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Globus oculi


'Jean-Louis Boissier Jean-Louis Boissier

DIE POETIK VON INTERNER INGANGSETZUNG UND ABZWEIGUNG
Der Bildschirm ist ein neuer Verlagsraum, ein Mittel der Organisation von Texten, Bildern und Tönen, das – dank der in interaktiven Videoinstallationen gegebenen Verbindung zweier Methoden des Werkzugangs, nämlich des Spektakels und der Lektüre – vielfältigere Interpretationsmöglichkeiten eröffnet als Buch. Die Lektüre ermöglicht dem Publikum eine Autonomie der Entscheidung, des flüchtigen Durchlesens und der Interpretation. Das Spektakel kann eine vollendete Ausführung, eine organisierte Zeit, gegliederte Ereignisse mit sich bringen. Die üblicherweise vom Spektakel ausgehende Bewegung wird in der interaktiven Lektüre nachvollziehbar. Das Durchblättern und der Gang der Lektüre widersprechen nicht unbedingt der Bewegung, die dem Bild eigen ist: es wird eine Beziehung zu Büchermechanismen hergestellt, wobei der Leser selbst rudimentäre vereinfachte, signifikante Transformationen in Gang setzt.

Der Computer ist sowohl Produktions- wie auch Distributionsinstrument des Programms. Flüssigkeit und Vollständigkeit von Datenzirkulation, Verfahrensspeicherung und Informatik, inklusive jener in den einfachen Systemen der Mikroinformatik, offenbaren diese Kapazität zur Verwirklichung eines eigentümlichen Kontinuums vom Autor hin zum Leser. Der Großteil meiner Recherchen versucht den Begriff des Erfassens einzukreisen und ihn über die Methoden der Filmaufnahme hinaus zum Prinzip der interaktiven Beratung zu erweitern. Die dem Bild innewohnenden potentiellen Ereignisse hängen, wie der photographische Bildertypus, von einem Verfahren zur Ermittlung der Realen ab. Die vom Programm vorgeschlagenen interaktiven Verfahren, können selbst wiederum als Bilder gesehen werden, als Indizien für aus der Wirklichkeit und insbesondere aus der Programmausstattung selbst übernommene Einstellungen und Gesten. Der Leser versucht im Simulationsverzeichnis Zugang zu jenem Verfahren zu erlangen, welches die Selbsterzeugung des Bildes verfolgt hat.

Mit interaktiven Multimediaprogrammen (die heutzutage mittels Hypermedien konstruiert werden), etwa mit der interaktiven Bildsynthese (die über Virtual Reality konstruiert wird), eröffnet sich ein neues ästhetisches Terrain. Der Autor organisiert hier Steuerungs-, Auswahl-, Such-, Bearbeitungs- und Rückkopplungssituationen. Die Interaktivität befindet sich im Zentrum des neuen Schreibens und der neuen Plastizität, die mit den Techniken der Informatik in Erscheinung getreten sind.

Im Rückblick betrachtet, zeigt sich diese Dimension der Interaktivität, die die Beziehung des Autors zu seinem Werkzeug und zu seiner Produktion ebenso bestimmt wie das Verhalten des mit dieser Arbeit konfrontierten Publikums, in zahlreichen Aspekten der Geschichte des künstlerischen Schaffens. Immer transformiert die Informatik – hauptsächlich aufgrund ihrer Verarbeitungsgeschwindigkeit sekundäre oder latente Phänomene, bis hin zur Änderung des Ortes und der ästhetischen Wirkungen. Die interaktiven Arbeiten beruhen auf dieser Rückkopplungsgeschwindigkeit in der vom Benutzer wahrgenommenen Zeit und auf dem Umfang dessen, was bearbeitet wird, um eine spezifische Antwort auf eine spezifische Fragestellung zu erstellen.

Die besondere Ästhetik interaktiver Arbeiten beruht, wenn sie selbst zum Gegenstand der Untersuchung wird, vielleicht auf zwei miteinander verknüpften Begriffen: Echtzeit und Autonomie. Sie spielt sich in einer paradoxen Situation ab, welche Entitäten hervorruft, die sich selbst nicht genügen können und die grundlegend eine aktive Partizipation des Publikums erfordern, die aber gerade deswegen über eine Autonomie des Verhaltens und über ein beachtliches Potential an Variabilität und Anpassungsvermögen verfügen müssen. Deshalb ist die Interaktivität an eine Veränderung des Verfahrens der Repräsentation gebunden und das ist jene der Simulation. Die "Objekte" dieser Simulation sind nicht mehr die Bilder, Texte, Töne, nicht einmal die bloße Kombination von visuellen, akustischen und Tastempfindungen, sondern komplexe, hybride Apparaturen, die einen Teil der Instrumente, die sie erzeugt haben, mit einschließen, sofern sie sich nicht selbst mit den Maschinen identifizieren. Es ist nicht ein Werk außerhalb der Apparatur, vielmehr macht die Apparatur das Werk, macht sich zum Werk.

Ein anderer Aspekt dieses Paradoxons wohnt einem Begriff inne, der ebenfalls dem Vokabular der Informatik entliehen ist, nämlich dem Begriff der Schnittstelle. Oft wurde auf dem "immateriellen" Charakter dessen, was die Informatik bearbeitet, insistiert, auf der Dematerialisation des daraus resultierenden Werkes, womit sich die künstlerische Tendenz des Objektverlusts fortsetzt. (Übrigens wurde der Terminus "immatériaux" von Jean-François Lyotard 1984 formuliert, um dem, was nicht rein auf dem Rang des "immatériel" belassen werden konnte, wieder Konsistenz zu verleihen).

Ist dasjenige virtuell, was im Zustand "des Vermögens" verharrt, was die Macht hat, sich zu verwirklichen, ohne es notwendigerweise auch zu tun, was seine Fähigkeiten zum Ausdruck bringt, ohne sie jemals völlig kundzutun? An das Kunstgemachte, also an das Artifizielle, schließt ein poetischer Raum des Potentiellen und der Möglichkeiten an, etwas, das über den Anstrich der Realität verfügt, ohne sich mit dem, was gewöhnlich als real bezeichnet wird, zu vermischen. Wenn die vom Computer produzierte und verarbeitete informationelle Substanz sich allein über ihren sprachlichen und abstrakten Charakter bestimmen würde, könnte sie nicht auch noch außerhalb der Maschinen existieren und vor allem wäre sie ohne die Vermittlung irgendwelcher Apparaturen nicht zugänglich.

Der Künstler, der sich heute dem "Genre" des Virtuellen zuwenden will, sieht sich gezwungen, sich auch und vielleicht sogar zuerst der überaus bedeutsamen Schnittstelle, die den Zugang, die internen Ingangsetzungen und Abzweigungen steuert, zuzuwenden bzw. sie zu begreifen. In Anbetracht der jüngsten Recherchen einiger "VirtualReality"- oder "Hypermedien"-Künstler, ist eine Berücksichtigung der Schnittstelle als integraler Werkbestandteil festzustellen. Noch wichtiger ist, daß die Miteinbeziehung des Zuschauers, seines Körpers, inszeniert werden muß. Das ist seit den in den 60er und 70er Jahren angestellten Untersuchungen über die "Partizipation des Zuschauers" bekannt, – der Zuschauer, jetzt Leser, Interpret und Akteur, oder als solcher zumindest von den anderen gesehen, ist zum konstitutiven Bestandteil der künstlerischen Arbeit geworden. Dies angesichts eines – vielleicht provisorischen – Mangels an einer "Standard"-Schnittstelle, die danach trachten würde, sowohl gegenüber dem Autor wie auch gegenüber dem Publikum in den Hintergrund zu treten, wie dies z.B. der Projektor für das Kino oder der Bucheinband für die Literatur kann. Aber vielleicht sind Literatur oder Kino als Disziplinen gerade über solche Schnittstellen entstanden.

Die Idee der Interaktivität und die Interaktionsbeziehung selbst wären als simple Effizienzwerte nicht akzeptiert worden. Die Einbeziehung dieser Techniken in die künstlerische Arbeit führt zu einer kritischen Distanz, die aus der authentischen Erfahrung ihrer Grenzen, aus der notwendigen Enttäuschung, hervorgeht. Es ist diese Sicht der sowohl perzeptiven, wie auch psychologischen und das Verhalten berücksichtigenden Ordnungsarbeit, die es mir ermöglicht hat, den Begriff der "Dramaturgie der Interaktivität"* in den Raum zu stellen. Ich füge heute – ganz in der Hoffnung auf eine Vertiefung des konzeptuellen Charakters der Forschungen über die Kunst des Virtuellen, entsprechend ihrem inneren Grundprinzip – hinzu, daß an der Homogenität und Angemessenheit der Schnittstelle und Szenographie, die unvermeidlich an ihr appliziert werden, und um alles zu ihrer paradoxen Plastizität zu sagen, gearbeitet werden muß. Denn es ist schwierig und vielleicht überflüssig, den Anteil des Virtuellen am Aktuellen zu beschreiben, man muß, wie so oft in der Kunst, an den klar zu erkennenden Extremen arbeiten: vom tiefsten Grund des Logischen zur Oberfläche des Befehls.

* «Dramaturgie de l'interactivité», Colloque Vers une Culture de l'interactivité, Cité des Sciences et de l'Industrie, Oktober 1988.