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Ars Electronica 1993
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POLY-WORLD: Wirkliches Leben in einem künstlichen Kontext?


'Larry Yeager Larry Yeager

EINLEITUNG
Das Thema dieses Vortrages ist Künstliches Leben – das Studium vom Menschen geschaffener lebender Systeme. Im besonderen werde ich eine bestimmte rechnerische Ökologie mit Namen PolyWorld besprechen, die den scheinbar erfolgreichen Versuch darstellt, nicht-biologisches Leben in einem Computer zu entwickeln. Obwohl selbst nicht-biologisch, schöpft PolyWorld in hohem Ausmaß aus biologischen Prinzipien: Es verbindet biologisch motivierte Genetik, einfache simulierte Physiologien und Metabolismen, Hebbianisches Lernen neuralen Netzwerk-Architekturen, einen visuellen Wahrnehmungsmechanismus und eine Serie primitiver Verhalten in künstlichen Organismen begründet auf einer einfachen Ökologie. Jagdtrieb, Mimikry, sexuelle Reproduktion und sogar Kommunikation werden alle geradlinig unterstützt. Die resultierenden Überlebensstrategien, sowohl einzeln, als auch in der Gruppe entstehen völlig neu, so wie die Funktionalitäten in ihre neuronalen Netzwerk-"Hirne" eingebettet sind.

PolyWorld ist ein Versuch, an künstliche Intelligenz ebenso heranzugehen, wie die natürliche Intelligenz entstanden ist durch die Evolution von neuralen Systemen in einer komplexen Ökologie.

Aber sind diese vom Menschen geschaffenen Organismen wirklich am Leben? Können sie es sein?
ÜBERSICHT ÜBER DEN POLYWORLD SIMULATOR
PolyWorld ist ein ökologischer Simulator, bestehend aus einer flachen Grundebene, möglicherweise unterteilt durch ein paar unüberwindbare Barrieren, gefüllt mit willkürlich angepflanzten Stücken von Nahrung und bewohnt von einer Anzahl von Organismen. Die bewohnenden Organismen verwenden Farbsicht als Input für ein neurales Netzwerk-Gehirn, das Hebbianisches Lernen an seinen Synapsen anwendet. Die Outputs dieses Gehirns bestimmen völlig das Verhalten der Organismen. Diese Organismen und alle anderen sichtbaren Bestandteile der Welt werden von einfachen polygonalen Formen dargestellt. Sehvermögen wird ermöglicht durch "rendering" eines Bildes von der Welt aus dem Blickpunkt jedes einzelnen Organismus und durch Verwendung der enstandenen Pixel map als Input in das Gehirn des Organismus, als wäre es Licht, das auf eine Retina fällt. Die simulierten Physiologien der Organismen – Größe, Stärke und Höchstgeschwindigkeit und ihre entsprechenden metabolischen Ausmaße werden von einem zugrundeliegenden genetischen Code bestimmt. Es gibt auch ein einzelnes ID-Gen, dessen Funktion es ist, zur Displayzeit für die grüne Komponente der Farbgebung des Organismus zu sorgen; da die Organismen einander tatsächlich sehen können, kann dies, im Prinzip, die Mimikry unterstützen. Die Mutationsrate, die Zahl der Überkreuzungspunkte, die während der Reproduktion verwendet wird, und die maximale Lebensdauer werden in der Anordnung der Gene plaziert, um eine Art Meta-Ebenen-Genetik zu erlauben, und in Anerkennung der Tatsache, daß diese Parameter selbst in natürlichen Systemen entwickelt wurden. Ein letztes Physiologie-Gen kontrolliert den Bruchteil der verbleibenden Energie eines Organismus, den er zu seinem Nachwuchs bei dessen Geburt beisteuern wird. Die gesamte verfügbare Energie des Nachwuchses bei dessen Geburt, ist die Summe dieser Beigaben von den beiden Eltern.

Eine andere Gruppe von Genen kontrolliert die neurale Architektur des Organismus. Diese Gene bestimmen eine Anzahl von neuronalen Gruppen oder Haufen, die Mengen der hemmenden und/oder Reize hervorrufenden Neuronen, die man in diesen Haufen findet, und Grad und Typ synaptischer Verbindungen, die zwischen den Neuronen in diesen verschiedenen Haufen bestehen. Dieses Modell versucht, die statistische Natur und Komplexität echter neuraler Architekturen, ohne die Notwendigkeit eines ontogenetischen Modells der neuralen Entwicklung einzufangen. Ein Ergebnis dieses Modells von neuralen Architekturen ist, daß es für PolyWorlds simulierte "Natur" möglich ist, für instinktives Verhalten, gelerntes Verhalten oder Hybride auszuwählen.

Eine kleine Anzahl der Neuronen eines Organismus sind vorherbestimmt, eine Reihe möglicher primitiver Verhalten zu aktivieren, einschließlich dem Essen, dem Sich Paaren, dem Kämpfen, der Vorwärtsbewegung, der Drehung, der Kontrolle des Sichtfeldes und der Kontrolle der Helligkeit des Körpers. Organismen verbrauchen Energie mit jeder Aktion, einschließlich neuraler Aktivität; mehr Aktionen, mehr Neuronen oder mehr Synapsen produzieren größeren Energieverbrauch. Sie müssen diese Energie wieder auffüllen, um zu überleben. Sie können das tun, indem sie die Nahrung fressen, um die Umwelt herum wächst. Wenn ein Organismus stirbt, wird sein Kadaver zu Nahrung. Da eines der möglichen primitiven Verhalten Kämpfen ist, können Organismen möglicherweise andere Organismen beschädigen. Daher können sie also ihre Energien auch wieder auffüllen, indem sie einander töten und fressen. Raubtierverhalten ist auf diese Art ziemlich natürlich nachgebildet. Um sich zu reproduzieren, müssen beide von zwei sich räumlich überlappende Organismen ihr Paarungsverhalten ausdrücken. Reproduktion geschieht dann, indem man das genetische Material von zwei haploiden Individuen nimmt, es Überschneidung und Mutation unterzieht und das neue Genom dann als Kindorganismus bezeichnet.

Wenn erst einmal eine stabile Verhaltensstrategie – eine die den Organismen erlaubt, ihre Zahl (vom Tod dezimiert) wieder durch reproduktive Paarung aufzufüllen – aufgetreten ist, gibt es keine andere Tauglichkeitsfunktion, außer dem Überleben. Bis eine solche Verhaltensstrategie aufgetaucht ist, kann man PolyWorld als eine Art "On-line Genetischer Algorithmus" Modus mit einer ad hoc Tauglichkeitsfunktion laufen lassen. Während dieser Phase kann man eine Minimalanzahl von Organismen garantieren, die die Welt bevölkern. Wenn die Zahl der Tode verursacht, daß die Anzahl der in der Welt existierenden Organismen unter dieses Minimum fällt, kann entweder das System einen anderen willkürlichen Organismus erschaffen, oder der Nachwuchs zweier Organismen von einer Tabelle der N-tauglichsten könnte kreiert werden, oder der jemals beste aller Organismen könnte unverändert in die Welt zurückgegeben werden.

Die minimalen, maximalen und anfänglichen Zahlen von Organismen und Nahrung können bestimmt werden, sowie die Wachstumsrate der Nahrung. Es ist möglich diese Kontrollparameter zu beeinflussen, ebenso die ad hoc Tauglichkeitsstatistik, gleichzeitig für eine Anzahl verschiedener unabhängiger "Domänen", welche typischer –, jedoch nicht notwendigerweise, mit den Teilungen übereinstimmen, die der Welt durch die Barrieren auferlegt wurden. Eine Reihe graphischer Anzeigen kontrollieren das Fortschreiten der Simulation. Alle Kontrollparameter und die Display-Optionen der Simulation werden in einem einzigen "World File" definiert, der vor dem Beginn der Simulation gelesen wird. Weiters können einige der Anzeigen-Optionen während der Laufzeit interaktiv aufgerufen werden. Neueste High-End-Simulationen beinhalten mehrere hundert Organismen, von denen jeder mehrere hundert Neuronen hat.
RESULTATE: ARTENBILDUNG UND KOMPLEXES, ENTSTEHENDES VERHALTEN
Trotz der Variabilität, die verschiedenen Welten innewohnt, sind bis dato bestimmte wiederkehrende "Spezies" beim Simulationslauf aufgetreten. Nur die Spezies aus "erfolgreichen" Simulationen werden hier genauer untersucht und besprochen. Eine Simulation wird dann, und nur dann als erfolgreich betrachtet, wenn Organismen auftreten, die fähig sind, die Population der Welt durch ihr Paarungsverhalten aufrechtzuerhalten (und wenn daher die Kreation von Organismen aufhört) Diese Spezies haben, der Definition nach, eine stabile Verhaltensstrategie entwickelt. Manche dieser Verhalten, sowohl auf Spezies-Ebene, wie auch auf Individual-Ebene erinnern an Verhaltensstrategien, die man in natürlichen Organismen beobachtet und können eventuell Einblicke in jene natürlichen Verhalten gewähren, die von füheren Annahmen über biologisches Leben und unserer Tendenz zu vermenschlichen unbelastet sind.

Die erste dieser Spezies, die auftrat, die "frenetischen Jogger", rannten eigentlich nur mit Höchstgeschwindigkeit geradeaus und wollten sich immer nur paaren und immer nur fressen. Beim Erstellen ihrer bestimmten (gutartigen/freundlichen und primitiven) Welt, stellte es sich heraus, daß sie beim Rennen oft genug auf Nahrung und aufeinander treffen würden, um sich zu erhalten und zu reproduzieren. Es war eine adäquate, wenngleich auch keine besonders interessante Lösung für diese Welt.

Die zweite wiederkehrende Spezies wurde "träge Kannibalen" genannt. Diese Organismen "lösen" ihr Weltenergie- und Reproduktions-Problem, indem sie ihre Welt in einen fast null-dimensionalen Punkt verwandeln. Das heißt, sie bewegen sich nie sehr weit von ihren Eltern oder ihrer Nachkommenschaft fort. Diese Organismen paaren sich miteinander, kämpfen miteinander, töten einander und fressen einander, wenn sie sterben. Es zeigt sich, daß "Kannibale" als leichte Fehlbenennung gesehen werden kann, da der Hauptgrund für diese faule Kolonie die leichte Zugänglichkeit von Partnern zur Reproduktion ist.

Die dritte wiederkehrende Spezies wurde "Rand-Läufer" genannt. Diese Organismen steigen eine Stufe höher, als die Kannibalen und reduzieren ihre Welt auf eine ungefähr eindimensionale Kurve. Sie rennen meist nur auf dem Rand ihrer Welt rundherum. Dies hat sich als ziemlich gute Strategie erwiesen, da, wenn genügend andere Organismen es machen, einige auf dem Weg gestorben sein werden und so einen adäquaten Nahrungsvorrat sichergestellt haben. Außerdem werden Paarungspartner leicht gefunden, indem sie ein bißchen schneller oder langsamer oder in die Gegenrichtung laufen oder einfach irgendwo stehenbleiben und auf andere Läufer warten. (Diese Verhalten wurden auch tatsächlich alle beobachtet.)

Eine weitere Spezies, die "Derwische" entwickelten sich in einer Braitenberg-ähnlichen Tischplatten-Welt, mit Weltgrenzen, die den Tod für jene Organismen bedeutete, die über den Rand hinunterfielen. Diese Organismen verbrachten ihr gesamtes Leben, indem sie sich in engen Kreisen drehten, die sie mit Nahrung und Paarungspartnern in Kontakt brachten, sie vermieden jedoch vorsichtig die tödlichen Ränder der Welt.

Die interessanteren Spezies kann man nicht so leicht klassifizieren. In Welten, wo eine einzelne Spezies dominant wurde, waren die Verhalten der individuellen Organismen immer noch ziemlich vielfältig. Und in vielen Welten wird keine einzelne Spezies deutlich dominant. In solchen Simulationen kann man dann folgende Verhalten beobachten:
  • Reaktion auf visuelle Stimuli durch Beschleunigen

  • Reaktion auf Angriffe durch Zurückkämpfen oder Davonlaufen

  • Grasen/Weiden (das Langsamerwerden, wenn sie auf Nahrung treffen)
  • Nahrungssuche und Nahrungseinkreisung

  • Schwärmen und Sich Versammeln

  • Jagen oder Folgen
ABER SIND SIE AM LEBEN? WIRKLICH AM LEBEN?
Die Antwort auf diese Frage ist mehr als ein bißchen schwierig, schon allein durch die einfache Tatsache, daß es keine klare Definition darüber gibt, was Leben nun wirklich ist oder was es bedeutet, wirklich lebendigzu sein. Im Sitzungsbericht der zweiten Artificial Life Konferenz schlagen Farmer und Belin vor, an die Definition von Leben heranzugehen, indem wir fragen: "Wenn wir zu einem anderen Planeten reisen, wie werden wir dann wissen, ob Leben vorhanden ist, oder nicht?" Ihre Antwort sollte auch auf die analoge Frage anwendbar sein: Wenn wir in eine künstliche Welt "reisen", wie werden wir dann wissen, ob Leben vorhanden ist, oder nicht? Farmer und Belin bieten eine Reihe von Eigenschaften und Kriterien für Leben an, darin eingeschlossen sind: Reproduktion, eine Form der Selbst-Repräsentation, ein Metabolismus, Interaktion mit der Umwelt, gegenseitige Abhängigkeit von Teilen, Stabilität bei Störungen und die Fähigkeit sich zu entwickeln. Nimmt man das für bare Münze, so erfüllen die Organismen von PolyWorld leicht alle diese Kriterien. Also müssen wir entweder unsere Kriterien neu definieren oder eine völlig neue Gattung auf der Welt willkommen heißen!

Man könnte nun einwerfen, daß diese Kriterien selbst Eigenschaften sein sollten, die aus einigen Prozessen auf niedrigerer Ebene hervorgehen, und man könnte dem entgegnen, daß die rekursive Anwendung dieses Arguments den fundamentalen Grundsätzen des künstlichen Lebens widerspricht, nämlich daß es möglich ist, Leben auf verschiedenen Ebenen der Organisation zu untersuchen, und daß es sogar die Möglichkeit ausschließen könnte, jemals ein Beispiel des vom Menschen gemachten Lebens unzweideutig zu produzieren. Es könnte sein, daß die besten Anstrengungen bis heute notwendigerweise nur Aspekte des Lebens herstellen, die die persönlichen Vorlieben und Interessen und Perspektiven jener Leute repräsentieren, die die Modelle herstellen.

Vergleichen Sie Farmer und Belins biologisch motivierte Definition von Leben mit einer hypothetischen künstlichen Intelligenz – einer, die den Turing Test leicht bestanden hat, sich jedoch nicht reproduziert oder entwickelt hat – welche ist mehr "lebendig"? Tatsächlich kann es sein, daß nur eine angemessen besetzte Jury jemals eine hinreichende Einschätzung von lebend oder nicht lebend für die wissenschaftliche Gemeinschaft treffen kann. Vielleicht kann jedoch ein auf Information basierendes Modell von Leben Einblicke in die Beziehung zwischen künstlichen und natürlichen Biologien gewähren und in beiden eines Tages sogar genaue Unterscheidungsmerkmale zwischen den lebenden und nicht lebenden erlauben.
ZUKÜNFTIGE RICHTUNGEN
Neben unzähligen Studien zur Verhaltens-Ökologie und Entwicklungs-Biologie, die mit PolyWorld möglich sind, möchte ich einige der Organismen, die brauchbare Verhaltensstrategien entwickelt haben, nehmen und ihre Reaktionen auf neue Umgebungen untersuchen, vielleicht sogar ihre Reaktion auf klassische Konditionierungsexperimente studieren. Darüberhinaus würde der Sprung von einer Workstation (PolyWorld läuft derzeitig auf einem Silicon Graphic Iris) zu einem großen Parallelprozessor bedeutend größere Populationen und komplexere neurale Modelle daher größerer Artenvielfalt und komplexere Verhalten erlauben. Ich hoffe, daß dieser Ansatz zu künstlichem Leben und künstlicher Intelligenz sehr offen ist und habe den Quellencode zu PolyWorld erhältlich gemacht über: anonymous ftp at ftp.apple.com, in /pub/polyworld; man kann mich bei larryy@apple.com bei Fragen kontaktieren.