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Ars Electronica 1993
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Die neuen Erben Frankensteins


'Klaus Madzia Klaus Madzia

Der Schöpfer erschafft seine Welten am liebsten morgens, nach der ersten Tasse Kaffee. Den lieben langen Tag wachsen, gebären und sterben seine Kreaturen dann, ohne daß er sie eines Blickes würdigt. Erst abends, kurz vor dem Einschlafen, schaut er, wie's in seinem Kosmos steht. Ein paar hundert Generationen haben inzwischen ihr kurzes Leben gelebt: unentwegt auf der Suche nach Nahrung, ständig auf der Flucht vor bösen Raubtieren und immer gierig nach Sex. Die Erfolgreichen konnten ihre Gene an die Nachkommen vererben und haben so ein Stück Unsterblichkeit erlangt. Die Unterlegenen sind ausgestorben.

Der Schöpfer selbst wohnt im Garten Eden der modernen Computerwelt: Im kalifornischen Silicon Valley, der Geburtsstätte von Chips und Personal Computern. Er heißt Larry Yaeger und auf seiner Visitenkarte steht, in typisch amerikanischem Understatement, Gott des "Mikrokosmos". Yaeger könnte Roadie für die kalifornische Rockgruppe Grateful Dead sein: schwarze, speckige Lederjacke, ein Bauch, der seine 42 Jahre verrät, schulterlange, silberne Mähne und dicke Ringe an den Fingern. Doch er ist ein moderner Erbe Dr. Frankensteins: ein Forscher, der sich der jungen Wissenschaft "Artificial Life" verschrieben hat – der Lehre, die beschreibt, wie in toter Materie Leben wächst.

Die Ziele der Forscher sind hoch gesteckt. Sie wollen die letzten Geheimnisse des Lebens entschlüsseln: erkennen, wie die Natur aus Chaos Ordnung schafft; verstehen, wie Leben auf unserer Erde entstehen konnte; und einige wollen den ganz großen Wurf. selbst ein Stück Unsterblichkeit erhaschen.

Deshalb erschafft Yaeger seit drei Jahren täglich neues, künstliches Leben – nur besteht das nicht aus den Natur-Zutaten Eiweiß, Kohlenstoff und Fett. Yaegers Geschöpfe sind nur elektronische Impulse in den fingernagelgroßen Chips eines Super-Rechners namens "Iris", hergestellt von der Firma Silicon Graphics.

Jedes seiner Wesen ist ein kleines Programm, das die Funktionen des Lebens nachahmt und dabei, so behaupten zumindest die Artificial-Life-Forscher, selbst lebendig wird. Yaeger nennt seinen Computer-Kosmos "PolyWorld", die Welt der Vielecke, weil seine Geschöpfe nur als farbige Klötzchen auf dem Computerschirm sichtbar sind. Meine "Tierchen", so der Wissenschaftler liebevoll, "erfüllen alle wichtigen Kriterien, nach denen wir Leben definieren. Sie haben einen Stoffwechsel, pflanzen sich fort, agieren mit ihrer Umwelt und entwickeln sich weiter, unter dem Druck von Selektion und Auslese."

Die Artificial-Life-Forscher simulieren Leben im Computer, indem sie ihren Kreaturen mit Hilfe eines Steuerprogramms ein paar einfache "Triebe" mitgeben, wie: "Suche nach Futter" oder: "Versuche dich fortzupflanzen". Zum anderen konstruieren sie per Software eine Art "Welt" – komplett mit digitalen Kontinenten, elektronischer Flora und Fauna. Einmal in dieser Computerwelt losgelassene Programme beginnen zu wachsen, verändern sich, mutieren und entwickeln in kurzer Zeit ein Verhalten, das dem von lebendigen Wesen durchaus ähnelt. Computervögel beispielsweise bilden beim Fliegen selbständig einen Schwarm, ohne, daß es ihnen einprogrammiert worden wäre.

Wer Yaegers kleine Computerwelt eine Viertelstunde lang betrachtet, zweifelt nicht daran, daß da auf 1.230 Quadratzentimeter Bildschirmfläche lebendige Wesen wuseln. Lautlos flitzen die Kreaturen über eine schwarze Mattscheibe; manche trudeln ziellos umher, andere scheinen zielstrebig nach viereckigen Futterstücken zu jagen. je nach "Seelenzustand" verändern die künstlichen Organismen ihre Körperfarbe: Die Grünen haben Hunger, die Blauen wollen sich vermehren, und die Roten sind in Kampfstimmung.

Yaeger hat seine Poly-World-Geschöpfe großzügig ausgestattet: jedes besitzt einen Satz aus 2.500 digitalen Genen, deren einzelne Werte zum Beispiel festlegen, wie groß, wie schnell, ja, sogar wie "klug" das Kunstgeschöpf ist. Sinnesorgane ermöglichen Yaegers Tierchen, ihre Umgebung zu erkennen, und – wie bei lebenden Organismen – ein Netzwerk aus Gehirnzellen ist für Reaktionen verantwortlich: Sie "fühlen" Müdigkeit, sie "spüren" Angst vor Feinden.

Während ihres kurzen Lebens lernen die Poly-World-Tierchen aus Eindrücken, etwa schneller Futter oder einen Partner zu finden. Konsequenz: Sie knüpfen oder kappen Verbindungen zwischen ihren digitalen Gehirnzellen. Manchmal verblüffen die Kreaturen den Schöpfer mit ihrem Verhalten: "Ein paar Organismen sind auf den Gedanken gekommen, immer am Rand der Poly-World zu kreisen, was ihnen ein relativ sicheres Leben ermöglicht." Darauf wäre er nie gekommen, versichert Yaeger.

Einmal erlernte Fähigkeiten vererben zwei sich paarende Wesen an ihre Nachkommen. Ein männliches und ein weibliches Klötzchen sprinten aufeinander zu, auf dem Bildschirm ist ein kleiner Funke zu sehen – und schon kriecht ein kleines, drittes Klötzchen durch die Gegend. Der ganze Akt dauert nur wenige Sekunden.

Auch an die letzten Dinge hat Yaeger gedacht: immer wenn ein Poly-World-Tierchen stirbt, verwandelt sich sein Körper in grünes Futter, das dann oft von den Nachkommen gierig verspeist wird. Ein Dutzend hat sich denn auch einmal zu einem regelrechten Kannibalen-Kult zusammengefunden: Stundenlang kreisten Söhne, Töchter und Eltern umeinander, um sich irgendwann zu vertilgen – auch eine erfolgreiche Überlebensstrategie, wie ihr Schöpfer trocken kommentiert. Seine Poly-World ist eine verdammt unangenehme Welt zum Leben.

Was treibt jemanden wie Larry Yaeger zu solch einem Lebenswerk? Wozu brauchen wir Leben im Computer? Eigentlich genügen doch schon die wildgewordenen Schreibprogramme, die kaum ein Mensch richtig bedienen kann. Yaeger zögert mit der Antwort, spielt mit den Ringen am Finger: "Ich möchte mit meiner Arbeit dazu beitragen, daß aus dem Computer endlich ein intelligentes Wesen wird."

So will er zum Beispiel einen Forschungs-Assistenten, "den ich nicht programmieren muß, sondern dem ich einfach sagen kann, was ich will".

Schon seit den fünfziger Jahren jagen die Programmierer diesem letzten Ziel ihrer Arbeit nach: dem Programm, das alles Programmieren überflüssig macht; doch das Versprechen, in wenigen Jahren sei der Computer sapiens Wirklichkeit, erwies sich vornehmlich als plumpe Propaganda, um Forschungsgelder von Industrie und Militär zu kassieren.

Die Artificial-Life-Forscher wie Larry Yaeger kupfern dagegen frech beim Vorbild Evolution ab. Warum nicht erst mal einfachste Organismen elektronisch nachbauen und im Computer eine darwinistische Umwelt simulieren? In der Hoffnung auf das "Survival of the fittest", auf das Überleben der Tüchtigsten, soll sich Intelligenz im Speicher dann von selbst entwickeln. So ganz nebenbei wollen die Wissenschaftler dabei auch erfahren, ob die Menschwerdung nur ein einmaliger Kunstfehler der Schöpfung war oder ob sie sich zwangsläufig am Ende auch im Computer wiederholt.

Der Vorteil: Anstatt ein paar Millionen Jahre zu warten, spielt Kollege Computer den Göttern vor dem Bildschirm die Entwicklung von Tausenden Arten, die Entwicklung von Generationen in ein paar Stunden vor.

Doch so weit sind die EDV-Frankensteins noch nicht. Larry Yaeger spürt noch kein "Mitleid", wenn er den "Aus"-Knopf drückt, und ganze Hundertschaften seiner Poly-World-Tierchen in den elektronischen Hades fliegen. "Wir sind ja erst auf dem Niveau einer Wasserschnecke." Zum Glück für Yaeger hat sich noch keine Gruppe "Freiheit für alle elektronischen Laborwesen" gegründet.

Aber als wir über den Moment nach dem Drücken des Aus-Schalters reden, wird Yaeger plötzlich nachdenklich. Ich verrate jetzt mal den wirklichen Grund, warum ich Artificial Life verfallen bin. Ich möchte kurz vor meinem Tod gern die Möglichkeit haben, mein Wissen, meine Intelligenz, mein ganzes Bewußtsein in den Rechner zu kopieren, um so in den Chips weiterzuleben." "Wahrscheinlich", sagt Yaeger mit einer ganzen Menge Bitterkeit in seiner Stimme, "wahrscheinlich werde ich das nicht mehr erleben, aber vielleicht hilft meine Arbeit, daß die nächste Generation diese Möglichkeit hat, den Tod zu besiegen."

Diese Sehnsucht nach Unsterblichkeit treibt auch andere Jünger des Kunstlebens. "Verdammt, ich find' das einen ziemlichen Betrug, daß wir nur 100 Jahre leben können", sagt Denny Hillis, Computerforscher und erfolgreicher Unternehmer aus Cambridge im US-Staat Massachusetts. Wir sitzen in einem Büro seiner Firma "Thinking Machines Corporation", und Hillis stöhnt: "Ich will 10.000 Jahre leben, ich hab' genug Projekte, die ich realisieren möchte." In seinen 35 Lebensjahren hat er bisher schon eine Menge geleistet. Getrieben von der Idee, den denkenden Computer zu konstruieren ("eine Maschine, die stolz auf mich ist"), entwarf er 1986 – noch während des Studiums am renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT) – seinen Superrechner: die "Connection Machine", einen mattschwarzen, mannshohen Schrank mit unzähligen rot blinkenden Lämpchen. Jedes steht für einen der 65.536 Mikroprozessoren, die im Inneren eifrig rechnen. Dank ihrer enormen Geschwindigkeit sind Hillis Kisten ein Verkaufsschlager; Unternehmen wie American Express durchleuchten damit die Kaufgewohnheiten ihrer Kreditkartenkunden.

Und die Architektur seiner "Connection Machine" eignet sich hervorragend für Artificial-Life-Programme. jeder der 65.536 Chips simuliert ein eigenes Kunstlebewesen, und so laufen Programme wie die von Larry Yaeger natürlich wesentlich schneller. Hillis liefert sozusagen das Terrarium mit Turbowachstums-Garantie fürs Kunstleben.

Nur einen Steinwurf von Danny Hillis Firmenbau entfernt tüfteln Forscher des MIT schon am Kunstleben zum Anfassen: pudelgroße Roboter, die, beseelt von Artificial-Life-Programmen, auf sechs Beinen durch die Welt kriechen. Die Idee stammt von dem Australier Rodney Brooks.

Entnervt von den leeren Versprechungen der Rezeptbuch-Informatiker um Marvin Minsky und ihren gescheiterten Projekten ("Ein Roboter brauchte drei Stunden, um einen Turm aus Bauklötzchen zu errichten"), begann er 1985, das Denken anhand winziger Insektenroboter zu studieren, die wenig mehr können müssen, als geschickt durch die Gegend zu kriechen.

Brooks und ein paar Studenten bastelten aus Blech, Leuchtdioden, Modellmotoren und – natürlich – Computer-Chips ihre Mobile Robots, kurz auch Mobots genannt, zusammen. Die Tierchen erlangten in wenigen Jahren Weltruhm, schmückten die Titelseiten von Wissenschaftsmagazinen, und selbst die US-Raumfahrtbehörde Nasa begann sich für die intelligenten Kunstviecher als Astronautenersatz zu interessieren.

Brooks legt inzwischen ein Urlaubssemester ein; sein Meisterstudent Colin Angle, gerade 24 Jahre alt und schon ungekrönter Großmeister der Mobots-Zunft, hat gerade in Boston die Garagenfirma "IS Robotics" gegründet. Stiller Teilhaber: Brooks.

Colin bastelt derzeit mit seiner Frau, seinem besten Freund und ein paar Kumpels im 14-Stunden-Tag seine mechanischen Wesen: "Billig, schnell und ein bißchen außer Kontrolle", so sein Motto. Ausgestattet mit allerlei Sensoren, spüren auch Angles Mobots, was vor und neben ihnen kriecht; sein Design erlaubt inzwischen sogar, daß die Kunsttierchen miteinander palavern.

Schon bald soll es kleine Roboter geben, die man in die Röhren von Kernkraftwerken schicken kann. Für "Wartungs- oder Reparaturarbeiten". Oder noch besser: "Eine Herde schuhgroßer Staubsaug-Mobots, die in den dunklen Ecken des Wohnzimmers warten, bis Schmutz auf dem Boden ist, und dann von sich aus losflitzen und den Dreck wegputzen." Ein Dutzend sollte für den Hausgebrauch genügen, glaubt Angle. Für Junggesellenwohnungen vielleicht ein paar mehr.

Ohne seine Mobots bliebe die Artificial-Life-Forschung stecken, sagt Colin Angle. "Schließlich kann sich Intelligenz nicht ohne Reize von außen entwickeln." Nur im Speicher Leben zu simulieren sei zwar notwendig, aber langweiliges Schwarzbrot. Richtig spannend, richtig "cool" wird das Kunstleben erst mit seinen Tierchen.

Um das zu beweisen, zeigt uns Angle eines seiner Geschöpfe. Er holt seinen "Genghis II" aus einer Versandschachtel: Genghis II erinnert vom Gewicht (1,5 Kilo) und Aussehen her stark an einen Blechhuminer. Ein bißchen schwerfällig schiebt er sich mit seinen sechs Beinchen über den Teppich. aber recht gekonnt steigt er über Hindernisse wie Lötkolben, Strommesser oder herumliegende Bücher.

Selbst als Angle eines der sechs außer Gefecht setzt, marschiert Genghis II unbeeindruckt weiter. Nach ein paar Minuten geht dem elektronischen Tier die Puste aus: Der Akku ist leer. "Ich hab' vergessen, ihn aufzuladen", entschuldigt sich Angle. Die Software, die Genghis II hilft, mit der Umwelt zurechtzukommen, basiert natürlich auch auf Artificial-Life-Techniken.

Noch vom MIT kennt Angle die 31jährige Belgierin Pattie Maes, die die Lauf-Programme für Genghis-Vorläufer erdacht hat. Für sie ist die Artificial-Life-Forschung die berufliche Wunschkombination: "Ich wollte eigentlich Biologie studieren, weil meine Eltern Ärzte sind, aber man sagte mir, damit sei kein Geld zu verdienen." Also entschied sich Pattie für die Informatik und begann in Brüssel, an Projekten rund um den intelligenten Computer zu arbeiten. Theorien der Verhaltensforscher Konrad Lorenz und Nikolaas Tinbergen erschienen ihr immer als eindimensional, zu beschränkt, um das Verhalten von Tier und Mensch zu erklären. Pattie begann, im Computer das merkwürdige Zwischenspiel aus Wünschen, Trieben und äußeren Reizen nachzuahmen: zuerst am Beispiel von Ameisen, jetzt sind Hunde dran.

Selbst für den Heimcomputer gibt es schon Artificial-Life-Programme: Ken Karakotsios, 33, entwickelte in zwei Jahren das Spiel SimLife, "mit dem man mal zu Hause Gott spielen kann", wie Karakotsios verspricht. Feierabend-Götter können neue Tiere und Pflanzen erschaffen und auf dem Bildschirm beobachten, ob sie eine Chance im harten Evolutionskampf haben. 70 Dollar kostet das Spiel.

Längst schon interessiert sich auch das Militär für Artificial Life. Die ersten praktischen Anwendungen dieser neuen Forschungsrichtung werden Waffen sein", prophezeit US-Buchautor Steven Levy*, der Anfänge und Hintergründe des Kunstlebens recherchierte. "Robotergesteuerte Panzer, lernende Raketen und Computerviren, die kein Abwehrprogramm mehr stoppen kann" werde es schon bald geben, meint Levy. "Das Pentagon hat das Feld klar im Auge." Mögen auch die Kampfmaschinen ohne Menschen funktionieren, warnt Levy, "die Opfer werden Menschen sein".

Aber mehr noch: Mit Artificial Life könnten wir Menschen uns als Spezies auch das eigene Grab schaufeln. Denn wer garantiert daß die künstlichen Wesen, erst einmal dem Speicherzeitalter entwachsen und durch keinen Schalter mehr abzustellen, noch mit uns Biomassen zusammenleben wollen. Ein prominenter Artificial-Life-Denker: "Gut, daß die Öffentlichkeit nicht so genau merkt, woran wir arbeiten. Sonst hätten wir mit mehr Widerständen zu kämpfen." "Bis die Bürger unsere Forschung verstanden haben, ist es wahrscheinlich zu spät, den Stecker zu ziehen".

Wir danken dem Gruner & Jahr Verlag für die Abdruckgenehmigung.