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Ars Electronica 1992
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Festival 1979-2007
 

 

Brille


'Markus Huemer Markus Huemer / 'Robert Jelinek Robert Jelinek

Der slowenische Philosoph Slavoj Zizek beschreibt die Besonderheit einer Wahrnehmungssituation: "So steckt der Schrecken nicht in der Totenmaske, sondern im Pochen des enthäuteten Fleisches. Jeder, der einen Blick auf diese amorphe Lebens-Substanz erhascht, betritt verbotenes Gelände und muß deshalb ausgeschlossen werden. Darin besteht das letzte Paradoxon der 'lebenden Toten': es scheint, als sei der Tod mit seinem Leichengestank nur eine Verkleidung, die ein weit 'lebhafteres' Leben als unser gewöhnliches Alltagsleben birgt."

Der Blick nach Innen eines menschlichen Subjekts bleibt vorerst eine Fiktion, eine Konstruktion für verschiedene Begehren. Spätestens durch die Theorien von Descartes wurde jene, vielleicht fatale Trennung der (Binnen-)Seele von der (Außen-)Welt, des immanenten Bewußtseins vom transzendenten Körper, der subjektiven von der objektiven Welt vollzogen. Doch nun gerät diese Grenzziehung ins Wanken. Die unterschiedlichsten Diskurse ringen neu um den imaginären Begriff "Innen". Auch die Kunst.

Huemer/Jelinek. beschäftigen sich auf eine sinnlich-konzeptuelle Weise mit dem Blick nach Innen. Ausgangspunkt ist ihre Beobachtung der Diskrepanz zwischen einer tiefgründigen, reflektierenden und einer oberflächlichen, nicht-reflektierenden Perzeption. Schon Walter Benjamin hatte vom qualitativen Unterschied zwischen der Kontemplation eines auratischen Werks und der zerstreuten Wahrnehmung gewußt. Der schnelle Blick ist es, den die Künstler im Alltag als dominierend registrieren: der Blick, der dem Zapping durch das TV-Programm folgt, der Blick, der die reich dekorierten Auslagen der Schaufenster entlang wandert oder der Blick, der durch die überfüllten Kunstausstellungen in Museen gleitet. In dieser reizüberfluteten Welt sollen durch Beschleunigung in jeder Dimension Zeit und Raum gänzlich überwunden werden. Dabei gelangen wir an die Grenzen unserer Sehfähigkeit. Wir benötigen immer mehr Maschinen. Die Wahrnehmung selbst hat sich, wie es Paul Virilio ausdrückt, in ein "Schlachtfeld" verwandelt. In "Ästhetik des Verschwindens" greift Virilio eine Beobachtung von Aldous Huxley auf, daß Millionen Menschen in der westlichen Welt Sonnenbrillen tragen, nicht nur am Strand und nicht nur beim Autofahren, sondern auch in der Dämmerung und in den schwach beleuchteten Gängen öffentlicher Gebäude. Virilio zieht daraus den Schluß, daß uns das Licht, das wir an sich als angenehm empfinden, uns in Form von Projektoren, Monitoren oder anderen Lichtverteilungsapparaten als Waffen und damit als bedrohlich erscheint. Um nicht von Bildern überflutet, vom intensiven Licht der Projektoren überrascht zu werden, schützt der Mensch der Zivilisationsgesellschaft seine Netzhaut mit einer dunklen Brille.

Huemer/Jelinek. entwickelten ein Objekt gegen das schnelle Sehen, gegen das Überangebot an Informations-Input. Ein einfaches Werkzeug menschlicher Wahrnehmung ist die Brille. Dieses optische Gerät bildet gleichsam eine Metapher für das Sehen im allgemeinen. Auf den ersten Blick erscheint die Brille wie eine klassische Sonnenbrille mit schwarzem Gestell. Dem Gegenstand Sonnenbrille spricht Roland Barthes die Eigenschaft des Verbergens zu. Sie ist eine Maske der Diskretion, die Gefühlsausdrücke und Begierden versteckt. Die Sonnenbrille und ihr begrenztes Sehfeld wird zum Filter von Privatheit und Öffentlichkeit. Man verstellt den Blick, um selbst nicht gesehen zu werden. Verschlafene oder vom Weinen entzündete Augen werden von dunklen Gläsern genauso verhüllt, wie Unsicherheit überspielt. Eine Sonnenbrille läßt ihren Träger jugendlich, cool und souverän erscheinen.

Doch die Lichtschutzbrille hat noch eine andere Eigenschaft. Auf der Innenseite dieser Brille wurde mittels einer speziellen Dampftechnik Spiegelglas aufgetragen. Wer sie aufsetzt, blickt auf sich selbst. Er sieht sich sehen. Das Tragen der Brille wird auf wörtlicher und metaphorischer Ebene zur Selbstreflexion. Nimmt man diese "Kunstbrille" in die Hände, erkennt man zunächst, daß sich die eigenen Augen darin spiegeln. Setzt man sie auf, schmelzen die beiden Augen auf Grund der kleiner werdenden Reflexionsdistanz zu einem Auge zusammen. Der Betrachter wird zum Zyklopen, zu einem Vertreter jenes Riesengeschlechts, der als Gehilfe dem Hephaistos in seiner Schmelze im Erdinnern zu Diensten ist und dort Donnerkeile und Blitze schmiedet. Das "zusammengewachsene Auge" mag uns auch daran erinnern, daß sich unser räumliches Sehen von der Fusion der Bilder unserer beiden Augen zu einem Bild herleitet.

Der unscharfe Blick aus nächster Distanz auf sein eigenes Auge bzw. Augenpaar kommt dem Bedürfnis nach Introspektion entgegen. Er evoziert augenscheinlich jene Vorstellung, man könnte durch die Pupille hinein in sich selbst dringen und eine Reise zu den "inneren Bildern" unternehmen, die wir Erinnerung nennen, um unser Innerstes, unseren Kern oder unsere Psyche kennenzulernen. Das Auge erscheint als Tor zur Seele, das einlädt, zu einer Fahrt, die man Selbstreflexion nennt. Noch Nikolaus Cusanus (1401–1464) glaubte, daß unsere Seele direkt mit den Augen in Verbindung steht.

Ein wichtiges Element in dem Beitrag stellt die Interaktion zwischen Rezipienten und ihrem Kunstobjekt dar. Um den Besuchern der Ausstellung das Benützen der Brille zu ermöglichen, werden eine Vielzahl dieser Brillen auf einem gewöhnlichen Ständer samt Spiegel präsentiert, wie man ihn in jedem Kaufhaus finden kann. Die Brille wurde in der Auflage von 150 Stück hergestellt und besitzt so den Charakter einer Ware. Die beiden Künstler schaffen eine Ladensituation, in der Tätigkeiten wie Aussuchen, Probieren, Anpassen und Kaufen feste Bestandteile sind. Der Ausstellungsbesucher avanciert zum Akteur. Die Brille gehört der Kunstkategorie des Multiples an, die sich dadurch auszeichnet, daß sie durch die serielle Herstellung und die Verweigerung einer eindeutig identifizierbaren Autorenschaft die Mechanismen des Kunstmarkts unterlaufen will. Beim Anblick des Brillenverkaufsstands kann man sich zudem an die billigen Reklamen aus den 60er Jahren erinnern, die für die sogenannte "Röntgenbrille" warben, und die angeblich einen Blick durch die Kleidung auf den nackten Körper der angeschauten Person ermöglichte. Auch die Brille von Huemer/Jelinek. verspricht Außergewöhnliches und erregt besondere Aufmerksamkeit. Ihre Attraktivität ist Kalkül, da in der Welt des schnellen Sehens nur jener Gegenstand registriert wird, der gleichsam ins Auge springt. Die Brille stellt aufgrund ihrer ansprechenden, vertrauten und doch veränderten Gestalt ein verführerisches Objekt für den Sehnerv dar. Das Auge ist nicht nur ein empfangendes, passives Organ, sondern ein Sinn, der Gegenstände gleichsam zu verschlingen scheint oder wie es Gert Mattenklott ausdrückt: "Hinzusehen ist eine Leidenschaft". Die Sehbegierde ist es dann, die den Kunstbesucher schließlich dazu verleitet, die Brille auf seine Nase zu setzen. Dann wird er entdecken, daß sie noch eine zweite Funktion besitzt.

Sie wurde so konstruiert, daß der Träger über die Spiegelung seiner Augen hinweg oder besser durch sie hindurch blicken kann. Einerseits spiegelt die Brille die eigenen Augen, andererseits läßt sie wie eine gewöhnliche Sonnenbrille den Blick, gefiltert durch getöntes Glas, nach Außen zu. Der Blick in die Außenwelt stellt sich aber schnell als Trugschluß heraus, wenn der Träger der Brille in den Spiegel des Brillenständers schaut und sich so auf einer zweiten, entfernteren Ebene wieder reflektiert findet. Auch der "weite" Blick erweist sich hier als Blick auf sich selbst. Diese doppelte Spiegelung des Selbst wirkt verwirrend, und vermutlich beginnt der Besucher prüfend die beiden (Selbst-)reflektionsebenen hin und her zu wechseln.

Der aufgespaltene Blick erinnert an jene trickreichen Glasscheiben, die von einer Seite als Spiegel, von der anderen als transparentes Glas erscheinen. Er erinnert an die Möglichkeit des Überwachens und Täuschens. Vielleicht ist auch die Brille von Huemer/Jelinek. nur ein zynisches Täuschungsmanöver, oder gar für jene, die eine endoskopische Einsicht erwarten, eine echte Enttäuschung. Letztlich bestätigt auch dieses Exempel nur die Behauptung, daß der Blick nach Innen eine Fiktion ist, die nur mit ausgesprochen kontemplativen Fähigkeiten an Wirklichkeit gewinnt.
Justin Hofmann