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Ars Electronica 1992
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Die Welt von Innen – Endo & Nano – Über die Grenzen des Realen


'Peter Weibel Peter Weibel

Ars Electronica '92 versucht, zwei neue radikale Veränderungen des Weltbildes und die damit verbundenen neuen Bildwelten thematisch in den Mittelpunkt zu stellen: Endophysik und Nanotechnologie.

Die elektronische Welt mit ihren Modellwelten und Computersimulatoren, mit ihren Interfaces und virtuellen Wirklichkeiten legt die Vermutung nahe, daß die Weit ein Schnittstellen-Problem ist. Endophysik und Nanotechnologie sind zwei verschiedene Vorgangsweisen, mit denen die Schnittstelle genauer als bisher studiert werden kann, einmal detaillierter als je (sehr klein – nano) und einmal sogar von innen (endo).

In seinem Buch "Engines of Creation, The Coming Era of Nanotechnology" (1986) hat K. Eric Drexler eine "Maschinentechnologie" auf molekularer Basis vorgeschlagen, welche die Materie Atom um Atom strukturiert. Molekulare Nanomaschinen (Enzyme, Hormone, Viren können ja als Maschinen beschrieben werden) verschaffen uns Zutritt zu Mikrosphären nanometrischer Dimensionen (Nanometer ist der milliardste Teil eines Meters). Durch die direkte und gezielte Manipulation, Markierung und Blockbildung einzelner Atome und Moleküle, wie sie Feynman-Maschinen à la Raster-Tunnel-Mikroskope erstmals ermöglichen, dringen wir gleichsam in die Schaltzentrale und an das Mischpult der Natur vor. Von der Medizin bis zur Erforschung neuer Materialeigenschaften bzw. Entdeckung neuer Materialien steht uns eine radikale Änderung unserer materiellen Existenz bevor. Elektronische Nano-Computer, vielleicht hunderttausendmal schneller als elektronische Mikrocomputer, werden diese Entwicklung beschleunigen.

Die Endophysik ist eine Wissenschaft, welche die Frage stellt, wie schaut ein System aus, wenn der Beobachter als Teil dieses Systems operiert. Gibt es überhaupt eine andere Perspektive als die jenes internen Beobachters? Sind wir nur Bewohner der Innenseite der Schnittstelle? Was bedeutet dann die klassische Objektivität?

Die Endophysik zeigt, in welchem Ausmaß die objektive Realität notwendig vom Beobachter abhängig ist. Seit der Einführung der Perspektive in der Renaissance und der Gruppentheorie im 19. Jahrhundert wissen wir, daß die Erscheinungen der Welt von der Lokalisation des Beobachters in gesetzmäßiger Weise abhängig sind (Ko-Verzerrung). Nur wenn man sich außerhalb eines komplexen Universums befindet, ist eine vollständige Beschreibung desselben möglich (vergleiche Gödel). Für die Endophysik ist nur im Modell diese Position außerhalb eines komplexen Universums möglich, nicht in der Wirklichkeit selbst, insofern liefert die Endophysik einen Ansatz für eine allgemeine Modell- und Simulationstheorie (und auch für die "virtuellen Realitäten" des Computerzeitalters). Die Endophysik ist aus der Chaostheorie hervorgegangen, zu der Otto Rössler seit 1975 beigetragen hat (siehe den berühmten Rössler Attraktor, 1976). Ein anderer Aspekt der Endophysik sind Neuinterpretationen quantenphysikalischer Probleme. Rössler schlägt eine Brücke zwischen den quantenphysikalischen Interpretationen von Everett, Bell und Deutsch auf der einen Seite und der stochastischen Mechanik von Nelson auf der anderen.

Die Endophysik ist von der Exophysik verschieden, weil die physikalischen Gesetze, die gelten, wenn man ein Teil dessen ist, was man betrachtet, im allgemeinen andere sind als diejenigen, die von einem gedachten oder wirklichen extremen Standpunkt aus wahr sind. Gödels Ununterscheidbarkeit gilt auch nur von innen – innerhalb des Systems.

In der Physik muß man einen expliziten Beobachter in die Modellwelt aufnehmen, um die für ihn existierende Realität zugänglich zu machen. Die Endophysik ermöglicht gleichsam einen "Doppelzugang" zur Welt. Neben dem direkten Zugang zur realen Welt (durch die Schnittstelle der Sinne) wird ein zweiter, von einer imaginierten Beobachterposition aus eröffnet. Ist die sogenannte objektive Realität nur die Endoseite einer Exowelt?

Die Geschichte der kulturellen Produktion liefert immer wieder Evidenzen, daß der Mensch die Möglichkeit erahnt, daß seine Welt nur die Endoseite einer Exowelt ist. Sie zeigt sich in zahlreichen Bildvorstellungen, gnostischen Formulierungen, Rätseln und Paradoxien. Um das Phänomen der Schnittstelle als einzige Realität zu illustrieren, bietet sich das Modell des "Bubble-Boy" an, der in einer sterilen Blase lebt und nur durch die Schnittstelle mit der Welt kommuniziert. Das Menü seiner Weltprogrammierung befindet sich auf dem Keyboard innerhalb der Blase. Unsere makroskopische Welt ist zwar irreversibel, aber die Blase, in der wir uns befinden, ist mikroskopisch reversibel, mit kontraintuitiven Konsequenzen.

Die Tatsache, daß unsere Welt nichtklassisch ist, ist nicht unbedingt ein Einwand. Tatsächlich führen die klassische Zeitumkehrinvarianz und die klassische Permutationsinvarianz durch gleichartige Teilchen zu "nichtklassischen", nichtlokalen Phänomenen. Der "Rest der Welt" wird für den inneren Beobachter in einer für ihn nicht korrigierbaren oder erkennbaren Weise verzerrt. Die Welt ist aus Gummi, nur wir merken es nicht, weil wir selbst aus Gummi sind. Die dabei entstehenden Gleichzeitigkeitshyperflächen sind vom Standpunkt eines externen Beobachters aus kompliziert gekrümmt, letzterer fühlt sich versucht, dem inneren Beobachter "Hinweise" zukommen zu lassen, die diesem das Erfolgserlebnis eines Blicks hinter den Vorhang ermöglichen würden. Leider besitzen wir in unserer Welt kein ähnliches "großes Auge", das wir um Hilfe bitten könnten. Es sei denn, wir suchen Zuflucht zur Konstruktion eines fiktiven allwissenden, allmächtigen Superbeobachters.

Die einzige wissenschaftliche Methode, herauszufinden, ob unsere Welt eine zweite exo-objektive Seite besitzt, ist die Konstruktion von Modellwelten (bzw. Kunstwelten) auf einer unter unserer Welt befindlichen Ebene. Dieses Vorgehen heißt Endophysik.

Der Endo-Ansatz bietet ein Versprechen für die komplexe Technowelt der elektronischen Epoche. Die Effekte der industriellen (maschinenbasierten) und postindustriellen (informationsbasierten) Kultur-Maschinisierung, Medialisierung, Simulation, Synthetik, Semiosis, künstliche Realität, Seinsentzug, etc. – werden in einen neuen Diskurs hineingezogen. Der Endozugang stellt einen neuen theoretischen Rahmen zur Beschreibung und zum Verständnis der wissenschaftlichen, technischen und sozialen Bedingungen der postmodernen Welt zur Verfügung. Die virtuellen Welten sind zum Beispiel ein Spezialfall der Endophysik. Die Fragen, welche die Endophysik stellt, von der Beobachterrelativität über die Repräsentationsproblematik und Nichtlokalität bis zur Welt als reines Schnittstellenproblem, sind zentrale Fragen der elektronisch-telematischen Zivilisation.

Die Beobachter-Realität und -Abhängigkeit der Erscheinungen der Welt, welche die Endophysik aufzeigt, ihre Unterscheidung von beobachter-internen und beobachterexternen Phänomenen, stellen für die Ästhetik der Selbstreferenz (der Eigenwelt der Bildsignale), der Virtualität (des immateriellen Charakters der Bildsequenzen) und der Interaktivität (der Beobachter-Relativität des Bildes), wie sie die elektronischen Künste unserer Auffassung nach definieren, wertvolle Diskursformen zur Verfügung.

Die Bedingungen der Möglichkeit aller Erfahrung von der Beobachter-Relativität abhängig und die Welt als Interface-Problem aus der Perspektive eines expliziten inneren Beobachters beschreibbar zu machen, dies ist der Endozugang zur Elektronik (von der Ausstellung "Die Eigenwelt der Apparatewelt" bis zu den interaktiven Computerinstallationen in Echtzeit). Denn ist die elektronische Kunst wegen ihres partizipatorischen, interaktiven, beobachterzentrierten und virtuellen Charakters nicht die Welt des inneren Beobachters par excellence? Dieser Wechsel von einem externen und dominierten Standpunkt zum internen und partizipatorischen Standpunkt bestimmt auch das Wesen der elektronischen Kunst. Die elektronische Kunst treibt somit die Kunst von der objektorientierten zur kontext- und zur beobachterorientierten Phase ihrer Entwicklung voran. Dadurch wird sie auch zu einem Motor des Wandels von der Moderne zur Postmoderne, d.h. des Übergangs von geschlossenen zu offenen Systemen, von entscheidungsdefinierten und vollständigen zu indefinierten und unvollständigen Systemen, von der Welt der Notwendigkeit zu einer Welt beobachtergesteuerter Variablen, von der Mono-Perspektive zur multiplen Perspektive, von der Monokultur zu Multikulti, vom Monopol zum Pluralismus, von Hegemonie zu Pluralität, vom Text zum Kontext, von Lokalität zu Non-Lokalität, vom Ort zur Fernkorrelation, von Proximität zu Telematik, von Identität zu Differenz, von Totalität zu Partikularität, von Objektivität zu Beobachter-Relativität, von Autonomie zu Kovarianz, von der Diktatur der Subjektivität zur Eigenwelt der Apparate.

Wir schlagen also zwei Stufen vor: Zuerst den Endozugang zur Elektronik und zweitens die Elektronik als Endozugang zur Welt. Das Wesen der elektronischen Künste als endophysikalisches Prinzip zu verstehen, ist nur möglich, weil eben die Elektronik selbst der Endo-Zugang zur Welt ist.

Die Konstruktion von Modellwelten tieferer Stufe als die reale Welt, die einen expliziten inneren Beobachter enthalten, wie bei den Closed Circuit Installationen, wo der Beobachter sich selbst in den Beobachter-Apparaten sieht, bzw. wie bei den Feedback-Situationen, wo die Maschine sich selbst beobachtet oder wie bei der Virtuellen Realität wo die Hand des externen Beobachters simuliert als Teil des internen Beobachters im Bild selbst ist, folgt dem endophysikalischen Prinzip. Die Beschreibung der Welt als Schnittstellenproblem und das Eingeständnis der nichtobjektiven, nur beobachterobjektiven Natur der Objekte sind Korollare des endophysikalischen Theorems. Die Welt als beobachter-relativ und als reines Schnittstellenproblem zu interpretieren, ist die Lehre der endophysikalisch interpretierten Elektronik. Die Welt ändert sich daher mit unseren Meßketten (Beobachtung), mit unserer Schnittstelle. Die Grenzen der Welt sind die Grenzen unseres Interface. Wir interagieren nicht mit der Welt, sondern nur mit der Schnittstelle zur Welt. Dies lehrt uns ebenfalls der Endozugang zur Elektronik. Die elektronische Kunst, wie sie 1992 bei Ars Electronica von Ausstellungen bis zu Aufführungen vorgestellt wird, soll uns helfen, das Wesen der elektronischen Kultur und die Grundlagen unserer elektronischen Welt besser zu verstehen.

Wir sehen die Welt durch die elektronische Kultur immer mehr von innen. Im Zeitalter der Elektronik wird die Welt als Schnittstelle zwischen Betrachter und Objekten immer manipulierbarer. Weil durch die von der elektronischen Technologie geförderte Erkenntnis, daß wir nur Teil oder innere Bewohner des Systems sind, das wir beobachten oder mit dem wir interagieren, wir erstmals auch Zugang zu einer Technik und Theorie haben, die uns die Welt nicht mehr nur als Schnittstelle auferlegen, die wir nur von innen beobachten können, sondern uns auch einen Beobachterstandpunkt außerhalb des Systems und der Schnittstelle imaginieren bzw. die Schnittstelle nanometrisch und endophysikalisch ausdehnen lassen. Somit wird das von Descartes erstmals genau beschriebene Gefängnis von Raum und Zeit (die cartesianischen Koordination) etwas gedehnt. Die Gitterstäbe des Hier und Jetzt werden etwas weicher. Virtuelle Realität, interaktive Computerinstallationen, Endophysik, Nanotechnologie etc. sind Technologien des erweiterten Jetzt, des nichtlokalen Hier, (fernkorrelierte) Überschreitungen des lokalen Ereignishorizonts. Sie stellen eine Technologie der Befreiung aus den Fesseln des Realen dar.