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Ars Electronica 1993
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Gentechnologie – Ein Weg zu Künstlichem Leben?


'Helmut Ruis Helmut Ruis

Bedauerlicherweise sind in der breiten Öffentlichkeit die Vorstellungen darüber, was Gentechnologie ist, was sie an positiven Chancen bietet, und was sie an Risken mit sich bringt, oft sehr weit von der Realität entfernt. Zu diesem Zustand tragen nicht nur schlecht informierte oder besonders sensationelle Schlagzeilen suchende Journalisten bei, sondern gelegentlich auch tatsächliche oder sogenannte Experten. Als ein Beispiel dafür sollen im Vortrag einige Zitate aus den Unterlagen zu einem kommerziell erhältlichen "Gentechnikbaukasten" für Jugendliche präsentiert werden. Während die mit Hilfe dieses Baukastens durchführbaren Experimente beruhigend harmlos sind, ist es die gleichzeitig vermittelte Philosophie keineswegs. So werden Gentechnikexperimente als sonst den Göttern vorbehaltene Akte (Schöpfung neuen Lebens) dargestellt. Falls diese Darstellung berechtigt wäre, wäre Gentechnik tatsächlich eine Methode, mit der neues, künstliches Leben produziert werden kann.

Um eine sachliche Auseinandersetzung mit diesem so wichtigen Gebiet zu ermöglichen, soll im Vortrag versucht werden, dieser pathetischen Darstellung die nüchterne, aber dabei immer noch faszinierende Realität gegenüberzustellen. Dabei soll klargestellt werden, was gentechnische Methoden tatsächlich leisten, insbesondere aber auch, womit sie in der Öffentlichkeit oft verwechselt werden. Dies führt zur Feststellung, daß mit Hilfe gentechnischer Methoden die gezielte Veränderung der vererbbaren Eigenschaften von Lebewesen möglich ist. Von diesem Faktum ausgehend soll die Frage diskutiert werden, ob bzw. inwieweit in Zukunft durch Weiterführung und Ausbau dieser Methoden Produkte erhalten werden können, die die Bezeichnung "künstliche Lebewesen" tatsächlich verdienen. Mit heutigen gentechnischen Methoden veränderte Lebewesen, also etwa Bakterien, die ein bestimmtes für therapeutische Zwecke interessantes Protein des Menschen produzieren, oder auch Menschen, deren Erbkrankheit durch Übertragung eines funktionellen Gens aus einem anderen Organismus geheilt wird (Gentherapie), verdienen diese Bezeichnung ganz offensichtlich nicht. Sie sind vor allem auch deshalb keine künstlichen Lebewesen im engeren Sinne, weil die künstlich herbeigeführten Veränderungen im Prinzip auch auf natürlichem Weg entstehen könnten, auch wenn die entsprechenden Ereignisse (Gentransfer zwischen verschiedenen Arten oder verschiedenen Klassen von Lebewesen) in der Natur nur extrem selten auftreten.

Um seriös überprüfen zu können, ob mit Hilfe der Gentechnik künstliches Leben produziert werden könnte, müssen zunächst Begriffe geklärt werden. Als Lebewesen anzusehen wären Systeme, die in der Lage sind, Information zu speichern und an folgende Generationen weiterzugeben. Weiters müssen diese Systeme die Fähigkeit besitzen, Stoffe bzw. Energie aufzunehmen und umzusetzen, um die zur Speicherung und Weitergabe der Information notwendigen Strukturen und Werkzeuge aufbauen zu können (Stoffwechsel). Künstliche Lebewesen im engeren Sinn müßten dabei andere Arten von Strukturen und Bausteinen verwenden als natürliche Organismen, also etwa andere Informationsspeicher als Nukleinsäuren und andere Katalysatoren als Proteine. Anhand dieser Überlegungen wird sofort evident, daß künstliches Leben in diesem Sinn mit Hilfe der Gentechnik nicht zugänglich ist. Weniger streng definiert könnte von künstlichem Leben allenfalls auch dann gesprochen werden, wenn unter Zuhilfenahme der selben Grundstrukturen und Mechanismen, die natürliche Lebewesen auszeichnen, ganz neue Typen von Lebewesen geschaffen werden könnten. Hier ergibt sich das Problem der Grenzziehung. Stellt eine blaue Rose einen ganz neuen Typ von Lebewesen dar, oder müßte man zum Beispiel eine singende Rose produzieren, um diesem Anspruch gerecht zu werden? Die Produktion einer blauen Rose mit gentechnischen Methoden sollte kein besonderes technisches oder prinzipielles Problem darstellen, sie bietet aber auch nichts sensationell Neues. Eine singende Rose hingegen wäre mit derartigen Methoden sicher für alle Zeiten nicht zugänglich. Rein hypothetisch könnte sie mit Hilfe der Gentechnik nur durch den Transfer einer größeren Zahl von Genen aus bereits existierenden Lebewesen oder durch Übertragung künstlicher Gene, die natürlichen Genen nachempfunden sind, produziert werden. Es muß daher bezweifelt werden, ob selbst dieses utopische Lebewesen mit Recht künstlich genannt werden könnte.

Zuletzt wäre im Rahmen dieser Überlegungen eine weitere Möglichkeit zu prüfen: Wäre unter Zuhilfenahme gentechnischer Methoden der Aufbau von Lebewesen aus nichtbiologischen (anorganischen oder durch chemische Synthese hergestellten organischen) Bestandteilen möglich, und würden solche Lebewesen mit Recht unter den Begriff "künstliches Leben" fallen? Es muß zunächst betont werden, daß ein derartiges Ziel beim heutigen Stand der Technik zweifellos utopisch wäre, daß aber auf Grund unseres theoretischen Verständnisses der "Nachbau" einfachster Lebensformen, als von Bakterienzellen, aus nicht biologischen Ausgangsmaterialien prinzipiell denkbar wäre, wenn auch der dafür notwendige Aufwand eine praktische Realisierung eines solchen Experiments wohl auch in Zukunft verhindern wird. Weiters muß festgehalten werden, daß nach unserem Wissensstand ein ähnliches Ziel prinzipiell auch für höhere Lebensformen realisierbar wäre, wobei die Idee der praktischen Durchführung in diesem Fall natürlich noch weiter ins Absurde rückt. Die nachfolgenden Überlegungen sind daher als reines Gedankenexperiment einzustufen. Vom reinen Nachbauen bestehender Lebensformen, das ja noch immer nicht eindeutig künstliches Leben produzieren würde, könnte prinzipiell natürlich auch dazu übergegangen werden, abgeänderte Lebewesen zu produzieren. Hier würde sich allerdings bei realistischer Betrachtungsweise wieder eine beinahe unüberwindliche Mauer aufbauen: alle Änderungen, die zu Lebensformen führen würden, die sich nennenswert von bestehenden unterscheiden, würden beim heutigen oder in absehbarer Zeit erreichbaren Stand unseres Wissens nicht zum Ziel führen, weil sie insbesondere höhere Organismen lebensunfähig machen würden. Bei einzelligen Lebewesen, bei denen auf Grund der Zugänglichkeit großer Zellzahlen und der Möglichkeit des Einsatzes wirkungsvoller Selektionsmechanismen die Situation vielleicht nicht so aussichtslos wäre, wäre die Strategie von vornherein nicht so attraktiv. Ähnliche Ziele könnten nämlich viel leichter ausgehend von bereits existierenden Einzellern erreicht werden, ohne daß deshalb von künstlichem Leben gesprochen werden könnte. Auch diese Möglichkeit bietet also aus mehreren Gründen realistisch gesehen nichts wirklich Neues. Selbst wenn jedoch auf einem der vorgezeichneten Wege ein in spektakulärer Weise neuartiges Lebewesen entstehen würde, wäre der "Erfinder" dieses Lebewesens dann eine Art von Schöpfer, wäre er damit gottähnlich geworden, wie es uns der Autor der Betriebsanleitung des anfangs erwähnten Gentechnikbaukastens verspricht.? Auch in diesem Fall wäre diese Interpretation wesentlich übertrieben. Der Produzent dieses Lebewesens wäre weiterhin nicht mehr als ein besonders kompetenter Nutzer von Prinzipien, die auf Naturgesetzen beruhen und die sich im Verlauf der Evolution entwickelt haben und möglicherweise von einem Schöpfergott programmiert wurden. Der Produzent des neuen Lebewesens selbst hätte nur durch Ausnutzung dieser Prinzipien die unglaubliche Variabilität dessen, was in der Natur bereits existiert, um eine Kuriosität bereichert. Ob er damit "künstliches Leben" geschaffen hätte, wäre eine Frage der Definition, aber eigentlich nicht von großer Bedeutung.

Für die Nutzung der Gentechnik ist die Realisierung des diskutierten Gedankenexperiments kein attraktives Ziel, da es erstens utopisch ist und zweitens nichts fundamental Neues bringen würde. Aus denselben Gründen ist unser Experiment auch nicht gefährlich. Sowohl die realistischen Chancen der Gentechnik als auch deren tatsächliche Risken liegen in ganz anderen Bereichen, die im Rahmen der Veranstaltung sicher zur Sprache kommen werden, auch wenn sie mit dem Thema künstliches Leben nur wenig gemeinsam haben. Der Wissenschafter, der sich mit dem, was er mit gentechnischen oder ähnlichen biologischen Methoden lernt oder leistet, seriös auseinandersetzt, fühlt sich keineswegs gottähnlich oder schöpfergleich. Weil er sich der Komplexität von Lebewesen viel mehr bewußt wird als ein oberflächlicherer Betrachter, wird er auch noch mehr über die Wunder der Natur staunen, selbst wenn er sie zu einem wesentlichen Teil auf molekularer Ebene erklären kann. Dabei wird dieses Staunen weitgehend unabhängig davon sein, ob er an einen persönlichen Schöpfer des Lebens glaubt, oder ob er annimmt, daß das Leben auf der Erde spontan und zwangsläufig auf Grund der "ewigen" Naturgesetze entstanden ist, was vielleicht im Vergleich zur Schöpfung durch den "Supergentechnologen" Gott das noch größere Wunder ist oder wäre.