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Notizen zur Epigenetischen Kunst: die Ezechiel Serie


'Roman Verostko Roman Verostko

Absichten. In meinen über dreißig Jahren als Künstler habe ich stets versucht, wohlgefertigte Arbeiten mit ikonenhaften Qualitäten zu schaffen, die in beziehungsreicher Weise auf versteckte Realität verweisen. Solange ich mich erinnern kann, war ich immer überwältigt, wenn ich mir Zeit nahm, mir etwas wirklich anzusehen und es als "seiend" zu betrachten und dann zu überlegen, ob das Gegenteil möglich sei – "nicht zu sein". "Wie wäre es", fragte ich mich, "wenn es kein mich – keine Wolke – keine Erde gäbe? Schon früh lernte ich, mir über das "großartige" Ereignis, daß Dinge einfach "so wie sie sind" existieren, Gedanken zu machen. Innerhalb alltäglicher Phänomene lernte ich, eine "versteckte" großartige Welt voller Geheimnisse zu sehen. Mein Zugang zur Kunst erwuchs aus diesem Staunen, indem er immer voll Ehrfurcht gegenüber Materialien der Erde war und immer ein Gefühl von Staunen über die meisten Dinge beibehielt. Schließlich begann dies auch Schalttafeln, Computersprachen und die Formen, die man mit einfachen Algorithmen erforschen konnte, einzuschließen.

In diesem Essay können die Ausdrücke "Code", "Software" und "Instruktionen" abwechselnd und miteinander austauschbar verwendet werden. Generell beziehen wir uns auf kodierte Vorgänge und Algorithmen, die in ein Instruktionsprogramm für einen Computer integriert werden können.

Während der letzten zehn Jahre lang habe ich Codes geschrieben und staunte dabei über ihr Vermögen, Form mit einem Computer zu untersuchen. Codierte elektronische Verfahren verschaffen Künstlern ein grundlegend neues und wirksames Werkzeug zur Untersuchung einer wunderbaren Welt unsichtbarer Formen. jene, die ihre Kunst mit codierten Verfahren integrieren, stehen an der Schwelle einer neuen Grenze. Diese Grenze zu überschreiten, ist für einen Künstler jedoch aufgrund zweier großer Hürden schwierig. Eine davon ist die Aufgabe, Form-erzeugende Ideen in einen praktischen Arbeitscode zu übersetzen. Die andere besteht in der Suche nach geeigneten Materialien und darin, Methoden zu finden, die es möglich machen, greifbare, archivierende Qualitätsarbeit zu erzielen.

Der Code als ein Form-Erzeuger ist aber nur die halbe Mühe. Um als "Kunst" erfolgreich zu sein, muß die Form erfolgreich in etwas Greifbarem hervorgebracht werden – etwas, das man sehen, angreifen, fühlen oder hören kann. Vor einigen Jahren fragte ein Künstlerfreund von mir, als er bei einer Ulme stand: "Was gibt diesem Baum so eine kraftvolle Präsenz?" Und er antwortete, indem er anmerkte, das sei "seine Angreifbarkeit – die Tatsache, daß man seine Oberfläche befühlen könne – sein Da Sein"! Da die ästhetische Erfahrung die Sinne einschließt, kann man Kunst nicht von ihrer materiellen Körperlichkeit trennen. In meiner momentanen Arbeit beinhaltet die Form notwendigerweise das Papier, die Oberfläche, die Beschaffenheit, die Farbe und die Art der Präsentation – also die gesamte Erfahrung. Die Art und Qualität des Materials sind im Prozess sorgfältig ausgewählt und verändert worden. Für mich sollte die fertige Arbeit eine Aura besitzen, die den beiläufigen Betrachter veranlaßt, einen Moment lang innezuhalten, und zu fühlen, daß die Arbeit, als ein menschliches Streben über die materiellen Belange hinausgeht.

Studio Workers, Robotnics. Viele Leute, die mein Atelier besuchen, sind erstaunt, wenn sie die technischen Drucker an zwei Computer Work Stations angeschlossen sehen – einen für Forschung und Entwicklung – den anderen für die Kreation von Kunst. Wenn ein Drucker arbeitet, stehen Besucher oft davor und können ihre Augen nicht von dem Zeichenarm nehmen, der mit"scheinbarer Intelligenz" präzise, überraschend und ohne zu zögern – buchstäblich tausende Linien ausführend – zeichnet und die Farben ändert – einmal hier dann dort. Diese Drucker strahlen eine unheimliche Präsenz aus! Sie sind Mitglieder der Atelierfamilie geworden – da ist Brunelleschi, ein neun Jahre alter 14–Stift–Drucker, der erste, den ich je verwendete – dann ein weiterer namens Alberti, der alle Titelbilder für eine limitierte Auflage von George Booles "Ursprung der Gesetze" (1989–90) ausführte. Unser neuestes Mitglied dieser Familie ist Botticelli, der die jüngst entstandende Ezechiel Serie ausgeführt hat.

Diese Arbeiter, Robotnics, führen unermüdlich Anweisungen aus, die ihnen über den Computer eingespeist werden. Die Computer interpretieren den Code für sie. Der Code ist im wesentlichen ein Reihe detailierter Instruktionen zur Ausführung der Arbeit, d.h. welche Schritte zu unternehmen sind, um Farbentscheidungen zu treffen, oder wie man Kontrollpunkte bestimmt. Dieser Vorgang Kunst zu erzeugen, den ich "epigenetisch" genannt habe, wird bis zu einem gewissen Grad von einigen heutzutage arbeitenden Künstlern angewandt.

Epigenetische Kunst. Der Ausdruck Epigenesis, von der Biologie geliehen, bezieht sich auf den Vorgang, bei dem eine ausgewachsene Pflanze oder ein Phänotypus aus einem Samen oder Genotypus wächst. Analog "wächst" in meinem Atelier das Kunstwerk (Phänotypus) aus der Software (Genotypus). Obwohl die Software die grundlegende form-erzeugende" Information beinhaltet, erfordert sie eine entsprechende "Umwelt" und "Nahrung", wenn sie ein reifes Kunstwerk erzeugen soll. Dieser Prozeß des tatsächlichen "Züchtens" der Arbeit in einer greifbaren Form ist, in Analogie, "epigenetisch". Die reife Kunstform, verglichen mit dem Phänotypus, kann nur mit greifbaren Materialien "gezogen" werden – wie Papier und Tinten – und dann nur mit einer passenden Zusammenstellung von Computer und Drucker, die, sozusagen, eine ernährende Umwelt ausmachen. Das Zusamrnentreffen aller dieser Elemente ist erforderlich, um das Kunstwerk zu züchten, ein Prozeß analog zur biologischen Epigenese.

Ein persönliches Expertensystem. Die Software, mit einem Computer und einem Drucker, bildet ein "persönliches Expertensystem". Das System ist fähig, visuelle Formen zu erzeugen, die für mich als Künstler interessant sind – Formen, deren Ursprünge der Künstler mit rekursiven Improvisationen sowohl auf–, als auch verdecken kann. Die Auswahl der Materialien und die Entwicklung der Software wuchsen Seite an Seite über einen Zeitraum von zehn Jahren. Es wurde umfassend mit Papier, Tinten und Druckverfahren experimentiert. Durch Versuch und Irrtum und scheinbar endlose Stunden des Experimentierens entwickelte sich das System zu einem einzigartigen Set von Verfahren mit einer eigenen Sprache.

Hodos. Die Software, unter laufender Überarbeitung, ist ein integriertes Netzwerk von Verfahren namens Hodos nach dem griechischen Wort für "Pfad" oder "Weg". Dieser Ausdruck beschreibt am besten die sich entfaltenden Formen der ersten Serie von gedruckten Arbeiten, die als "Wege" begriffen wurden. Nachdem ich einige Zeit in China unterrichtet hatte, erkannte ich viele Analogien zwischen "hodos" und dem orientalischen Konzept des "Dao" (Tao, der Weg). Mein Atelier, genannt das "Weg Atelier" hat ein orientalisches Siegel, das von dem berühmten Shufa-Meister Wang Dong Ling geschnitzt wurde. Wang, von den Pinselstrichen des Computers beeindruckt, wählte den klassischen Ausdruck "xiao jing zhai", "kleines Fußpfad-Atelier" als geeignet für das Siegel. Viele Arbeiten, die in diesem Atelier ausgeführt werden, erhalten dieses Siegel.

Formfamilien. Hodos ist fähig, eine Familie der Formen zu erzeugen, die gleichzeitig verwandt und (doch) "einzig in ihrer Art" sind. Das ist möglich, da das System wie ein chaotisches System arbeitet, das dem "Schmetterlings-Effekt" unterliegt. Der "Schmetterlings"-Effekt bezieht sich auf die Beobachtung, daß sogar winzigste Phänomene in einem solchen System das Ganze beeinflussen – das Flattern eines Schmetterlingsflügels, so sagt man, hat einen Einfluß auf weltweite Wettermuster.

Die Hodos Abläufe sind Parameter, die von Vorgängen betrieben werden, die fähig sind, visuelle Formen zu erzeugen, deren Ergebnisse ähnlichen Effekten unterliegen. Mit "Parameter betrieben" meinen wir Abläufe, die eine Funktion ausführen, die "nicht mehr als" und "nicht weniger als" eine bestimmte Anzahl von Graden, Federstrichen oder Farben umfaßt. Die geringste Änderung, sagen wir eine 0.005 Änderung im ersten Samen, beeinflußt alle kontrollierenden Parameter und in Folge davon die endgültige Form. Die "Auto" Modi, die in das System eingebaut sind, erlauben "Hodos", seine Variablen zu ändern und das innerhalb von Parametern, die ich wahlweise kontrollieren oder nicht kontrollieren kann. Die daraus entstehenden Formen sind im Ausmaß der Variation der Programmparameter und in der Art wie diese kontrolliert oder nicht kontrolliert werden miteinander verwandt. Diese Dialektik zwischen "Kontrolle" und "Un-Kontrolle" ist in den über 30 Jahren meiner Künstlerlaufbahn der Mittelpunkt meiner Formbetrachtungen gewesen.