Sythetisches Leben: Evolution und Ökologie digitaler Organismen
'Tom S. Ray
Tom S. Ray
Idealerweise sollte sich die Wissenschaft der Biologie mit allen Formen des Lebens befassen. In der Praxis beschränkt sie sich jedoch auf die Erforschung eines einzelnen Beispiels von Leben, nämlich des Lebens auf der Erde. Da unsere Wissenschaft der Biologie auf einem Probenumfang von Eins basiert, können wir nicht beurteilen, welche Kennzeichen des Lebens typisch für die Erde und welche allgemein, charakteristisch für jedes Leben sind. Eine praktische Alternative für eine wirklich komparative interplanetare Biologie besteht in der Erschaffung synthetischen Lebens.
Die Erzeugung synthetischer Organismen erfolgte auf Grundlage einer Computermetapher des organischen Lebens, wobei CPU-Zeit die "Energie"-Ressource und der Speicher die "Material"-Ressource bildet. Der Speicher ist planmäßig in Informationsmuster unterteilt, die sich zu ihrer Selbstreplikation der CPU-Zeit bedienen. Die Mutation bringt neue Formen hervor und die Evolution erfolgt durch natürliche Selektion, da verschiedene Genotypen in Konkurrenz um CPU-Zeit und Speicherplatz stehen. Die Geschöpfe sind sich selbst replizierende Computerprogramme, die jedoch nicht entkommen können, da sie ausschließlich auf einem virtuellen Computer in dessen eigener Maschinensprache laufen. Der virtuelle Computer ist tatsächlich eine Auffangvorrichtung.
Es haben sich verschiedene ökologische Gemeinschaften herausgebildet. Diese digitalen Kommunen wurden herangezogen, um ökologische und evolutionäre Prozesse experimentell zu erforschen, etwa kompetitiven Ausschluß und Koexistenz, die Populationsregulierung in Abhängigkeit von der Wirte- und Parasitendichte, den Effekt, den Parasiten für eine zunehmende Mannigfaltigkeit der Kommunen haben, das evolutionäre Wettrüsten, das unterbrochene Gleichgewicht, und die Rolle von Zufällen und historischen Faktoren in der Evolution.
Es wurde ein einzelnes rudimentäres Ur"geschöpf" entworfen; es ist 80 Maschinenbefehle lang und enthält lediglich den Code zur Selbstreplikation. Dieses Wesen prüft sich selbst, bestimmt seine Größe und seinen Ort in der Speicher"suppe" und kopiert sich dann mit jeweils einem Befehl selbst an einen anderen Ort in der Suppe. Obwohl harte Konkurrenz um Zutritt zu Speicherplätzen besteht, interagiert das Urgeschöpf nicht direkt mit anderen Individuen.
Ein Mäher tötet Geschöpfe und sorgt dafür, daß jederzeit freier Raum verfügbar ist, in dem die Geschöpfe sich reproduzieren können. Werden Kreaturen geboren, so reihen sie sich ans untere Ende einer Warteschlange. Der Sensenmann tötet jeweils das oberste, üblicherweise zugleich älteste Geschöpf. Den Mutanten unterlaufen jedoch oft Fehler, die dazu führen, daß sie in der Warteschlage des Sensenmannes aufsteigen und getötet werden.
Aus dem einzelnen rudimentären Ur"geschöpf" sind hunderttausende selbstreplizierende Genotypen in hunderten von Genom-Größenklassen hervorgegangen. Bit-flipping Mutationen bewirken Änderungen in der Befehlsfolge im Genom, jedoch führen sie zu keiner Veränderungen der Genomgröße. Mutierende Genotypen machen jedoch Fehler bei der Selbstprüfung und -replikation, und daraus resultieren verschieden große Genome. Da die genetische Änderung neue Genotypen hervorbringt, entstehen Varianten, die in der Lage sind, sich rascher als ihre Vorläufer zu replizieren und diese Varianten nehmen in ihrer Häufigkeit in der Suppe zu.
Sehr rasch entwickeln sich Parasiten, die sich, da ihnen ein großer Teil des Genoms fehlt, alleine nicht replizieren können. Diese Parasiten spüren jedoch die fehlende Information auf und wenn sie sie bei einem benachbarten Geschöpf orten, schmarotzen sie Informationen und bewerkstelligen so ihre eigene Replikation. Dieses Informationsparasitentum stellt eine Schmarotzerbeziehung dar, die dem Wirt nicht unmittelbar abträglich ist. Jedoch wetteifern die Parasiten mit den Wirten um Platz und sind, da sie ihre kleineren Genome rascher replizieren können, im Wettbewerb unter Umständen überlegen. Ihr Vorteil hängt jedoch von der Häufigkeit ab. Da die Parasiten sich vermehren, die Wirte aber weniger werden, gelingt es vielen Parasiten nicht, einen Wirt ausfindig zu machen. Im ökologischen Ablauf beschreiben Wirte und Parasiten – sieht man von genetischen Veränderungen ab – Lotka-Voltera-Zyklen.
Während einiger Abläufe wurden die Wirte gegen Angriffe der Parasiten immun. Ein Immunitätsmechanismus beruht auf dem Umstand, daß die Geschöpfe sich selbst nur einmal prüfen und darauf vertrauen, daß die Informationen über ihre Größe und Position für alle folgenden Replikationen stimmen. Immune Wirte berauben die Parasiten ihres Selbstgefühls, indem sie die Information über Größe und Position nicht aufbewahren. Die Wirte, die mit diesem vergeßlichen Code funktionieren, müssen sich vor jeder Replikation selbst prüfen. Die Immunität hat daher einen metabolischen Preis.
Mit dem Auftreten immuner Wirte nimmt deren Häufigkeit meist zu und es kommt zu einer Vernichtung der Parasitenpopulation. Bei einigen Abläufen, bei denen die Gemeinschaft von immunen Wirten beherrscht wurde, entwickelten sich immunitätsresistente Parasiten. Der oben geschilderte Immunitätsmechanismus kann von Parasiten, die sich ebenfalls vor jeder Replikation prüfen, überlistet werden. Die Wirte zeigen gegenüber den Parasiten manchmal eine über die Immunität hinausgehende Reaktion, einen tatsächlichen Hyperparasitismus. Die Hyperparasiten dulden den Parasitenbefall und überlassen dem Parasiten ihren Code für eine einzelne Replikation. Nach der ersten Replikation täuscht der Hyperparasit den Parasiten, indem er die Daten des Parasiten, dessen Größe und Position betreffend, mit der Größe und Position des Hyperparasiten-Genoms vertauscht. Der Parasit wird daraufhin seine energetischen Ressourcen der Replikation der Hyperparasiten-Genome widmen. Dies ist eine höchst schädliche Interaktion, die den Untergang der Parasiten zur Folge hat. Die Hyperparasiten haben die Wahl, – aus der Anwesenheit der Parasiten beziehen sie eine Energieverstärkung, sie bedürfen ihrer jedoch nicht zur Replikation.
Die sich in Abwesenheit der Parasiten entwickelnden Hyperparasiten dominieren die Gemeinschaft vollständig, was zu einer relativen Uniformität führt, deren Kennzeichen die vielen Beziehungen zwischen den Individuen sind. Unter diesen Umständen entsteht Gesellschaftlichkeit in dem Sinn, daß die Geschöpfe sich in Formen entwickeln, die nur gemeinsam, nicht aber in der Vereinzelung wiederholbar sind. Die Kolonie der Geschöpfe kooperiert in der Steuerung ihres Alogrithmenablaufs.
Das kooperative Verhalten der sozialen Hyperparasiten macht sie für eine neue Parasitenklasse angreifbar. Diese betrügerischen Hyper-Hyperparasiten setzen sich zwischen die kooperierenden sozialen Individuen und reißen für einen Augenblick die Kontrolle über die Durchführung des Algorithmus an sich, lange genug, um die sozialen Kreaturen hinsichtlich ihrer Größe und Position zu täuschen und sie zu veranlassen, die Genome der Betrüger zu replizieren. Einer der interessantesten Aspekte dieses zweiten Beispiels von Leben ist der, daß der Großteil der Evolution eher auf der Anpassung der Organismen an andere Organismen beruht als auf der physikalischen Umgebung. Das System wird durch die Ko-evolution vorangetrieben.
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