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Ars Electronica 1992
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Gespräch mit Gerhard Roth


'Florian Rötzer Florian Rötzer

In den letzten Jahren ist vor allem über die Theorien von Maturana und Varela die Biologie der Kognition zu einem neuen erkenntnistheoretischen Ansatz geworden. Hier wird besonders betont, daß unser Gehirn ein autopoietisches System sei, das von seiner Umwelt abgeschlossen ist, d.h. nur durch Perturbationen dazu angeregt wird, bestimmte Erkenntnisleistungen zu vollziehen, die so durch Selbstreferentialität charakterisiert sind. Ist denn diese Theorie aus der Perspektive der Hirnforschung haltbar und worin liegen ihre Evidenzen?
Der Begriff der Abgeschlossenheit, wie er von Maturana und Varela entwickelt wurde, hat zu vielen Mißverständnissen geführt. Man muß viel Arbeit darauf verwenden, um ihn zu klären. Erst einmal ist dieser Begriff kontra-intuitiv. Das Problem besteht darin, daß sich ein Tier oder Mensch mit seinen Sinnesorganen an der Umwelt orientieren muß. Das Gehirn ist das Organ, das diese Sinnesinformation verarbeitet und schließlich ein Verhalten erzeugt, mit dem das Tier oder der Mensch in seiner Umwelt überleben kann. Wie könnten also Lebewesen überhaupt erfolgreich in einer Umwelt leben, wenn das Gehirn davon abgeschlossen ist? Diese Frage haben Maturana und Varela in ihrer Theorie nicht hinreichend beantwortet. Diese Lücke wird auch von den Konstruktivisten nicht wirklich geschlossen. Es ist beispielsweise die Aufgabe der kognitiven Hirnforschung herauszustellen, in welchem Sinne das Gehirn abgeschlossen bzw. nicht abgeschlossen ist.
Sie würden also auch nicht der konstruktivistischen These ohne weiteres zustimmen, daß wir unsere Realität konstruieren, sie also nur ein Bild ist, das nicht in Kontakt zu dem steht, was außen ist?
Die Antwort darauf ist kompliziert. Es gibt eine Abgeschlossenheit des Gehirns in dem Sinne, daß alles, was wir empfinden und was wir erleben, das Ergebnis der Aktivität unseres Gehirns ist, d.h. das, was für uns "draußen" und was "drinnen" ist, wird vom Gehirn hervorgebracht. Insofern gibt es nichts, was von "draußen" hereinkommt. Das ist ein trivialer Bestandteil des Begriffs der Abgeschlossenheit. Nicht trivial hingegen ist die Frage, wie diese konstruierte Welt im Gehirn entstehen und der Organismus gleichzeitig sich an der Umwelt orientieren kann. Wie also läßt sich dieses Paradoxon auflösen? Die Lösung besteht darin, daß sich das Gehirn natürlich mit Hilfe der Sinnesorgane an der Umwelt orientiert, indem es Signale aus ihr aufnimmt. Was das Gehirn aber aufgrund der Signale tut, ist in keiner Weise von der Umwelt determiniert. Das Gehirn von Mensch und Tier muß die Signale, die von außen kommen und als solche bedeutungsfrei sind, immer interpretieren. Darin besteht der einzig sinnvolle Inhalt von "Abgeschlossenheit".
Man ist einige Zeit davon ausgegangen, das Gehirn als informationsverarbeitendes System analog dem sequentiell und hierarchisch aufgebauten von-Neumann-Computer zu verstehen. Gegenwärtig schiebt sich eher das Modell der sogenannten neuronalen parallelverarbeitenden Netze als Vorbild in den Vordergrund, die leistungsfähiger seien. Ist denn das, was im Computer nach dem Vorbild des Gehirns installiert werden kann, wirklich vergleichbar mit dem, was in ihm stattfindet?
Vorerst überhaupt nicht. Der Schritt vom sequentiell zum parallel verarbeitenden Computer ist ein rein technischer Aspekt. Man hat gesehen, daß viele technische kognitive Aufgaben wie Bilderkennungsleistungen nicht nacheinander abgearbeitet werden können, weil das zuviel Zeit kostet. Mit dem eigentlichen Problem des Gehirns hat das aber gar nichts zu tun, das darin besteht, herauszufinden, welche Umweltsignale für es selbst bedeutungsvoll sind. Ob das sequentiell oder parallel verarbeitet wird, spielt für das Problem des Gehirns als einer semantischen Maschine oder eines semantischen Systems keine entscheidende Rolle.
Bislang können offenbar Computersimulationen von intelligenten Leistungen diesen Bereich der Semantik nicht erreichen. Wäre es eine Konsequenz Ihrer Ausführungen, daß dies auch gar nicht erreichbar sein wird?
Computer, die man baut, sollen ja etwas tun, was uns nutzt. Das kann einfach oder kompliziert sein, aber die Bedeutung dessen, was sie tun, wird von uns vorgegeben. Wir wollen, vorerst zumindest, keine Computer, die etwas tun, was sie selber wollen.
Aber das wäre denkbar?
Nehmen wir einmal an, wir könnten Computer konstruieren, die so gebaut sind wie wir, daß sie also nach internen Regeln dem, was sie erleben, Bedeutungen zuweisen. Dann würden sie unter Umständen Dinge tun, die wir nicht wollen oder die für uns irrelevant sind. Deshalb ist es für uns nicht interessant, semantische Computer zu bauen. Das Gehirn hingegen muß ein Verhalten erzeugen, das für es selbst und den Organismus, in dem es sitzt, und nicht für einen Beobachter bedeutungsvoll ist. Das Gehirn konstruiert sich zusammen mit dem Organismus selbst und damit auch seine Regeln, nach denen es bedeutungsvoll wahrnimmt und handelt. Solange wir solche Computer nicht wollen, ergibt sich auch das Problem der Bedeutungserzeugung in Computern nicht. Es mag sehr schwer sein, solche Computer zu bauen, aber ausgeschlossen ist es nicht, wenn wir herausfinden würden, wie natürliche kognitive Systeme Signalen bestimmte Bedeutungen zuweisen.
Müßte dann aber nicht auch die Verbindung von Gehirn und Körper entscheidend werden, weil der Körper ja nicht nur unsere Position in und unsere Interaktion mit der Welt bestimmt, sondern auch unsere Bedürfnisse und Wünsche hervorruft? Müßte man also die KI, wenn sie die Dimension der Semantik erreichen sollte, in einem Roboter implementieren?
Man kann das Gehirn nicht verstehen, wenn man nicht versteht, in welchem sensomotorischen Umfeld es existiert. Wir wissen von Menschen und von vielen Tieren, daß sie keine kognitive Welt aufbauen, wenn sie nicht in der Welt aktiv sind. Von Säuglingen und Kleinkindern wissen wir, daß sie die Welt aktiv erfahren und begreifen müssen, damit sich überhaupt das, was wir als Wahrnehmungs-, Vorstellungs- oder Gedankenwelt erleben, entwickeln können. Ein Ergebnis der Untersuchungen des Verhältnisses zwischen Gehirnforschung und Künstlicher Intelligenz ist, daß man Computer als sich sensomotorisch verhaltende Systeme bauen muß, wenn sie wirklich intelligent sein sollen. Sie müssen handgreifliche Erfahrung mit der Welt machen können, um eine interne kognitive Welt zu entwickeln. Ob man das, wie gesagt, will und ob man das auch technisch realisieren kann, ist eine ganz andere Frage.
Die Analogie Computer und Gehirn wird auch davon unterstützt, daß die neuronale Sprache, dem digitalen Code vergleichbar, unspezifisch ist. Sie übersetzt alle Signale in einen Ja-Nein-Code, übermittelt nur Intensitäten, aber nicht die Qualitäten der von den einzelnen Sensoren aufgenommenen Reize. Offenbar ist lediglich die Lokalität, wo Reize aufgenommen und im Gehirn verarbeitet werden, nicht aber ihre Qualität dafür entscheidend, wie sie interpretiert werden. Ist es denn wirklich zutreffend, daß einzig die Lokalität darüber entscheidet, was wir als visuellen, auditiven oder taktilen Eindruck empfinden, also ähnlich wie man beim Computer durch entsprechende periphere Geräte jede Bitfolge in einen beliebigen Output verwandeln kann?
Es gibt grundsätzlich das Prinzip der Unbestimmtheit oder Neutralität des neuronalen Codes, d.h. die Aktivität von Nervenzellen hat primär nichts mit dem zu tun, was wir subjektiv empfinden, wenn Nervenzellen tätig sind. Wenn eine Nervenzelle aktiv ist, so kann das im Kontext des Sehens, des Hörens, des Riechens, im Kontext der Farbe, der Form oder Bewegung sein, aber man kann dies an ihrer Aktivität nicht ablesen. Nun gibt es natürlich verschiedene Arten der Codierung, auf denen das, was wir letztlich wahrnehmen, beruht. Was Nervenzellen "können", ist, daß sie aktiv oder nicht aktiv sind, daß sie gehemmt oder erregt sind und daß sie ganz verschiedene Stufen der Erregung einnehmen. Mit diesen verschiedenen Erregungsstufen können nur quantitative Unterschiede ausgedrückt werden, z.B. Grade der Heiligkeit einer Farbe, der Lautstärke eines Tones oder der Geschwindigkeit eines Reizes. Alles Qualitative wird nach anderen Prinzipien codiert. Wir wissen, daß die Modalität, also die elementarste Unterscheidung von Sehen, Hören, Fühlen, Schmecken usw., nach dem Ortsprinzip geschieht, d.h. die Modalität wird bestimmt davon, wo im Gehirn eine Erregung stattfindet. Dabei ist es völlig irrelevant, woher die Erregung "in Wirklichkeit" kommt. Ob ich eine Hirnregion wie den Hinterhauptskortex künstlich stimuliere oder ob die Erregung vom Auge stammt, es entsteht ein Seheindruck. Der neuronale Code ist hier ein räumlicher Code. Diese räumliche Codierung gilt auch für die sogenannten primären und sekundären Qualitäten, z.B. daß ein visueller Eindruck als Farbe wahrgenommen wird. Dann gibt es natürlich noch sehr viele kompliziertere Codes, die etwas über die Neuheit, die Vertrautheit oder die Sinnhaftigkeit von Reizen aussagen. Dies beruht auf Vergleichen von Vergleichen zwischen neuronalen Erregungen. Die Erregung von Nervenzellen wird immer mit der Erregung von anderen Nervenzellen verglichen. Bedeutung im Gehirn entsteht also immer relational. Daraus konstruiert sich das Gehirn, d.h. daraus konstruieren sich die Teile des Gehirns gegenseitig die Welt zusammen. Es gibt bestimmte räumliche und zeitliche Prinzipien, nach denen das Gehirn offenbar strikt vorgeht. Wenn also etwas zu einer bestimmten Zeit, am Ort A geschieht, dann ist es beispielsweise Sehen. Wenn das am Ort A passiert und irgendetwas am Ort B, dann ist es beispielsweise vertraut oder unvertraut, bedeutungshaft oder nicht bedeutungshaft.
Es kommen also Reize von unseren Sinnesorganen an, die in die neurale Sprache übersetzt und dann gewissermaßen zu bestimmten Phänomenen des Sehens oder Hörens komputiert werden. Wäre denn dann die Metapher zutreffend, daß unsere Wahrnehmungswelt auf einen mentalen Bildschirm projiziert wird? Wir sehen nicht noch draußen, sondern auf einen Bildschirm, auf den das Außen simuliert wird.
Nein, diese Metapher wäre nicht richtig, weil wir dann jemanden bräuchten, der sich diesen Bildschirm anschaut. Das ist übrigens eines der zentralen Probleme der Hirn- und Kognitionsforschung. Man stellt fest, daß die verschiedenen Codierungen, die ich eben beschrieben habe, an vielen Orten im Gehirn gleichzeitig passieren. Es gibt kein oberstes Wahrnehmungszentrum, es gibt niemanden, der sich das noch einmal anguckt, was im Gehirn passiert, und der dann sagt, was das bedeutet, daß ich beispielsweise einen bunten Gegenstand sehe. Wie das Prinzip der Organisation geschieht, ist nach wie vor ungelöst. Man vermutet zwar, daß bestimmte Mechanismen die einzelnen Erregungen zu einem Gesamtbild zusammenfügen. Das System, das diesen Gesamteindruck produziert, ist offenbar unser Gedächtnis. Vielleicht liegt hier die Lösung des scheinbaren Paradoxons, daß es keine höchste Wahrnehmungsinstanz in unserem Gehirn gibt. Obwohl wir eine Welt erfahren, ist sie in vielen Teilen des ganzen Gehirns repräsentiert. Wir müssen davon ausgehen, daß unser Gedächtnis dieses integrative System ist, das uns unsere Welt schafft. Dabei ist das Gedächtnis selbst über das ganze Gehirn verteilt. Dazu muß man sich die Normalsituation der Wahrnehmung vorstellen. Auf der Tagung über Psychophysik, von der ich gerade komme, wurde gesagt, daß eines der wesentlichen Probleme für die Wahrnehmung die Tatsache ist, daß die Sinnesorgane sehr viel mehr Informationen aufnehmen, als das Gehirn verarbeiten kann. Der erste und wichtigste Schritt ist dabei, alles, was bekannt, also redundant ist, zu eliminieren. Das Gehirn sucht das heraus, was abweicht, was nicht zu erwarten war, was sich nicht aus dem Kontext ergibt. Das ist eine extrem effiziente Weise der Komplexitätsreduktion, wobei das Gedächtnis ständig entscheiden muß: bekannt–unbekannt, neu–alt, interessant–uninteressant. Das Gedächtnis bindet unsere Wahrnehmung zu einem gestalthaften Ganzen zusammen. Alle Systeme stehen sozusagen im Dienste des Gedächtnisses, das der jeweilige Erfahrungszustand ist, der von früheren Erfahrungszuständen abhängt. Das Gehirn fängt bereits vor der Geburt an, Erfahrung zu akkumulieren, und jede Erfahrung gestaltet wiederum jede neu anliegende Wahrnehmungssituation. Das Resultat wird bewertet und im Gedächtnis niedergelegt.
Wenn durch das Gedächtnis, wie Sie sagen, nur Informationen registriert werden, die neu und nicht erwartet sind, dann könnte man sich doch, einmal ganz naiv gefragt, gar nicht in seiner Umwelt orientieren, die ja durch Erwartungen konstituiert wird? Wir erwarten doch, daß der nächste Schritt, den wir auf diesem Boden tun, uns nicht in einen leeren Raum fallen läßt. Wir sehen doch, wenn auch vielleicht nicht aufmerksam oder bewußt, meist uns ganz vertraute Gegenstände oder Räume, weil wir uns sonst nicht routiniert und ohne anzustoßen" bewegen könnten. Zudem ängstigt uns doch auch oft etwas Neues, wenn es noch dazu unerwartet ist. Ist also die Elimination des Vertrauten wirklich eine Grundeigenschaft des Gedächtnisses, das dieses ja speichern muß, um es mit einer Erfahrung vergleichen zu können?
Überlegen wir uns noch einmal die Situation, vor die unser Wahrnehmungssystem in jeder zehntel Sekunde gestellt ist. Wenn wir alles erleben würden, was unsere Sinnesorgane primär wahrnehmen, dann kämen wir nie zum Handeln. Wir müssen aber handeln, indem wir auf wichtige Dinge reagieren und unwichtige ignorieren. Die einfachste Möglichkeit, dieses Problem zu lösen, besteht darin, daß das Gedächtnis von sich aus all das produziert, was es erwarten kann. Wir erleben subjektiv in unserer visuellen Umwelt außerordentlich viel, was aus unserem Gedächtnis kommt und was wir aktuell gar nicht wahrgenommen haben. In das zentrale Wahrnehmungssystem dringt immer nur das hinein, was nicht sowieso zu erwarten ist. Durch eine solche konstruktive Wahrnehmung kann man auf kürzeste Weise reagieren. Ein System, das immer nur die Unterschiede zu dem früher Wahrgenommenen registriert, wobei "früher" eine zehntel Sekunde heißt, ist außerordentlich ökonomisch, weil es auf die Unterschiede ankommt. Alles andere wird vom Gedächtnis zentral erzeugt und "hinzugedichtet". Deshalb leben wir in einer hochgradig konstruierten Welt. Das ist auch der Überlebenswert der Konstruktivität des Gehirns, weil man so in außerordentlich kurzer Zeit außerordentlich komplexes Verhalten erzeugen kann, ohne daß man gleichzeitig unendlich viele Daten aus der Umwelt abfragen müßte. Wäre unser Gehirn nicht so konstruktiv, dann könnten wir niemals in der komplexen natürlichen und sozialen Umwelt überleben.
Würden Sie denn sagen, daß so etwas wie ästhetische Empfindungen, die mit gewissen Bewertungen wie schön, interessant, erhaben, langweilig oder häßlich einhergehen, auf Menschen beschränkt sind? Könnte man sagen, daß auch Tiere bestimmte Wahrnehmungen als schön empfinden, was das auch immer näher heißen mag?
Das ist natürlich schwer herauszukriegen, aber es gibt Versuche dazu. Mein akademischer Lehrer Bernhard Rensch hat in Münster bereits vor mehreren Jahrzehnten Versuche mit Schimpansen gemacht, indem er sie malen ließ. Zumindest von Affen kann man annehmen, daß sie ein ähnliches ästhetisches Empfinden haben wie wir. Inwieweit das andere Tiere haben, ist nicht feststellbar, zumal man nicht zur Gänze weiß, wie visuelle Wahrnehmung funktioniert, geschweige denn eine solche im Kunstbereich. Es gibt aber das interessante Phänomen, daß Menschen interindividuell und interkulturell sehr weit in dem übereinstimmen, was sie schön finden. Das mag eine Auffassung sein, die ein Kunstästhet nicht teilt. Viele Menschen mögen im Bereich der Musik Harmonisches, Ausgeglichenes und Ruhiges oder im Bereich der Bildenden Kunst klare Linien und saubere Konturen. Von diesen Strukturen weiß man auch, daß sie vom Wahrnehmungssystem im auditorischen oder visuellen Bereich stark bevorzugt werden. Hier ergibt sich zumindest ein Übergang vom allgemeinen zum ästhetischen Wahrnehmen. Das Problem dabei ist natürlich, daß der ausgedehnte Umgang mit solchen künstlerischen Strukturen sich sehr stark verfeinern kann. Man kann einfache Musik sehr schön, aber auch sehr langweilig finden. Man kann z.B. ein Freund von Händel oder einer von Schönberg oder Stockhausen sein. Hier wird ganz offensichtlich durch Erfahrung ein bestimmtes Wahrnehmungsmodell überformt. Aber wenn man fragt, was Völker auf dieser Erde und sogenannte ungebildete Menschen schön finden, dann ist das erstaunlich gleichförmig.
Würden Sie denn sagen, daß auch innerhalb der Wissenschaften ästhetische Kriterien eine erheblich größere Rolle spielen als die bislang meist zum Ausdruck gebrachte Orientierung an der Wahrheit oder einer objektiven Erkenntnis?
Mit Wahrheit hat das sicher nichts zu tun, schon eher mit der Tendenz unseres kognitiven Systems, Dinge möglichst einfach zu handhaben, also alles auf einfachste Gesetze und Prinzipien zu reduzieren. Vom Wahrnehmungssystem zumindest kann man dies sagen, weil das die Strategie ist, Freiheitsräume für das Verhalten zu erzeugen. Das mag eine der Wurzeln der naiven Freude an der Kunst, aber auch der naiven Freude eines Wissenschaftlers sein, wenn er komplizierte Sachverhalte auf möglichst einfache Prinzipien reduziert hat. Wir müssen aber dabei im Auge behalten, daß dies nur eine erste Stufe ist. Man kann auch Freude an sehr komplexen Dingen haben. Das ist die überwältigende Plastizität unseres kognitiven Apparates.
Sie würden also sagen, daß es eine primäre Schicht ästhetischer Anmutungen gibt, die für alle Menschen etwa gleich ist und die auch wesentlich in unser Verhalten und Wahrnehmen hineinwirkt. Weil aber Menschen Umwelten erzeugen können, die nach diesen ästhetischen Kriterien der Selektion aufgebaut sind, kommt es gewissermaßen zu einem rekursiven Prozeß, in dem die Dynamik zur Geltung kommt, die Sie vorher in Bezug auf Neuigkeit herausgestellt haben.
Unser Wahrnehmungssystem befindet sich bezüglich des Wohlgefallens oder des Lustempfindens in einem Dilemma. Auf der einen Seite müssen Wahrnehmungsphänomene möglichst vereinfacht werden, damit sie handhabbar sind, auf der anderen Seite ist diese Vereinfachung aber langweilig, sie unterfordert unser Aufmerksamkeitssystem. Es gibt ja in uns das schon genannte Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitssystem, das immer nur durch Abweichendes, Neues und Unbekanntes aktiviert wird. Aufmerksamkeit und Neugierde sind auch etwas Lustvolles. Wir haben also das Dilemma, daß sehr einfache Strukturen als angenehm und andererseits als langweilig empfunden werden, während etwas Neues auch als lustvoll empfunden wird. Das ist unter anderem das Dilemma der Kunstempfindung. Wird etwas zu einfach, schlafen wir ein. Wird es zu kompliziert, wie etwa bei der modernen Musik, sind wir sensorisch und intellektuell oft überfordert. Dieser Bereich zwischen dem, was nicht zu einfach und was nicht zu kompliziert ist, ist offenbar die Variationsbreite, die der Kunstempfindung zugrundeliegt. Der Neuigkeitsgrad kann sich natürlich auch sehr stark verändern. Man kann ständig Neues erfahren, aber auch selbst das wird allmählich langweilig, weswegen man einen höheren Grad an Neuigkeit, an Unbekanntem erfahren muß. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn man sich zuerst an Mozart und dann an Wagner "sattgehört" hat. Darauf möchte man vielleicht Schönberg oder Stockhausen hören. Aber Menschen sind in dieser Hinsicht sehr plastisch. Es ist immer die Frage der Einfachheit und der Interessantheit der Wahrnehmung, zwischen der unser Bedürfnis nach lustvoller Erfahrung, worauf ja Kunst beruht, sich einstellen muß.
Wenn das so wäre, dann müßte sich doch eine Formel dafür angeben lassen, zumindest welche formalen Ordnungsstrukturen Menschen als schön empfinden müßten. Dem aber würde die von Ihnen angeführte Dynamik zwischen Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitsystem entgegenlaufen, die ja auch eine Geschichte beinhaltet. Wäre es also sinnvoll eine solche Formel zu suchen, auf deren Fährte bereits die Informationstheoretiker der fünfziger Jahre waren?
Nein. Einfachheit und Komplexität haben gleichermaßen Nachteile. Jeder Mensch ist ein Individuum, das nur vorübergehend zwischen diesen Polen seine Kunsteinstellung findet, die sich ja fortwährend verändert. Was man zuerst interessant fand, wird langweilig. Zuviel moderne Musik und Kunst wird einem vielleicht zu kompliziert. Man will einfache Strukturen. Das ist von Mensch zu Mensch, aber auch bei einem Menschen in den verschiedenen Lebensaltern sehr verschieden.
Nun gibt es seit der Moderne, Duchamp wäre für diese Position charakteristisch, den Versuch, Kunstwerke aus dem Kontext von ästhetischen Erfahrungen herauszulösen und mit ihnen meist paradoxe, jedenfalls reflexive Fragen an den Begriff der Kunst zu stellen. Damit wird einerseits der Bereich von Kunst immer größer und andererseits wird damit auch der Unterschied etwa zwischen Kunst und Nicht-Kunst oder auch zwischen Bild und Wirklichkeit nivelliert. Wie würde man denn aus der Perspektive der Gehirntheorie sich solche Phänomene erschließen? Das Bildbewußtsein scheint bei Menschen ja sehr zentral zu sein, während Tiere nicht in der Lage sind, Bilder zu erkennen, also daß sie nicht nur Gegenstände sind, sondern auch etwas repräsentieren. Warum also könnte es für das Gehirn interessant sein, die Ausdifferenzierungen, die kulturell oder auch biologisch geleistet worden sind, wieder einzuziehen?
Dazu gehört natürlich die Eigenschaft unseres Wahrnehmungssystems, etwas zu tun, was nicht unmittelbar verhaltensrelevant ist, was für viele Tiere nicht unmittelbar zutrifft. Tiere können es sich, auch von ihrer Gehirnkapazität her, wohl nicht "leisten", Kunst zu machen. Der Mensch mit seinem großen und komplizierten Gehirn kann sehr viel mehr tun, als für sein Überleben notwendig wäre. Das ist eine wesentliche Wurzel von Kunst, aber auch von Wissenschaft. Wenn man vom konstruktivistischen Standpunkt her erklären will, was Kunst ist, dann muß man scheinbar paradox sagen, daß Kunst all das ist, was bestimmte Leute für Kunst halten. Es gibt keine scharfe Trennlinie zwischen Kunst und Nicht-Kunst. Weil das Gehirn sich die Wirklichkeit konstruiert, muß es auch innerhalb dieser Wirklichkeit konstruieren, was überlebensrelevant ist und was nicht, was schön ist und was nicht. Insofern gibt es auch keinerlei Unterschied zwischen wissenschaftlich und nicht-wissenschaftlich. Diese Grenze ist historisch verschiebbar. Wenn man die Aussagen der Relativitätstheorie nimmt, so wären sie vor 150 Jahren noch als purer Mystizismus angesehen worden. Der Grund dafür liegt darin, daß solche Definitionen selbstreferentiell sind. Was Wissenschaft ist, definieren in jeder historischen Epoche Wissenschaftler, und diese wiederum definieren sich über Wissenschaft.
Darin läge ja auch eine Parallele zur Selbstreferentialität des Gehirns.

Ja; weil das Gehirn sich die Wirklichkeit selber konstruieren muß. Was es dann für wirklich hält, muß es in einem Selbstbewährungsprozeß herausbekommen.
In der Geschichte der Menschheit läßt sich ein starker Drang beobachten, Illusionstechnologien zu entwickeln, angefangen von Ritualen, Zeremonien und Bildern bis hin zum Theater, zum Panorama oder zur sogenannten Virtuellen Realität, wo man sich in einen "Taucheranzug" begibt und in ein computererzeugtes Bild einsteigen kann. Warum wollen wir Türen erfinden, um in eine illusionäre und selbsterzeugte Wirklichkeit eintreten zu können? Und ist es realistisch denkbar, daß wir irgendwann einmal durch die Gehirnforschung in der Lage sein werden, das Gehirn direkt an einen Computer zu koppeln, der bestimmte Stimulationen auslöst, ohne daß wir noch Bilder betrachten oder so einen Datenanzug anziehen müssen, also daß wir unser Sensorium überspringen können und dennoch eine Wahrnehmungswelt besitzen?
Wir müssen uns darüber klar werden, daß wir diesen Zustand bereits erreicht haben. Die Welt, in der wir leben und von der wir ein Teil sind, ist eine konstruierte Welt. Die Frage ist nur, ob es in dieser konstruierten Welt noch eine weitere konstruierte Welt sozusagen zweiten Grades gibt. Man kann natürlich mit Hirnstimulationen heute schon eine Menge Effekte erzielen. Ob man allerdings das Nervensystem so spezifisch stimulieren kann, daß wir genau solche Wahrnehmungen haben wie mit unseren sensorischen Organen, ist eine offene Frage. Ich glaube das nicht. Eine Frage ist auch, warum man das überhaupt haben will, weil die Sinnesorgane genau diese exakten Stimulatoren sind.
Wir ergänzen sie doch auch dadurch, indem wir sie an technische Geräte wie ein Fernrohr anschließen, die uns dann auch sensorische Erfahrungen machen lassen, wie wir sie sonst nicht machen könnten.
Ihre erste Frage war ja, warum wir einen solchen Drang haben, der überall verbreitet ist. Schon ganz einfache Kulturen haben diesen Drang, die rauhe Wirklichkeit zu transzendieren. Dies scheint eine Wurzel darin zu haben, daß unser Gehirn pausenlos konstruktiv ist und durch die Sinnesdaten an dieser überbordenen Konstruktivität gehindert wird. Wir sind ständig dabei, Wirklichkeiten zu konstruieren. Und wir werden veranlaßt, eine davon auszuwählen, die mit den aktuellen Sinnesdaten am besten vereinbar ist. Wenn diese Koppelung wegfällt, dann träumen oder halluzinieren wir. Das ist eigentlich der Normalzustand. Es ist also eine elementare Freude unseres Gehirns als ein kognitives System, Welten zu erzeugen. Vielleicht ist es für es eher unangenehm, genau diese Welt herauszusortieren, die mit den "harten" Sinnesdaten am besten übereinstimmt.