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Ars Electronica 1993
Festival-Programm 1993
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Genetische Bilder


'Karl Sims Karl Sims

EVOLUTION
Die Darwin'sche Evolution ist ein natürlicher Prozeß der Veränderung und Selektion, der oft in dem sprichwörtlichen: "Überleben der Besten" zusammengefaßt wird. Er besteht in einem einfachen Zyklus. Die "besten" Wesen einer Population überleben und reproduzieren sich. Die daraus hervorgehenden Nachkommen sind Kopien oder Kombinationen ihrer Elternteile, oft mit zufälligen Abänderungen oder Mutationen. Manche Nachkommen stellen gemessen an ihren Eltern Verbesserungen dar und da sich nur die besten jeder neuen Generation von Nachkommen weiter reproduzieren, kann die Population als ganze sich langsam verbessern.

Dieser Prozeß ist uns, sofern er sich auf biologische Organismen bezieht, bewußt, aber die gleichen Prinzipien wirken auch in anderen evolutionären Systemen. Sie haben zur Entstehung von vielen komplexen und wunderbaren Phänomenen auf unserer Erde beigetragen, Leben, Bewußtsein und Sprache mit eingeschlossen.

Viele Dinge pflanzen sich über das Medium des menschlichen Bewußtseins in einer Weise, die der Darwin'schen Evolution ähnelt, fort. Bestand haben jene wissenschaftlichen Theorien, religiösen Überzeugungen oder auch künstlerischen Stile, die am besten geeignet sind, von einer Person zur anderen weitergegeben zu werden.
KÜNSTLICHE EVOLUTION
Die Darwin'sche Evolution kann am Computer simuliert werden, Populationen von virtuellen Wesen, die durch codierte Beschreibungen im Computer spezifiziert sind, können sich durch die Anwendung eben dieser Naturgesetze der Variation und Selektion entwickeln. Auf Wunsch des Programmierers kann sogar die Definition des Besten verändert werden.

Die natürliche Evolution kann ein sehr langsamer Prozeß sein – das Leben auf der Erde hat nahezu vier Mflliarden Jahre gebraucht, um sich bis zu seiner heutigen Form zu entfalten – da die Computer aber immer schneller werden, kann die künstliche Evolution ein praktisches und faszinierendes Werkzeug sein, welches auf neue Art und Weise eingesetzt werden kann. Es ist hilfreich als Methode zur Untersuchung des evolutionären Prozesses selbst. Es kann auch ein machtvolles Instrument zur Suche von Lösungen für komplizierte Probleme darstellen und eine Technik zur Erforschung virtueller Welten.
INTERAKTIVE EVOLUTION
Die Besucher dieses Austellungsobjekts können eine computersimulierte Evolution in ihrem Entstehungsprozeß mitverfolgen. Die Besucher aber sind bei dieser Evolution nicht nur Beobachter: sie lösen die Evolution aus und steuern ihren Verlauf.

Der Computer zeigt auf einem Bogen aus 16 Videobildschirmen eine Population von Bildern. Die Zuschauer entscheiden, welche Bilder überleben, indem sie vor jenen, die ihnen ästhetisch am interessantesten erscheinen, auf die davor befindlichen Sensoren treten. Nicht gewählte Bilder scheiden aus und werden durch die Nachkommen der überlebenden Bilder ersetzt. Die neuen Bilder sind, mit verschiedenen Variationen, Kopien und Kombinationen ihrer Elternteile. Es handelt sich hier um eine künstliche Evolution, bei der die Zuschauer selbst interaktiv die "Güte" der Bilder bestimmen, indem sie auf den jeweiligen Sensoren stehenbleiben. Mit dem Fortschreiten der Entwicklung bestimmen die Zuschauer dieser simulierten Evolution kollektiv den Weg zu vorher nie gesehenen Bilderpopulationen.

Diese interaktive Installation stellt eine unübliche Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine dar: die Menschen treffen Entscheidungen über die visuelle Ästhetik und der Computer verfügt über die mathematischen Fähigkeiten zur Erzeugung, Verbindung und Veränderung komplexer Strukturen und Muster. Die Zuschauer müssen die verwendeten technischen Gleichungen nicht verstehen. Der Computer kann nur auf gut Glück experimentieren, ohne jeden Sinn für Ästhetik – aber die Verbindung menschlicher und maschineller Fähigkeiten ermöglicht Resultate, die keiner der beiden alleine zustande bringen könnte.

Diese Bilder können in Analogie zu biologischen Organismen gesetzt werden. Beide werden aus "genetischen" Beschreibungen erzeugt und beide unterliegen den Kräften der Evolution. Ein Organismus geht aus den codierten Befehlen seiner DNA hervor. Ähnlich werden die Bilder aus Befehlen in Form computercodierter mathematischer Gleichungen generiert. Der Computercode (oder DNA) ist der Genotyp, das daraus resultierende Bild (oder der Organismus) der Phänotyp.

Wenn eines oder mehrere dieser Bilder selektiert werden um zu überleben, reproduzieren sie sich durch das Kopieren und Kombinieren ihrer genetischen Beschreibungen, wobei es oft zu zufälligen Mutationen kommt. Die neuen genetischen Beschreibungen führen zu Bildernachkornmen, die ihren Eltern zwar ähnlich sehen, oft jedoch signifikante Veränderungen aufweisen. Einige Mutationen können die Komplexität der genetischen Beschreibungen vergrößern und führen zu einer höheren visuellen Komplexität der daraus resultierenden Bilder. Mitunter ergeben sich komplexe Gleichungen, deren Ableitung oder auch nur Verständnis einem Menschen relativ schwer fiele.

Im Verlauf dieser Ausstellung speichert der Computer jene Bilder, die von den Zuschauern mehrfach ausgewählt wurden. Auf Wunsch kann der Computer diese früheren Favoriten wieder abrufen und ihre Entwicklung fortsetzen. So können die Besucher den evolutionären Prozeß an jenen Punkten starten, wo ihn die Besucher der vorhergehenden Tage abgebrochen hatten. Zudem können die besten Ergebnisse verschiedener Evolutionen kombiniert werden, um daraus neue Bildergeschlechter zu generieren. Dies ermöglicht die kollektive Evolution einer größeren Population von Bildem, zu der alle Besucher während der gesamten Dauer der Installation beitragen und die sie verbessern können.

Die Besucher können den Computer jederzeit auch neu starten und mit einer neuen Evolution ganz von vorne beginnen. In diesem Fall erzeugt der Computer eine Anfangspopulation von relativ einfachen Bildern aus kurzen, zufällig miteinander verbundenen genetischen Beschreibungen. Die Zuschauer entscheiden dann, welche sich reproduzieren werden, und die Evolution setzt ein.
KREATIVITÄT
Kann diese interaktive Evolution von Bildern als kreativer Prozeß verstanden werden? Die Teilnehmer tun weiter nichts als aus Gruppen von 16 Bildern, die ihnen gezeigt werden, zu wählen. Nach nur fünf Wahlvorgängen wählt der Anwender jedoch bereits einen aus über einer Million möglicher Pfade. Diese Anzahl ist genügend groß, so daß Benutzer mit unterschiedlichem Geschmack in der Regel zu ganz verschiedenen Ergebnissen gelangen. Es ist sicher ein Verfahren, das sich von der Durchführung oder Realisierung eines vorher erdachten visuellen Konzepts unterscheidet, aber ein Zufallselement kann bei einigen Kreativitätsmethoden eine wichtige Komponente darstellen.

Vielleicht kann dieser Prozeß hier verglichen werden mit einem Künstler, der versucht einen bestehenden Stil zu verbessern oder der nach neuen Ideen sucht, indem er auf gut Glück experimentiert, die Resultate untersucht und alle außer einer kleinen Anzahl davon verwirft. Oder vielleicht ähnelt er der Art und Weise, in der die Gesellschaft bestimmte Moden oder Kunststile akzeptiert oder ablehnt und jene, die akzeptiert werden, dann scheinbar zufällig kopiert und modifiziert, um neue Stile mit leichten Variationen hervorzubringen. Bei dieser simulierten Evolution werden die Zufallsänderungen kurzerhand vom Computer durchgeführt. Keines der Zufallsexperimente und auch keiner der Umsetzungsversuche wird vom Anwender durchgeführt. Es werden nur dessen ästhetische Präferenzentscheidungen verlangt. Einen Designer gibt es in diesem Prozeß allem Anschein nach nicht und dennoch kann es zu sehr komplexen und interessanten Ergebnissen kommen. Wenn vom Anwender genügend Selektionen vorgenommen werden und die Anzahl der Möglichkeiten groß genug ist, ist der Anwender dann tatsächlich kreativ oder ist die Anwesenheit eines Designers, der bewußt ein Ziel verfolgt, notwendig?

Der Biologe Richard Dawkins schreibt in seinem Buch "The Blind Watchmaker" (Der blinde Uhrmacher) über das bemerkenswerte Vermögen der Evolution, ohne irgendeinen augenscheinlichen Gestalter Komplexität zu erzeugen. Es ist möglich, daß diese Arten der Technik noch einen anderen Aspekt unserer anthropozentrischen Neigungen herausfordern werden. Es fällt uns schwer zu glauben, daß wir selbst nicht von einem Gott geschaffen wurden, sondern über die natürliche Evolution zufällig entstanden sind. In ähnlicher Weise fällt es uns schwer zu glauben, daß die künstliche Evolution mit unserem Gestaltungsvermögen konkurrieren oder es sogar übertreffen kann.

Die Hoffnung ist, daß dieses Ausstellungsobjekt wenigstens ein Bewußtsein für die Macht des evolutionären Prozesses im allgemeinen hervorruft. Vielleicht wird es bei einigen Teilnehmern, die sonst keine Möglichkeit hätten, dies zu erforschen, auch eine ästhetische Erkenntnis anregen. Das Potential an Werkzeugen wie diesem wird sich vergrößern, indem laufend schnellere Computer gebaut werden, und dies ist vielleicht nur ein Vorgeschmack der auf uns zukommenden Dinge.

DANKSAGUNG

Thinking Machines Corporation stellte den Connection Machine Supercomputer für these Installation bei. Die in Massachusetts beheimatete Firma hat einige der weltweit stärksten Computer entwickelt. Die Geschwindigkeit des Connection Machine Systems beruht auf der Parallelverarbeitung von Daten – viele Prozessorknoten arbeiten gleichzeitig zusammen. Das für dieses Projekt verwendete Connection Machine Modell enthält 32.768 Prozessoren.

John Watlington, Entwurfsingenieur am MIT Media Lab in Cambridge, Massachusetts, entwarf und baute die Video Hardware "Freeze-Frame", die es ermöglicht, die Bilder aus dem Connection Machine Computer am Monitorfeld zu zeigen. Sie übersetzt auch die Signale von den Schritt-Sensoren.

Arlene Chung, Thinking Machines, und Ron Bennet, Bennett HDG Inc., trugen zum Design des Objektraums bei.

Guy Decaudain, Thinking Machines, besorgte die Europakoordination des Projekts, Kathryn Cree die US-Koordination. Technische Hilfestellung gewährten David Lloyd Owen, Jonathan Saunders, Roch Bourbonnais, Clark Noville und Jim Laura.

Jim Salem, Gary Oberbrunner und Matt Fizgibbon zeichnen verantwortlich für die Connection Machine Grafiken und die Display Software.

John Earle sorgte für Connection Machine Videoinformation und -unterstützung.

JP Massar gewährte Unterstützung bei der Starlisp Datenparallel-Programmiersprache, in der die Evolutionssoftware verfaßt wurde.

Sheryl Handler und Lew Tucker von Thinking Machines unterstützen das Projekt ebenfalls großzügig.

Tamiko Thiel fungierte als Connection Machine Industriedesignerin.