katastrophen der physikalischen und chemischen Umwelt eintreten. Möglicherweise greifen sie nicht nur von außen ein, schädigen oder verbessern einen Organismus, nisten sich in ihn ein oder sorgen für ein Rauschen, sondern leiten auch direkt Mutationen der Wirte durch ihre Informationsarbeit ein. Ihre Verhaltenseigenschaften sind aber nicht auf die Parasiten beschränkt, die in einen Wirt eindringen, in ihm leben und mit dessen Gedächtnis spielen, denn jede Form der Übernahme und der Kreation ist parasitär, weswegen auch die Wirte als Parasiten in einem verschachtelten Netzwerk zu bezeichnen sind. Schließlich ist das Leben insgesamt ein Parasit der Erde, die von ihm überzogen und verändert wurde. Und jeder Wirt, der von Parasiten bewohnt wird, ist selber wieder ein Parasit anderer Lebewesen zumindest insofern, als er von anderen Organismen lebt. Waren die RNA oder die DNA vielleicht Parasiten eines Lebens auf der Basis von Silikon, so sind sie danach selbst zum Parasiten der Wirtszelle geworden, den sie als Überlebensmaschine benutzt, in der sich möglicherweise das neuronale System als weiterer Parasit entwickelt hat, das nun wiederum zum Wirt einer neuen Lebensform wird, aber bereits der Träger jener Lebensformen ist, die man als Kultur bezeichnet. Aber schon die Evolution eines neuen Verhaltens, das auf der Sequenz von vielen motorischen und sensorischen Aktoren und Millionen jeweils miteinander konkurrierender und kooperierender Neuronen beruht, läßt sich jeweils als Übernahme und damit als parasitäre Benutzung von vorhergehenden einfacheren Verhaltenssequenzen der neuronalen Maschinerie verstehen, die bislang in einem ganz anderen Lösungsraum angesetzt wurden. So könnte, was der Neurobiologe William Calvin vermutet, die sensomotorische Verhaltenssequenz, mit Steinen Nüsse präzise aufzuhämmern, dazu benutzt worden sein, das Werfen von Steinen auf bewegliche Ziele zu ermöglichen. Diese Fähigkeit, verschiedene rückgekoppelte sensorische, projektive und motorische Verhaltenssequenzen in einer übergreifenden "Melodie" durch Selektion vieler in Millisekunden durchgespielter und bewerteter Varianten zu organisieren, könnte dann die Möglichkeit eröffnet haben, eine differenzierte Sprache aus komplizierten Verkettungen aufzubauen, wobei derselbe Sequenzmechanismus auch das Spielen und Rezipieren von Musik erlaubt. Ist die parasitäre Übernahme gelungen, so sind neue Nischen entstanden, die sich parallel weiterentwickeln und komplexer werden, wenn neue Parasiten entstehen, die routiniertes Verhalten meist durch chocartige Komplexitätsreduktion herausfordern.

Hat man eine abgeschlossene Umwelt und einen festen Lösungsraum in den virtuellen Welten der Computer, so lassen sich Parasiten offenbar genauer einsetzen, um Algorithmen zu optimieren. Sie könnten also gerade für die Fortentwicklung von Künstlicher Intelligenz auf der Basis von genetischen Algorithmen auf Parallelrechnern und mit der vom Zufall bestimmten Bottom-up-Methode bedeutsam werden, allerdings immer mit der Einschränkung, daß sie Systeme auch zum Absturz bringen und eine unkontrollierbare Entwicklung einleiten können. Wir müssen uns daran gewöhnen, daß Gleichgewicht keine Orientierung ist, mit der sich biologische, psychische und soziale Systeme am Leben erhalten lassen, daß vielmehr das Einbringen von bösartigen Viren und Parasiten neue Lebens-, Denk- und Kunstformen hervorbringt, daß wir also das Böse nicht nur als Antrieb akzeptieren, sondern daß wir es möglicherweise selbst produzieren müssen, um zu überleben, was heißt, um uns und die belebte sowie unbelebte Umwelt, in der und von der wir auch als Parasiten leben, zu verändern. Egal ob wir dabei langfristig oder über Gentechnik auch kurzfristig uns selbst biologisch überholen oder ob wir ein postbiologisches Leben freisetzen, das uns im Wettrüsten hinter sich zurückläßt, in dem wir vielleicht auch symbiotisch weiterleben könnten oder durch das wir neue Wissens- und Technikmutationen erfinden, so werden wir jedenfalls ungemütlicherweise zur Anerkennung gezwungen, daß wir nicht das stabile Endprodukt der Evolution sind, die wir von außen lenken und kontrollieren können. Und selbst wenn wir es erreichen könnten, bestimmte Entwicklungen etwa im Hinblick auf KI, KL oder Gentechnologie zu bremsen, so geraten wir dadurch nur an eine andere evolutionäre Drift, die ebenso wenig vorhersehbar und gefeit gegenüber plötzlichen Mutationen ist, neue Parasiten und Viren entstehen läßt.


LITERATUR:

William Calvin: Die Symphonie des Denkens, München 1993

John L.Casti: Verlust der Wahrheit, München 1989

Friedrich Cramer: Chaos und Ordnung. Die komplexe Struktur des Lebendigen, Stuttgart 1988

Richard Dawkins: Der blinde Uhrmacher, München 1986

Gerald Edelman: Unser Gehirn – ein dynamisches System: München 1993

Evolution. Die Entwicklung von den ersten Lebensspuren bis zum Menschen. Heidelberg 1988

Stephen Jay Gould: Zufall Mensch, München 1991

John H. Holland: Genetische Algorithmen, in: Spektrum der Wissenschaften, Heidelberg 9/1992

Bernd-Olaf Küppers: Der Ursprung biologischer Information, München 1986

Steven Levy: KL. – Künstliches Leben aus dem Computer, München 1993

Robert Wesson: Die unberechenbare Ordnung. Chaos, Zufall und Auslese in der Natur, München 1993