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Ars Electronica 1993
Festival-Programm 1993
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Molektronische Netzwerke


'Chris Haring Chris Haring

KEIN ENDE DER PARABEL
In der Differenzsetzung zur Natur wurde Kultur gestiftet. in dieser Weise fand die Teilhabe der Kunst an der Schaffung eines symbolischen Universums statt. Innovationen brisanter Art stellen nicht nur den soziokulturellen Status quo der symbolischen Ordnung in Frage, sondern zielen darüber hinaus auf eine Metanatur. Ein Quasi-Leben – molekulare/elektronische Kreationen, Repliken, Klone, Doubles etc. – durchbricht die Schranke (/) zwischen s/S, d.h. Signifikat über dem Signifikant, so bei Saussure, wie ebenso die "Barre" der Lacanschen Verkehrung von S/s ("ein Signifikant ist das, was ein Subjekt für einen anderen Signifikanten repräsentiert"), und unterläuft somit in radikaler Weise den symbolischen Vertrag. Quasi-Leben (AL & AI) ist die Subjektivation dessen, das die Schranke (die Freudsche Zensur) bislang regeln sollte. Nicht bloß durch Relationen konstituiert, nimmt es den Platz ein, den Freud "den Umweg einer realitätsverkostenden Phantasie" genannt hat. Dialogisch in der Rede des Anderen, resp. der anderen Natur, wird die Verdrängung unserer elementaren Insuffizienz zur Entität.

1986, also noch vor dem Mind-Boom, läßt Franz Xaver je zwei Kommunikationspartner einander visualisierte Gehirnströme übermitteln. Bei Ars Electronica 1987 installiert er RadioARTive Konferenzmöbel, die mittels Computer die jeweilige Körper/Umwelt-Temperatur des Konferenzteilnehmers akustisch in Töne transformiert. Auf der APERTOBiennale von Venedig 1990 realisiert er eine interaktive Installation mit der beachtlichen Höhe von 36.000 km. Der Datenfluß eines über Zentralafrika stationierten Wettersatelliten sorgt dabei quasi für das Fließgleichgewicht einer dynamischen Systemanordnung, deren Komponenten einerseits aus Satellit, Antenne, Receiver, Computer und Videobeamer bestehen und andererseits aus ihren Wirkungseffekten, die in einem weiteren Bestandteil, in einem organisch/psychischen System (Rezipient) interaktiv ausgespielt werden. Im Sommer 1992 experimentiert Franz Xaver, zusammen mit Just Merrit und Leo Schatzl, auf einem Werksgelände, Schrottplatz West – Linz, mit ebendort gebauten Robotern.

Mit Gleichgesinnten – Speedfreaks, Codepoeten, Datensurfer, Cyberjunkies, Realityhacker, Hypermediainstallateure etc. – gründet er das KUNSTLABOR; ein weiterer Knoten der electronic subcommunity. 1993 durchmißt er wieder orbitale Zeiträume mit einer Wettersatelliten-Skulptur; experimentiert mit Rechenoperationen und chaotischen Strukturen in der mathematischen Annäherung gegen Null; zeigt wellenempfängliche Bilder, die sich bei 496.025 MHz erregen; und beteiligt sich mit all dem am Kultur-Kamikaze-Projekt MS STUBNITZ in Rostock. Im selben Jahr ist er bei Ars Electronica 1993 mit molektronischen Netzwerken erdgeschichtlich bedeutsamer Art vertreten: Bakterien und Algen in ihrem biotopischen Milieu.

Derartige Netzwerke präsentierte Xaver schon im Jahr davor in seiner Ausstellung "Fraktale Geometrie, Kunst und Bionik" in der Galerie im Stifterhaus, Linz. Neben anderen Arbeiten, etwa einer kinetischen Skulptur, "Channel 38" aus dem Jahr 1991, wo mittels einem Video-ART Transponder/TV-Generator (Marke Xaver) die aufmodulierte biologische Fäulnis eines Apfels im elektromagnetischen Megahertzbereich auf einem Fernsehbild, Kanal 38, beobachtet werden konnte, zeigte er "Gnathonemus". Dieser Name bezeichnet einen Zierfisch – auch als Elefantenrüsselfisch bekannt. In einer speziellen Hard/Software-Konfiguration (Marke Xaver) demonstrierte der Künstler die Kommunikation zwischen dem Fisch (lebendes System) und einem Computer (künstliches System). Im Computer wurden Reiz und Antwortimpulse aufgezeichnet, analysiert und neue Reizimpulse gebildet. Da der Gnathonemus eine große Variabilität in seiner Grundfrequenz aufweist, die auf äußere Einflüsse zurückzuführen sind und in einer Größenanordnung von 6 Hz Abweichung liegen, gelten für Xaver nur jene Frequenzerhöhungen als Antwort des Fisches auf die getriggerten Reizamplituden, die über dieser Frequenzabweichung liegen. Der Kommunikationsablauf konnte von den Betrachtern auf einem Frequenzzähler abgelesen werden. Die molektronischen Netzwerke aber, die Xaver nun auch bei Ars Electronica 1993 zeigt, benötigen für ihr Funktionieren keine Steckdose. Eine Trendumkehr im Werk von Franz Xaver? Mitnichten.

Wie schon die KünstlerInnen-Generationen in der Medienkunst zuvor, ist Franz Xaver mit Fragestellungen beschäftigt, die um den Evolutionsfaktor Information kreisen und in der heutigen nachbürgerlichen Massendemokratie auf telekommunikativer Basis akut geworden sind. (In diesen kapitalistisch organisierten Gesellschaften, die auf ihrem ökonomischen Kapital als einem sozialen Verhältnis basieren, bedeutet Kommunikation die Mobilisierung der gesellschaftlichen Energie Kapital – kulturelles ist gleich ökonomisches Kapital, zugleich Sinn-Orientierung, Selbsterhaltung und Selbstreproduktion.)

Das mehrfache Vorhandensein des zellulären Apparates steigert die Effizienz eines Gesamtorganismus. Im Unterschied zum Einzeller verfügt der Vielzeller über eine erhöhte Reproduktionsfähigkeit, die sowohl seiner Lebensdauer, als auch die Ausbildung morphologisch verschiedenartiger Körper begünstigt. Seine evolutionäre Entwicklung führte zu einer Zellendifferenzierung mit je speziellen Funktionen und damit zu einer besseren physiologischen Eigenstabilität. Unterschieden werden Vielzeller entsprechend ihrer Lebensweise und nach der Art ihrer Energiegewinnung. Pilze und Tiere ernähren sich von organischem Material. Die Pflanzen benötigen anorganische Nährstoffe; die Sonnenenergie ermöglicht ihnen, mit Hilfe der Photosynthese lebende Materie aufzubauen. Alle vielzelligen Pflanzen und Tiere haben sich aus einzelligen Eukaryonten entwickelt. Diese Netzwerke molekularer Interaktionen sind die ersten Lebewesen. Sie liegen der Wissenschaft als fossile Ablagerungen vor und sind bis zu 3400 Millionen Jahre alt. Bakterien und Algen, die ersten fossilen Lebewesen, existieren bis heute.

Was in der Biochemie als zellulärer Metabolismus, also Zellstoffwechsel, bezeichnet wird, impliziert schon eine Organisation und Struktur von molekularen Bestandteilen. Das heißt, daß diese Bestandteile in einem kontinuierlichen Netzwerk von Wechselwirkungen dynamisch miteinander verbunden sind. Die Entwicklung der eukaryontischen Zelle setzte also molekulare Substanzklassen voraus, die die Eigenschaft besaßen Einheiten auszubilden, die ihr Umweltverhältnis auf zirkulär geschlossene Operationsverknüpfungen stützen. Nach den Biologen und Neurokybernetikern Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela werden diese Einheiten autopoietische Systeme genannt. Da diese Systeme molekulare Komponenten haben, erfüllen sie die physikalischen Gesetzmäßigkeiten, werden dadurch räumlich in ihrer Existenz bestimmt, sind aber nicht durch physikalische Eigenschaften als autopoietisch definiert. Autopoiese hängt vielmehr von der Organisation der Einheit ab und von der Art ihrer Verwirklichung. So werden bspw. Veränderungen, die in einem molekularen System als Konsequenz einer Interaktion entstehen, von ihrer eigenen Struktur als zelluläre Einheit bestimmt. Verschiedene autopoietische Systeme unterscheiden sich durch unterschiedliche Strukturen, sind aber gleich in bezug auf ihre Organisation. Autopoietische, also selbstorganisierte Systeme haben nur ein Ziel – ihre Selbsterhaltung. Evolution selektiert demnach immer nach effizientem und effektivem Nutzen relevanter Information.

Wir, die Individuen der Spezies Mensch, sind selbst eine milliardenfache Anhäufung komplexer Zyklen eines autopoietischen Systems und vielleicht bloß "eine Art evolutives Zwischenglied der Spezies selbstorganisierter Systeme." (Dieter Hombach: Die Drift der Erkenntnis. Zur Theorie selbstmodifizierter Systeme bei Gödel, Hegel und Freud, München 1990, S. 131) Die revolutionierende Trias Kernenergie, Mikroelektronik und Mikrobiologie hat alle Lebensbereiche erfaßt und ihre Konsequenzen sind, wie die der Prozesse der mechanischen und dynamischen Technik zuvor, definitiv unumkehrbar. Wir kommunizieren mit digitalen Assistenten, fast lebensecht mit virtual actors von Nintendo, und umgeben uns in nicht allzuferner Zukunft auch im Privatbereich mit Genghis und Gnats (Robotern) etc., während, von uns unbemerkt, die Metatheorie des organisch/psychischen Systems, also des Menschen, von Expertensystemen (AI) erstellt wird.

Die molektronischen Netzwerke von Franz Xaver sind eine Outsourcing-Variante von Medienkunst, und somit auch als kontextueller Hinweis zu lesen; intertextuell verstanden, geben sie vielfältig kognitive Informationen frei – vorausgesetzt die Kognitionsbereiche von Produzent und Rezipient überschneiden einander hinlänglich.

F.E. Rakuschan