www.aec.at  
Ars Electronica 1993
Festival-Programm 1993
Back to:
Festival 1979-2007
 

 

Können wir Methusalem überleben?


'Matthias Wabl Matthias Wabl

Niemand möchte alt sein, wohl aber möchten die meisten alt werden. Die beiden Fragen, die viele von uns hier interessieren, lauten: Können wir den Prozeß des Alterns zum Stillstand bringen? und: Können wir wesentlich länger als hundert Jahre leben? Diese beiden Fragen können – müssen aber nicht – in einem Zusammenhang stehen.

Es scheint natürlich, daß wir, von Unfällen und Krankheit einmal abgesehen, an "Altersschwäche" sterben. Der Tod wird als das Ende eines hinfällig gewordenen Körpers gesehen. Könnten wir das Altern erklären, so bräuchten wir, wie es scheint, den Tod nicht zu erklären. Für Menschen hat diese Sicht einige Vorzüge. Gleichzeitig reden wir jedoch in der Alltagssprache von der Lebens"uhr", die abläuft. Diese Metapher impliziert nicht, daß wir, um zu sterben, alt werden müssen. Alle Bestandteile einer abgelaufenen Uhr können noch wie neu und somit funktionstüchtig sein und die Uhr kann wieder aufgezogen werden. Im Gegensatz dazu sind zu dem Zeitpunkt, da wir angenommen an Herzversagen sterben, das Herz und auch die meisten anderen Teile unseres Organismus allgemein in einem ziemlich schlechten Zustand.

Der Tod hat viele Bedeutungen, aber für unseren Zweck hier sei er das Ende der Existenz eines besonderen menschlichen Wesens, d.h. die Auflösung eines mehrzelligen Organismus. Wir alle bestehen aus vielen Zellen und obwohl jeden Tag viele dieser Zellen absterben, bedeutet der Tod dieser Zellen nicht den Tod des Individuums. Im Gegenteil, der Zelltod ist für die Fortdauer des Lebens des Individuums sogar unabdingbar. So werden Zellen, die von Krankheitserregern befallen sind, von unserem Immunsystem getötet. Und die Zellen der äußeren Hautschicht sterben, so wie viele verschiedene andere Zelltypen ab, um durch neue ersetzt zu werden. Wenn dieser normale, im Programm vorgesehene Zelltod nicht mehr stattfindet, können sich Tumore bilden, die unter Umständen den gesamten Organismus töten. In diesem Fall leben die einzelnen Zellen viel länger als vorgesehen und können sogar die Person, deren Bestandteil sie waren, überleben: so etwa werden die Krebszellen einer Frau, die vor vierzig Jahren starb, weiterhin in Kultur gehalten und leben somit heute noch in vielen Laboratorien in der ganzen Welt.

Die Bestandteile unseres Organismus werden systematisch und jeweils wenn erforderlich ersetzt; ähnlich den gotischen Kathedralen, die, aus Sandstein erbaut, im Laufe der Jahrhunderte kontinuierlich erneuert wurden, sodaß nahezu keiner der heutigen Steine schon Bestandteil der ursprünglichen Baustruktur war. Warum aber schauen wir dann, wie die Kathedralen, immer gleich aus? Der Grund liegt darin, daß es für den Bauherrn offenkundig ist, wie ein Stein ersetzt werden muß; und für den Fall eines Wiederaufbaus nach einer großen Katastrophe werden die Baupläne der Kathedrale im Pfarrhaus unverändert aufbewahrt. Für die Zellen ist dergleichen aber nicht selbstverständlich, die Baupläne für uns werden im Inneren eben jener Zelle, die es zu ersetzen gilt, aufbewahrt. Ehe die Zellen ersetzt werden, müssen die Baupläne kopiert werden und dies ist jener Moment, da es mitunter zu harmlosen, manchmal aber zu gravierenden Fehlern kommt. Es kann durchaus sein, daß die neuen Zellen mit solchen Fehlern "besser dran sind" als ihre Vorgänger; beispielsweise daß sie schneller wachsen. im allgemeinen ist dies jedoch für den Organismus insgesamt nachteilig: in unserem Beispiel des rascheren Zellwachstums kann es zu einem Tumor kommen. Ein Korrekturlesen der Bauplankopien kann die Fehlerquote verringern, aber nicht alle und jeden Fehler ausmerzen. Diese Tatsache ist eine Konsequenz aus einem berühmten thermodynamischen Gesetz, – eine der Säulen der heutigen Physik. Die Akkumulation von Fehlern führt im Zeitverlauf zu größer werdenden Veränderungen in der Architektur unseres Organismus und da diese wie oben dargelegt, in der Regel nicht zu seinem Vorteil sind, ist Altwerden das Ergebnis.

Wie können wir dann jemals jung sein? Wir, als homo sapiens, existieren seit mehr als hunderttausend Jahren, während derer in unseren Bauplänen viele Fehler aufgetreten sein müssen. Selektion, lautet die Antwort auf diese Frage. Als Individuen beginnen wir alle mit dem befruchteten Ei, das eine einzelne Zelle ist. Dieses Ei hat einen Bauplan, der während der Entwicklung des Embryos immer wieder getestet wird. Viele Embryos entsprechen nicht und sterben ab. Und wenn während der Kindheit ernsthafte Fehler offenkundig werden, erreicht die betreffende Person nie jenes Stadium der sexuellen Reife und sozialen Akzeptanz das erforderlich ist, um der folgenden Generation von Kindern ihren Bauplan weiterzugeben.

Die Physik besagt, daß es unmöglich ist, die Baupläne unserer vielen Zellen fehlerfrei zu kopieren und daß es daher unmöglich ist, für immer auf dieser Welt zu bleiben. Aber wie lange könnten wir leben? Tausend Jahre anstatt hundert? Die durchschnittliche Lebensdauer scheint ein Charakteristikum der Spezies zu sein: Zum Beispiel lebt eine Maus etwa zwei Jahre, ein Hund zwanzig Jahre und Mammutbäume können tausend Jahre alt werden. Unsere Frage lautet jetzt: Was bestimmt die durchschnittliche Lebensspanne eines Individuums einer gegebenen Spezies? Es liegt auf der Hand, daß die Originaltreue, mit der die Baupläne der Zelle kopiert werden, ein Faktor sein muß, vielleicht sogar der wichtigste. Die Korrekturlesesysteme werden von eben jenem Bauplan, der in allen Zellen vorhanden ist, geerbt. Sie bestehen aus mehreren Enzymen, die als Biokatalysatoren fungieren. Wären wir in der Lage, unsere Korrekturlesesysteme zu verbessern, oder bessere Systeme von einer anderen Spezies auf uns zu übertragen, würden wir eventuell viel länger leben.

Ist es vorstellbar, daß wir Biokatalysatoren, die das Leben verlängern könnten, indem sie das Altern verlangsamen, in uns verpflanzen? Im Prinzip sind in unserem Organismus die Verfahren zur Einführung fremder Baupläne für jeden Biokatalysator vorhanden; sie sind in den sogenannten rekombinanten DNA-Techniken vorgesehen und ihre Endgültige Anwendung an einer (hoffentlich freiwilligen) Person läuft auf nicht viel mehr als auf eine Spritze hinaus, ähnlich einer Impfung. Das heißt nicht, daß wir in der Lage wären, das Leben heute oder morgen wesentlich zu verlängern. Aber es gibt a priori keinen Grund, warum das in absehbarer Zeit nicht möglich sein sollte. Wir könnten Methusalem, der es auf 969 Jahre gebracht hat, durchaus überleben. Reden wir wieder über diese Sache in tausend Jahren oder so!