Spurenapparat
'Thomas Feuerstein
Thomas Feuerstein
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'Klaus Strickner
Klaus Strickner
ANMERKUNGEN ZU EINER KUNST IM APPARATESTADIUM – ODER VON DER SEMANTISCHEN KORRESPONDENZ ZUR STRUKTURELLEN KONTINGENZ
"Ziehen wir also den kühnen Schluß, daß der Mensch eine Maschine ist und daß es im ganzen Weltall nur eine Substanz gibt, die freilich verschieden modifiziert ist. "
J.O.
La Mettrie, 1747 Angefangen bei Aristoteles bis zu aktuellen Strömungen der Autopoiesis fasziniert der Gegensatz zwischen lebenden Systemen, die Autonomie erkennen lassen, und allen übrigen natürlichen Dingen und künstlichen Artefakten. Obwohl bei Aristoteles das künstliche Bild (eikòn technete) und das natürliche Bild (eikòn physiké) strukturgleich sind, zeichnen sich die Naturdinge, nämlich "die Geschöpfe und deren Teile, die Pflanzen und die einfachen Körper, Erde und Feuer und Luft und Wasser" (Phys. 192b) gegenüber den Artefakten dadurch aus, daß sie den "Ursprung für Ruhe und Bewegung" (ebd.) in sich selbst haben. Technik und auch bildende Kunst sind demnach an das klassische Programm von imitatio und perfectio bestimmter Wirkungen gebunden, können aber die letzte Wirkursache nicht in sich tragen. Mit Anbruch der Neuzeit beginnt sich die Perspektivierung "künstlicher Bilder" auf "natürliche Vor-Bilder" zu verkehren. Komplexe Ganzheiten werden zunehmend im Sinne eines wissenschaftlichen Objektivismus auf ein Maschinenbild projiziert. Die Maschine fand demgemäß lange vor der industriellen Revolution ihre symbolische Antizipation ihrer späteren realen Herrschaft, was sich bekanntlich in den Diskursen des 16., 17. oder 18. Jahrhundert deutlich ablesen läßt. Etwa Vasari zog metaphernhaft die Maschine zur Beschreibung Brunelleschis Kuppelbau des Florentiner Domes heran, indem er diesen als eine "erstaunliche Maschine" würdigte.
Von Descartes über Leibniz, La Mettrie oder mit Einschrânkungen auch Kant ließe sich ein historische Bogen der Installierung eines Maschinenbildes für Lebewesen nach zeichnen, bei der ein rationalistischer Maschinenbegriff zum ontologischen Garanten für die Erkennbarkeit der Welt wurde. Descartes umstrittene Behauptung, daß Organismen in der Art von Automaten oder Maschinen funktionieren, bedeutete eine Naturalisierung der Mechanik und eine Mechanisierung der Natur. "Autonome Systeme sind mechanistische (dynamische) Systeme, die durch ihre Organisation bestimmt sind", sagt Francisco Varela (1987, S. 121), womit man den angerissenen historischen Bogen einer Installierung eines Maschinenbildes für Lebewesen, in modifizierter Form autopoietischer Maschinenmodelle, schließen könnte.
"Jedes Werk sowohl der Natur wie auch der Kunst ist ein System."
Bischof Joseph Butler, 1729 Denis Diderot oft zitiertes Beispiel einer fiktiven Maschine, die Bilder wie Raffael produziere, beinhaltet ein altes Paradox, das in der Unvereinbarkeit klar determinierter Fabrikationsregeln mit den Begriffen Genialität und Originalität bei der Herstellung von Kunstwerken besteht. Weder die Maschine noch die Werke, die eine solche gemäß notwendigen Gesetzen hervorbrächte, wären nach Diderot als "schön" zu bezeichnen. Schönheit erwachse in der Kunst erst durch eine scharfe Ausdifferenzierung gegenüber der Natur, die nichts als ein Haufen unendlich verschieden geordneter Moleküle sei: "Multiplizieren Sie diese Nachahmungsmaschinen (=Maschinen Raffael, Anm. d. Verf.) allüberall. Lassen Sie die Bilder in der Natur entstehen wie die Pflanzen …; und sagen Sie mir, was aus Eurer Bewunderung würde." (zit.n. Link-Heer, U., 1986, S. 106) Und an einer Stelle kurz davor schreibt Diderot, der in der Landschaft wandelnd sich mit einem Abbé im Dialog befindet: "Wenn ich hier einen Becher Würfel hätte, ich diesen Becher umwerfen würde, und sie sich alle auf den gleichen Punkt herumdrehen würden, würde dieses Phänomen sehr erstaunen? –Sehr. Und wenn alle Würfel präpariert wären, würde das Phänomen Sie dann immer noch erstaunen? –– Nein." (ebd.) Aktualität gewinnt diese Passage, transponiert man sie in den Kontext der Rechenmaschine. "Datum heißt auch Würfel" schreibt Friedrich Kittler, "und wie der voreinst ästhetische oder geordnete Kosmos der Philosophen unter technischen Bedingungen zum großen Würfelspiel geworden ist, so kann die Datenverarbeitung ihre Abtastwerte nach allen Spielregeln mathematischer Operationen noch einmal verwürfeln, bis eine Wirklichkeit tatsächlich nicht mehr vonnöten ist." (1989, S. 69) Es ist folglich nicht mehr nur all das was notwendig ist, sondern auch all das was möglich ist, der Fall. Die Dichotomie zwischen der "creatio ex nihilo" und der Fabrikation bei Vasari, zwischen der künstlerischen Intention und der Rolle der Kontingenz in der künstlerischen Produktion bei Diderot oder zwischen Schöpfer des Werkes und Machen des Zeuges bei Heidegger löst sich auf. Das Werk ist nicht länger toter Spiegel, das unter dem Deckmantel des Realismus oder Naturalismus in einer zeitlosen Bewegungslosigkeit Natur inszeniert und scheinbare Wirklichkeit repräsentiert. Es bildet seine eigene autonome Wirklichkeit mit eigener spezifischer Kontingenz. Vielleicht vergleichbar mit Eric Drexlers "engines of creation", die molekulare Computer implizieren, die aufgebaut aus komplexen Strukturen sich selbst zusammenbauen und reproduzieren können, löst sich die Kunst vom traditionellen Kunstwerk und seiner semantischen Korrespondenz und entwickelt selbständige strukturelle Kontingenzen.
Mit dem Tausch der Fremdreferenz gegen die Selbstreferenz fielen historisch betrachtet Repräsentations- und Imitationsannahmen im Bild weg. Neben der Eliminierung der gegenständlichen Welt bedurfte es zur eigenständigen Verarbeitung bildimmanenter Elemente vor allem einer Dekomposition oder Trennung des Bildes in seine einzelnen Bausteine. Diese Trennung und Verdichtung ließ das Bild in seine Elemente (Farbe, Licht, Material usf.) kondensieren. Bevor das Bild eine Neustrukturierung erfahren konnte, brauchte es eine gründliche Reduktion formaler und inhaltlicher Aspekte. Erst die Reduzierung auf wenige, aber dafür genau bestimmter Elemente ermöglichte die Anlage neuer bildnerischer Strukturen und in weiterer Folge daraus resultierend erhöhter Komplexitäten. Nachdem es nicht mehr genügte, Objekte nach dem Schema von imitatio und perfectio zu Abbildern zu transformieren, mußten verstärkt systeminterne Kriterien entwickelt werden. Das Bild mußte sich als eine Einheit, konstituiert aus einzelnen Bildelementen, erweisen, um mittels vom Künstler geschaffenen Programmen neu erdacht zu werden. Beschreibt man die Kondensation des Bildes beginnend im 19. Jahrhundert, einerseits bezugnehmend auf die Fotografie – jedem Gegenstand wird eine bestimmte Anzahl an Körnern von bestimmtem Grauwert zugeordnet –, andererseits auf Cezanne – das Bild baut sich aus klar abgegrenzten Elementen auf – als eine klassisch physikalische, so kommt mit dem Wechsel des Aggregatzustandes des Bildes die Einführung eines erstmals klar umrissenen Kombinationspieles mit distinkten Elementen bei der Bildproduktion zum Tragen. Können für die physikalische Kondensation des Bildes die Fotografie, die Malerei Cezannes oder der Divisionismus genannt werden, so könnten der Film, die Collage, die Akkumulation usw. als chemische Kondensation und der digitale Code als elektronische Kondensation begriffen werden. Allen Kondensationsprozessen gemein ist eine Dynamisierung und Temporalisierung des Bildes. Eine gegenüber dem traditionellen Tafelbild wesentlich stärkere Prozeßhaftigkeit dekomponiert das Bild in Ereigniszustände, in denen die Elemente ständig neu zugeordnet und untereinander in Bezug gesetzt werden. Ein statisches Verharren in einem Zustand wäre nur ein störendes Sistieren des Prozesses und ist den Bildern nach Änderung des Aggregatzustandes ebenso fremd wie eine linear–kausale Abbildungstransformation. Kunst befindet sich, um das genannte Beispiel nochmals aufzugreifen, in einem vergleichbaren Zustand wie die Nanotechnologie. Nach Kondensation der Objekte in ihre Elemente bedarf es in der Technik wie in der Kunst "engines of creation", um Elemente zu neuen Komplexitäten zu strukturieren.
"Vielleicht hätte es auch genügt, einfach zu sagen, daß Gott, so gut wie er körperliche Automaten gemacht hat, auch immaterielle erschaffen konnte, die die ersteren vorstellen. "
Gottfried Wilhelm Leibniz, 1710 Das Bild schuf sich seine Eigenwelt, um sich zu einem in einer Möglichkeitsstruktur angelegten Bildervorrat zu verdichten. Es wechselte seinen Aggregatzustand, indem es die eigentliche Bedeutung von Aggregat im Sinne von Anhäufung annahm und sich zu einem Imaginationsvorrat, zu einer kontingenten Vorstellung verselbständigte. Die natürliche Erscheinung der Dinge in der Welt wird dabei in den künstlichen Bildweiten der Apparate gegen die Vorstellung kontingenter Welten getauscht. Strukturell in Apparaten und Programmen angelegte Bildwelten verbrauchen ihr Medium nicht, sie produzieren und reproduzieren es mit jedem Bild von neuem. Der "künstlerische Apparat" ist somit ein unbegrenzter Vorrat an Bildern, die perfekte Kopie (lat. copia Vorrat). Der Apparat, wie Vilem Flusser definiert, als ein das Denken simulierendes Spielzeug, bietet eine Fülle von Möglichkeiten, er ist nicht nur der Inbegriff der perfekten Kopie, sondern auch das Inbild von Virtualität. Da dem künstlerischen Apparat nicht ontologisch oder mit Kategorien der klassischen Ästhetik beizukommen ist, erübrigt sich eine Trennung von technischen und künstlerischen Artefakten. Die polare Aufspaltung zwischen Kunst und Technik, zwischen dem Symbolischen und dem Realen, wandelt sich in ein antagonistisches Verhältnis. Das Werk, Ding oder Zeug der klassischen Ästhetik transformiert zum Apparat, der das Reale fiktiv und das Symbolische real erscheinen läßt.
Die Grundintention, die zum Bau des "Spurenapparates" führte, war ein möglichst einfaches Bild, beziehungsweise eine Art Allegorie von zahllosen Bildern in einem Bild zu entwerfen, das heißt einen möglichst simplen Apparat als möglichst umfangreiche Kopie. Das Verhältnis des "Spurenapparates" zum "Katalog" illustriert die Relation von struktureller zu katalogischer Kontingenz. In Anlehnung an Charles Babbages Idee einer "Maschine, die sich selbst in den Schwanz beißt" (zit.n. Hyman, A, 1987, S. 250), also zum Durchgang durch das Unendliche befähigt ist, indem sie die Welt in Teilprobleme und diese weiter in eine Folge von Einzelschritten zerlegt, wählten wir als Grundform ein mathematisches / (größer als/kleiner als Zeichen). Die Konstruktion setzt sich aus einfachen Elementen und Verbindungen zusammen, wie sie aus dem Alltag von Zollstäben geläufig sind. Der Unterschied zu einem gewöhnlichen Zollstab besteht lediglich in der regelmäßig varierenden Länge der Elemente, die um einen Quotienten (5 cm) differiert, um die symbolische Ausgangsform des / zu erzielen. Das mathematische / steht für einen Wirklichkeitsausschnitt, der von einzelnen Elementen in Zeilen zerschnitten vorliegt, auf denen wiederum eine Abfolge schwarzweißer Einzelschritte aufliegt. Das Ergebnis ist ein sich aus Kurven zusammensetzendes Wellenmuster, das je nach Aufstellung der Konstruktion im Raum und der Konstellation der einzelnen Elemente zueinander, Veränderungen unterworfen ist. Der Apparat erzeugt selbständig verschiedene Frequenzen auf Grund der durch die Installationen wechselnden Raumbezüge. Welt wird dabei nicht mittels einer äußeren Referentialität vorgetäuscht, sondern durch Wellen neu geschaffen. Vielleicht ähnlich wie Ada Lovelace, die Manebreas Artikel über die Differenzmaschine aus dem italienischen übersetzte, daran dachte Babbages Maschine zur Herstellung von Musikstücken jeder Länge und Komplexität zu nützen, bringt der Spurenapparat unvorhergesehene Kombinationen, die als Wellen gelesen werden wollen, hervor. Der Apparat ist kein Speicher wie das einstige Tafelbild oder kein Thesaurus wie die Summe einzelner Tafelbilder in einem Katalog, einer Galerie oder einem Museum. Der Apparat ist, wie sein Rezipient ein Daten verarbeitender Organismus ist, eine datenverarbeitende Maschine. Die Loslösung der Bildproduktion vom Autor und die Verselbständigung des Bildes schaffen eine eigene Welt, die ihren eigenen Gesetzen beziehungsweise den Gesetzen des Programms gehorcht. Heinz von Foerster brachte, anläßlich eines Vortrages, das einfache und deshalb vielleicht so einleuchtende Beispiel, "ob ich Information einer 1010 X 1010 Multiplikationstabelle in der Form eines 21x27 cm Buches mit einer Dicke von ca. zehn Milliarden km "speichern" sollte oder in der Form eines kleinen handbetriebenen Tischrechners, ist daher, so meine ich, ganz eindeutig". (1985, S. 134) Die Information im Tischrechner oder in einem künstlerischen Apparat wird im Gegensatz zu einer Tabelle oder einem konventionellen Bild auf strukturelle Weise gespeichert.
"Könnte der Mensch nicht selber eine Art Schmarotzer auf den Maschinen werden? Eine liebevolle maschinenkitzelnde Blattlaus?"
Samuel Butler, 1872 Interessant erscheint nicht die Forderung, das System Kunst zum Programm zu machen, sondern das einzelne Kunstwerk. Es geht nicht darum, daß ein künstlerischer Apparat das, was das System Kunst ist oder war, im eigenen System zum Programm macht. Das Programm oder der Apparat würde darin, wie es Niklas Luhmann für das "l'art pour l'art" beschreibt, den elementaren Tatbestand verfehlen, "daß Autonomie die Beziehung zur Umwelt nicht unterbindet, sondern gerade voraussetzt und reguliert". (1986, S. 626) Der künstlerische Apparat ist kein solipsistischer Operationsmechanismus, der das System Kunst ähnlich dem "l'art pour l'art" von der Welt abkoppelt. Er muß vielmehr als ein Bemühen eines weiter fortschreitenden Ausdifferenzierungsprozesses innerhalb des Systemes Kunst gefaßt werden. Ein Ausdifferenzierungsprozeß, der in einem antagonistischen und ergänzenden Verhältnis zu Interventionen und Appropriationsstrategien der Kunst außerhalb ihres eigenen Systemes steht. Apparat, Programm oder strukturelle Kontingenz beschreiben Verfahren und Überlegungen, Produkte des Systems Kunst, die man bisher immer als Werke bezeichnete, auszudifferenzieren und komplexer zu gestalten. Das Kunstwerk soll sich dabei grundlegend vom Werk – von der vollrichteten fertigen Arbeit – zu einem "Werkel", einer im Fluß befindlichen Idee wandeln.
VERWENDETE LITERATUR:
Foerster, H.v. (1985), Sicht und Einsicht, Braunschweig.
Hyman, A. (1987), Charles Babbage – Philosoph, Mathematiker, Computerpionier, Stuttgart.
Kittler, FA. (1989), Fiktion und Simulation, in: Ars Electronica (Hrsg.), Philosophien der neuen Technologie, Berlin.
Link-Heer, U. (1986), Maniera. Überlegungen zur Konkurenz von Manier und Stil (Vasari, Diderot, Goethe), in: Gumbrecht, H.U./ Pfeiffer, K.L. (Hrsg.), Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselementes, Frankfurt a.M.
Luhmann, N. (1986), Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst, in: Gumbrecht, H.U./ Pfeiffer, K.L. (Hrsg.), Stil, Frankfurt a.M.
Varela, F. (1987), Autonomie und Autopoiese, in: Schmidt, S.J. (Hrsg.), Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, Frankfurt a.M.
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