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Ars Electronica 1993
Festival-Programm 1993
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Festival 1979-2007
 

 

Zeitpflanzen – eine elektrochemische Prozessinstallation


'Tassilo Blittersdorff Tassilo Blittersdorff

"Kein Blatt ist einem anderen ident, doch haben alle Blätter einer Pflanzengattung gewisse Charakteristiken, die sie als zu dieser Gattung gehörig ausweisen. Der Spielraum für Variationsmöglichkeiten ist bei der Bildung galvanischer Metallablagerungen ungleich größer, …"

Tassilo Blittersdorff
Seit mehreren Jahren beschäftigt sich Tassilo Blittersdorff mit dem künstlerischen "Spielraum" von galvanischen Metallablagerungen: Er installiert Bildwerdungsprozesse als in sich geschlossene Installationssysteme, die in jedem Moment Entstehung produzieren. Der initiierte Prozeß der Metallablagerungen läßt sich nur sehr beschränkt steuern – das entstehende Bildprodukt verweist sowohl auf vorbekanntes "Bild"ordnungswissen wie auf Chaos.
"Wie bereits mehrfach besprochen gibt es in unserem Universum nichts, was nicht irgendwo zwischen Ordnung und Chaos angesiedelt wäre.“ (1)
Die zunächst frappante Ähnlichkeit zum Erscheinungsbild der Wachstumsprozesse von Pflanzenstrukturen läßt eine optische Schleife von den – betont funktional gestalteten – chemisch-technisch-naturwissenschaftlichen (unbelebten) Grundbedingungen des Prozesses zu einer bio-(also lebens-)logischen Wirklichkeit entstehen: Dieser organische Bezug auf einer visuellen Zuordnungsebene stellt sich jedoch in prägnanten Kontrast zu den ausschließlich anorganischen Ingredienzien des installativen Aufbaues.
"Kunst: eine andere Natur, auch geheimnisvoll, aber verständlicher; denn sie entspringt aus dem Verstande.“ (2)
Tassilo Blittersdorffs Installation in ihrer Reduktion auf eine apparative Genese rückt deutlich von in diesem Sinne formulierten erkenntnisgebenden Gleichungen ab – Kunst ist hier nicht das "Kompliment der Natur" (Novalis), sondern eine Annäherung an einen Blick nach außen in einen vom Menschlichen abgerückten Prozeßbereich. Bei aller durch die menschliche Subjektivität eingetrübten Relativität dieses Blicks existiert hier dieses Andere als bewußt erkannte Bezugsgröße – sei es auch nur in einem sehr kleinen Detailausschnitt – jenseits eines "allgemein Humanen" mit seinem Definitionsanspruch auf jede Erscheinungsform von Wachstum.
"Die Freiheit liegt hier wie so oft im Detail, das von den normierenden Vorgaben leichter abweichen kann: Die Verästelungen, die Varianten in Form und Farbe sind die 'Selbstdarstellungen' der galvanischen 'Pflänzchen', die in ihren 'Hohlkammerplattengewächshaus' garantiert ohne manipuliertes Genmaterial entstehen."

T. Blittersdorff
Die galvanische Installation des Künstler verweist in diesem Sinne aber auch auf eine analytische Position jenseits der Beschränkung auf eine Suche nach Entsprechungen:
"Kunst ist nicht, wie der Idealismus glauben machen wollte, Natur, aber will einlösen, was Natur verspricht.“ (3)
Blittersdorffs Installation verweigert sich auch diesem Ansatz, sie will letztlich kein Versprechen einlösen, weder im Hinblick auf menschliche Assoziationsgewohnheiten – vgl. etwa die Prägnanz der rein optischen Gleichung Pflanzenwachstum – galvanisches Wachstum – noch auf die traditionell naturwissenschaftliche Technik des Messens. Beide Bereiche werden im Verlauf des vom Künstler initiierten Wachstumsprozesses schließlich immer deutlicher in ihrer ironischen Zitatfunktion erkennbar, da sie in jedem Fall eine rein tautologische Situation aufzeigen – sowohl beim meßtechnischen Zugang wie auch bei der "stilkritischen" Gleichsetzung von Bildern.

Die Redundanz dieser Informationen verweist auf einen Endpunkt, der jedoch wiederum eine neue Aufmerksamkeit auf die einzelnen Faktoren selbst richtet. Auch hier – wie bei der Installierung der galavanischen Wachstumsvoraussetzungen – fungiert der Künstler als Katalysator, der einen Prozeß in Gang bringt ohne jedoch selbst daran teilzunehmen:

Das Wachstum bei seinen galvanischen Arbeiten präsentiert sich als energetischer Austausch, als Transformation, auch als Aufbau eines Form-und-Farbe-Dialoges. Sie bauen auf drei entscheidende Parameter auf, die jeweils einen seriellen Ablauf bedingen: Die Zeit als Dauer des Wachstumsprozesses, die Distanz – der Abstand zwischen den beiden Elektroden bestimmt die Geschwindigkeit des Wachstums und die Gestaltungsvarianten – und die vorhandene und aufgeteilte Energiemenge.

Die Installation "Zeitpflanzen" formuliert einen speziellen Bezug zu erstgenannten Parameter – sie baut gleichsam ein Kalendarium einer fiktiven Botanik auf: Nicht als virtuelle Parallelschöpfung, sondern als skeptisch-ironische Gestaltung einer lokal definierten Modellsituation des Wachstums, die sich einer möglichst modellunabhängigen Auseinandersetzung mit einem existierenden Außen annähert.
"Der Herr … möchte mit Spaghetti Mikado spielen, das geht aber nicht." (4)

Oswald Wiener (4)
Peter Assmann


(1)
Binnig, Gerd: Aus dem Nichts. Über die Kreativität von Natur und Mensch, München 1989. S. 172. zurück

(2)
Goethe, Johann Wolfgang: Berliner Ausgabe. Hrs. S. Seidel. Berlin––Weimar 1972, Bd. XVIII, S. 637. zurück

(3)
Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften. Bd. VII, Frankfurt/Main 1970, S. 103. zurück

(4)
Schmatz, Ferdinand: Sinn und Sinne, Wien 1992, S. 74. zurück