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Ars Electronica 1993
Festival-Programm 1993
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Über genetische Kunst


'Peter Weibel Peter Weibel

Technik kann als vom Menschen gemachte Natur definiert werden. Sie tritt in eine neue Phase, wenn sie zentrale Prozesse des natürlichen Lebens in künstliche, vom Menschen gemachte verwandelt. Gentechnologie, welche die vorhandenen Lebewesen (Mikroorgansimen, Pflanzen, Tiere, Menschen) verändert oder neue erzeugt, ist so ein Spezialfall, weil sie nicht nur in den Bau und die Funktion anderer Lebewesen, sondern auch direkt in den menschlichen Organismus, in seine Gene, eingreifen kann. Die Wissenschaft der Vererbung wurde vor ca. 90 Jahren von Bateson Genetik genannt. Sie ist ein Kind des 20. Jahrhunderts. Die Erbfaktoren, die Gene in den Chromosomen, können mutieren. Erbexperimente an Taufliegen und niederen Organismen wie Bakterien und Viren führten zu zahlreichen Mutanten und zu neuen Einsichten in die Gesetze des Lebens, der Vererbung, der Vermehrung und in die Formen des Wachstums.

Genetische Kunst als künstlerisches Äquivalent der Gentechnik will einerseits wie diese mit modernen technischen Mitteln Lebensprozesse simulieren, andererseits mit klassischen Mitteln die möglichen Folgewirkungen von solchen Simulationen und synthetischen Erzeugungen des Lebens kritisch bedenken. Genetische Kunst ist also:

1. EVOLUTIONÄRE KUNST:
künstliche Eingriffe in Wachstumsprozesse (Beschleunigung, Stoppen, Verlangsamung, Veränderung) und deren Formveränderungen in biologischem Material wie auch immateriell im Computer.
2. BIOGENETISCHE KUNST:
biologische Prozesse der Fortpflanzung und Vermehrung, von Mikroorganismen wie Bakterien in Bildern zu niederen Lebewesen wie Ameisen, ebenfalls sowohl materialiter wie rein digital.
3. GENTECHNISCHE KUNST
Darstellung genmanipulierter Vorgänge und operativer Eingriffe bei Lebensmitteln, Tieren und Menschen.
4. ALGORITHMISCHE KUNST:
das Leben der Sprache, deren Grammatik als ein Erzeuger Formalismus interpretiert werden kann, vergleichbar dem Algorithmus des Wachstums von Pflanzen bzw. deren Informations-Codifizierung und die allgemeinen Modellcharakter hat.
5. ROBOTIK:
dreidimensionale, mechanische Lebewesen aus harten Materialien, die lebensähnliches Verhalten wie Suchmechanismen, Selbsterhaltung, Reiz-Reaktionsbeziehungen etc. zeigen.
6. VIRTUELLE KREATUREN:
virtuelle, computersimulierte Lebenwesen, die ebenfalls lebensähnliches Verhalten bzw. Lebensprozesse wie Informationscodierung, Vermehrung und Aussterben freibrütender Individuenmengen (Populationen) vorweisen.
7. KÜNSTLICHES LEBEN:
Maschinen-Konfigurationen und Programme, die sowohl immateriell 2-dimensional wie materiell 3-dimensional als lebewesenähnliche Kreaturen mit dem Menschen interagieren.

Die genetische Kunst ist Erforschung des künstlichen Lebens wie dessen Kritik. Sie ist eine der wenigen Kunstformen der Gegenwart, die nicht rein kunstimmanent bleibt, sondern sich zentralen Punkten des Lebens nähert.