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Ars Electronica 1992
Festival-Programm 1992
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Festival 1979-2007
 

 

Space Balance


'Christian Möller Christian Möller

DER SPIELRAUM
Die Welt, die wir bewohnen, präsentiert sich im Neubau unbewegt. Lebendig wird Architektur gewöhnlich erst dann, wenn das "Material ermüdet", wie es die Fachsprache nennt. Woran liegt es, daß solche Materialermüdung die Türen knarren, Dachziegel klappern, Farben blättern und Fundamente sich setzen läßt ein sinnlicheres Wohngefühl vermitteln als die gebrauchsfähige "Steifigkeit" eines Neubaus? Geschätzt wird das müde Material wohl zunehmend deshalb, weil es auf individuelle Bewohner reagiert. Interaktion mit dem Bewohner wird in der realen Architektur erst möglich, wenn scheinbar lebloses Material sich verspannt zersetzt und hörbar wird. In der realen Welt ist der Horizont von sinnlich spürbarer Architektur durch organischen Zerfall auf der einen und totem Stein auf der anderen Seite gesteckt. Diesen Horizont mitsamt seinen Metaphern zu erweitern oder aufzubrechen, ist eine Möglichkeit von "virtueller Architektur". (1)

Wie könnte Architektur im virtuellen Raum aussehen? Wo kein Regen fällt, braucht ein Haus offenkundig nicht von geneigten Dächern überdacht zu sein. Es wäre unsinnig, die funktionalen Formen unserer Welt und ihrer Objekte im virtuellen Raum nachzubilden. Der Architekt des virtuellen Raums wird seine Phantasie eher den komplexen Regelwerken zuwenden, die Phänomene und ihre Erfahrbarkeit strukturieren. Indem er neue Regelwerke, neue Interdependenzen komponiert, schafft er einen vollkommen künstlichen Raum: einen Ort neuer Erfahrung, der in jedem Falle illusionistisch, aber nicht halluzinatorisch sein muß.

Ein interessantes Kriterium für die konsequente Gestalt einer computergenerierten Architektur ist zweifellos die unmittelbare Interaktion mit dem "Bewohner". Dieses Prinzip führt die Installation "Space-Balance" in konsequenter Pointierung vor.

"Space-Balance" vermittelt mit der Bewegung des Betrachters wankende Raumsensationen. Indem sein jeweiliger Standort auf dem beweglichen Interface die Raumneigung bestimmt, wird seine perzeptuelle Situation exklusiv bildnerisch. Er ist Teil einer Architektur, die er mit jeder Bewegung neu gestaltet: als weitgehend leeren virtuellen Raum, dessen wankendes Bild durch das reaktive Schwanken des Betrachters potenziert wird und umgekehrt, Das nicht mehr gegenständliche Werk wird dem Betrachter so zur eigenen Gegenwart und greift damit die Illusionsspektakel des Barock ebenso auf wie die technischen Sensationen der Jahrmärkte um die Jahrhundertwende. Deren Sensation ist forciert und entscheidend modifiziert: Das interaktive System "Space-Balance" überträgt diejenigen Funktionen, die gewöhnlich das Medium ausspielt, vollständig auf den Betrachter: Er gestaltet – schwankend zwar, doch exklusiv – die Bildfolge und den Bildzusammenhang seines virtuellen Raums.

Das gleiche Prinzip führt auch die "Kinotoskop"-Installation vor: eine zweischalige Wandinstallation aus einer Folge feststehender Bilder in einem U-Bahnschacht, die der mit Geschwindigkeit Vorbeireisende als filmische Darstellung wahrnimmt, während er sie allererst hervorbringt.

Als fragliches Subjekt und fragliches Objekt sind Betrachter und Werk in "Kinotoskop" und "Space-Balance" die Teile einer Interaktion, die "Space-Balance" als einander bedingend und virtuell vorführt: der Betrachter, innerer Beobachter und Teil des Korpus, prägt den virtuellen Raum und wird umgekehrt selbst zu einem schwankenden und geprägten Subjekt. In "Space-Balance", auf der Schnittstelle von stabilem Objektkorpus und labilem Innenraum, der nach seiner Bewegung digital errechnet und geformt wird, steht der Betrachter einem gebrauchsfähigen, stummen Körper von Architektur nicht mehr gegenüber, sondern bewegt sich quasi in ihrem Leib. Bis auf ihn selbst ist der fast leer. Eingerichtet ist er nicht nach menschlichem Maß mit proportionalem Zeug, sondern lediglich, um die Sensation des Wankens zu forcieren, durch würfelartige Gebilde, die unter Getöse je nach Schräglage des Raums von einem Ende zum anderen rollen.

Indem dieser rollende Raum Architektur nicht mehr als toten Körper ausstellt, sondern sich mit dem Betrachter als eine Art Leib hörbar in Bewegung setzt, stülpt er die Raumvorstellung von Außen und Innen um. Ein realer Innenraum ist definitiv nicht eigentlich erfahrbar; er wendet sich, sobald man ihn betritt, zum neuerlichen Außen. Das Innere ist nur von außen zu erfahren und wird aus der Perspektive des Betrachters stets bloß imaginiert. Mit der folglich unstillbaren (und sehr europäischen) Sehnsucht nach dem Inneren (Verdeckten, Verschämten, Orginären) räumt "Space-Balance" auf: unmittelbar zu spüren, doch kaum zu fixieren, ist eine je andere, bewußt leer gestaltete "Welt von innen", die illusionistisch, aber keineswegs halluzinatorisch ist.
Susanne Craemer
DAS PRINZIP
Der Außenraum wird durch einen langen, schachtelartigen Objektkörper gebildet. Der Innenraum erscheint dem Betrachter in seiner realen Größe virtuell per Rückwandprojektion auf unmittelbar vor und hinter ihm angebrachten Projektionsflächen. In dem schmalen Mittelbereich zwischen den Projektionsflächen entsprechen Seitenwände, Decke und Boden in Geometrie, Helligkeit und Material genau der virtuellen Abbildung auf den beiden Bildebenen. Der Betrachter steht im virtuellen Raum.

Der Boden im begehbaren Mittelbereich der Rauminstallation ist beweglich. Wie auf einem Schaukelbrett ändert sich die Neigung des Bodens je nach Standort des Betrachters. Der virtuelle Raum folgt dieser Bewegung. Die Orthogonalität des Raumes zum Boden wird somit ständig beibehalten. Ähnlich einem Aufenthalt unter Deck während einer Bootsfahrt bei hohem Seegang, wird der menschliche Gleichgewichtssinn irritiert. Im Unterschied zur Bootsfahrt steuert der Betrachter in der Rauminstallation seinen "Seegang" jedoch selbst. Ist die Illusion vollständig, muß der Betrachter auch nach Verlassen der Installation, trotz "Festem Boden unter den Füßen", noch einige Zeit um sein Gleichgewicht ringen.
Christian Möller

(1)
Peter Weibel, Virtuelle Architektur, in: Steirischer Herbst, Programmkatalog Chaos, 14. 10.–19. 11. 1989, Seite 5–8 zurück