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Ars Electronica 1993
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Das Delbruck Paradox


'David Kremers David Kremers

Wir sind die erste Künstlergeneration, die sich dem Problem – nicht der Sterblichkeit – sondern der Unsterblichkeit gegenüber sieht. Mit den jüngsten Fortschritten von Biotechnologie und Computerwissenschaft zur Verlängerung des Lebens, sind die Künstler des 21. Jahrhunderts sowohl mit einer Einebnung der künstlerischen Signifikanz als auch mit einer größeren Zeitspanne des historischen Kontexts konfrontiert. Die Zivilisation wird aus diesem Dilemma eine Weltsicht hervorbringen müssen, die weniger mechanistisch ist als jene, der die industrielle Revolution Vorschub geleistet hat.

EINLEITUNG
Es stirbt niemand mehr. Nach Halley (1990) haben uns die Toten, seit dem Aufkommen der Fotografie nicht mehr verlassen. Gut möglich, daß Marilyn Monroe heute als alterslose Leinwandlegende im künstlichen Raum ein besseres Leben hat, als das, welches sie als betagte Alkoholikerin nach einem Entzug geführt hätte.

Ist es, unter der Annahme daß wir bereits im Cyberspace (Benedikt, 1991) und in verschiedenen Formen einer virtuellen Realität leben, wichtig, daß wir weiter versuchen zwischen unserem "natürlichen" und "künstlichen" Leben zu unterscheiden? Einige würden behaupten (Dietch, 1992), der menschlichen Spezies erwachse mehr Freiheit und ein größeres Potential, indem wir unseren "künstlichen" Leben mehr Beachtung schenken. Dieser Standpunkt widerspricht einer Auffassung, die noch immer der Vorstellung anhängt, daß Leben und Materie im Grunde in den einfachen Begriffen der Newtonschen Mechanik erklärt werden können. Eine aufgeklärtere Sichtweise (Schwartz, 1992) vermag in der Relativitätstheorie die natürliche Schlußfolgerung aus der Newtonschen Mechanik zu sehen und für sie ist es naheliegend, daß die Molekularbiologie anfängt, uns auf eine ganz andere Art das Leben zu sehen, vorzubereiten.

Max Delbruck, einer der Begründer der Molekularbiologie, fand, es sei paradox (Schwartz 1992), daß ein und dieselbe Substanz sich als Gegenstand der Physik in vollkommener Übereinstimmung mit den Gesetzen der Physik verhielt und dennoch durch eben diese Gesetze der Physik nicht erklärt werden konnte. Delbruck fühlte, die Antwort lag nicht im fortgesetzten Zerschnippseln der DNA–Fragmente zu gewöhnlichen Partikeln, sondern in der Erkenntnis, daß man, indem man sich selbst in einen Morast aus lebendigem Gewebe sinken ließ, das Auftauchen neuer Paradoxa und neuer Naturgesetze würde beobachten können.
METHODE UND MATERIALIEN
Wir haben kürzlich diese experimentelle Vorhersage auf die Malerei angewandt. Mittels einiger einfacher Laborverfahren entstand eine Folge von Bildern aus einzelligen Organismen, die genetisch so verändert worden waren, daß sie farbige Enzyme erzeugen konnten oder Eiweißkombinationen, die auf die genetischen Farbstoffspuren reagierten. Nach dem Malvorgang war die Arbeit vollkommen lichtdurchlässig, ein Eindruck, als wollte man mit geschmolzenem Schnee auf Eis malen. Nach einer Zeitspanne von 16 bis 18 Stunden wurde das Wachstum durch das Entfernen der Feuchtigkeit von der Platte, angehalten. Die Luftzufuhr wurde mittels eines synthetischen Harzes abgeschnitten und das Werk trat in ein Stadium des Stillstands.

Das Objekt ist, während es unveränderlich ist, weder "tot" noch "abgeschlossen". Es existiert in einem Zustand der vorübergehend unterbrochenen Animation, das Harz kann jederzeit entfernt werden, die Platte abgeschabt und Nahrung zugeführt werden und in einem Inkubationsraum tritt es in ein neues Entwicklungsstadium ein.

Das Thema der ersten Malserie wurde gewählt, um verschiedene Gesundheitszustände zu reflektieren; lebend, immun, beschädigt und sterbend. Alle Zustände treffen für Bakterien ebenso wie für Menschen zu. Darauf folgend wurden embryonale Abschnitte von frühen Entwicklungsstadien der Säugetiere gemalt, etwa die Bildung des Becherkeims aus dem Blasenkeim (Gastrulation), das paraxiale Keimblatt (Mesoderm) und die Eingeweiderundungen.
RESULTATE
Wie Delbruck es vorhergesagt haben könnte, waren die Ergebnisse ebenso aufschlußreich wie auch paradox. Die Naturwissenschaft ist vielleicht das letzte, in der Kunst noch aufrechte Tabu. Viele Betrachter sagen, daß sie sich der Kunst zuwenden um von der Naturwissenschaft und der Technologie loszukommen", während andere, deren naturwissenschaftliche Vorkenntnisse so gering sind, daß sie glauben, alles was mit Naturwissenschaft zusammenhängt, müsse auch einiges an Mathematik beinhalten, nie in der Lage sein werden, das Werk zu verstehen.

Aber sogar Betrachter, die die Arbeit nie zuvor gesehen haben, die ihr Vorwissen nur aus den Medien beziehen und die das Thema nicht erkennen können, sagen, daß "hier irgendetwas anders ist" und reagieren sehr neugierig, um die Lösung zu finden.

Das andere, selbst für den Künstler seltsame Ergebnis besteht darin, daß das Bild von einer solchen Lebendigkeit ist, die es dem Bewußtsein anscheinend verwehrt, die Topographie des Stückes zu vervollständigen. Das Gedächtnis erweist sich als nicht zuverlässig, da beim Vergleichen des Bildes mit den Diapositiven die plötzlichen Erscheinungen neuer Phänomene sich als zuvor bereits existierende Bedingung herausstellten.
DISKUSSION
Welcher Art ist das Werk, das ein Künstler, belastet von dem Wissen, daß die fertige Arbeit uns für immer erhalten bleibt, produziert? Die gegenwärtige Technologie macht Matthew Barney ebenso unsterblich wie Michelangelo. Mit einer viel längeren Lebenszeit wird nun jeder heroische Künstler seine Errungenschaften überleben. Welcher Nebenberuf ist in Anbetracht der Aussicht auf weitere 135 Jahren sinnvoll? Oder ist es die Perspektive kontinuierlich erneuerbarer jugendlicher Körperfunktionen für die vorhersehbare Ewigkeit? Welchen Stellenwert hat dann materieller Erfolg? Oder ein Platz in der Geschichte? Weshalb sich damit abmühen, Kinder zu haben?

Folgt man dem Beispiel Delbrucks, so scheint es einsichtig, daß die Zukunft um nichts mehr "natürlich" als "künstlich" sein wird. Anstatt dessen wird vielleicht unsere Art künstliche Objekte zu schaffen organischer und das begriffliche Denken wird mehr in die Alltagswahmehmung eingebunden. Viele vorgefaßte falsche Ansichten müssen wegfallen, womit wir uns in einer Zivilisation befinden, die weniger humanozentrisch als die gegenwärtige westliche Tradition ist. Wir müssen unseren Proteinchauvinismus ablegen, wenn wir darauf hoffen, die Welt mit Kunst zu infizieren.

QUELLEN

Benedikt, Michael (1991). Cyberspace, MIT Press, Cambridge
Dietch, Jeffrey (1992). Posthuman, Museum der zeitgenössischen Kunst, Lausanne.
Halley, Peter (1987). Gesammelte Essays, Bischofberger, Zürich.
Kosuth, Joseph (1991). Art After Philosophy And After, MIT Press, Cambridge.
Schwartz, Joseph (1992). The Creative Moment, Harper/Collins, New York.

Courtesy Thomas Solomon's Garage, Los Angeles