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Ars Electronica 1992
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Charles Proteus Steinmetz und der Zauber der Elektrizität


'Franz Pichler Franz Pichler

Die Entwicklung der Elektrotechnik, wie sie sich vor knapp mehr als hundert Jahren in Europa und in Nordamerika abgespielt hat, kann als eines der spannendsten Kapitel der Technikgeschichte gesehen werden. Die Erfinderpersönlichkeiten dieser Zeit – zu nennen sind hier vor allem Edison, Tesla, Siemens, Marconi, Morse, Bell, Heaviside, Gramme – sind für uns auch heute noch wert, sich mit ihnen biographisch zu befassen. Das Idealbild eines Erfinders wäre sicherlich die Vereinigung eines strengen Wissenschaftlers, der in rationaler Weise seine Entwicklungen durchführt mit dem eines Künstlers, der zugleich seine Erfindungen auf die menschliche Dimension bringt und damit relativiert, in einer Person. Leonardo da Vinci und Albrecht Dürer mögen hier als "Musterbeispiele" für ein solches Idealbild genannt werden.

In diesem Aufsatz soll an einen Wissenschaftler, der in Europa nur in engeren elektrotechnischen Fachkreisen stärker bekannt ist und in gewisser Hinsicht auch diesem Idealbild nahekommt, erinnert werden, nämlich an Karl (Rudolf August) Steinmetz oder mit der späteren amerikanischen Version seines Namens, Charles Proteus Steinmetz.

Steinmetz kann neben Tesla als einer der interessantesten Persönlichkeiten mit künstlerischer Prägung unter den amerikanischen Ingenieuren gesehen werden. Wie Tesla, hat Steinmetz seine wissenschaftliche Ausbildung im alten Europa erhalten. Der amerikanische Kontinent verhalf auch ihm, sein Talent in voller Breite zur praktischen Anwendung zu bringen, ohne daß er seine von Europa geprägten persönlichen Eigenschaften stark anzupassen hatte. Im Gegenteil, Amerika erlaubte ihm, seine Individualität voll auszuspielen.

WECHSELSTROM GEGEN GLEICHSTROM
Wie die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts von der Informationstechnik mit dem Computer als "Realisierungsmaschine" geprägt wird, so war die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts von der Elektrotechnik und den elektrischen Maschinen (diese im weitesten Sinne aufgefaßt) geprägt. Ein wichtiger Fortschritt war hier die Entdeckung des "elektrodynamischen Prinzips" durch Werner Siemens (1866) – zugleich mit dem Engländer Wheatstone – und seine praktische Umsetzung zum Bau von Dynamos, elektrischen Maschinen, die ohne starke Dauermagnete elektrischen Strom erzeugen konnten. Solche Dynamos dienten als Batterieersatz zuerst hauptsächlich zur Galvanisierung und als Stromquelle für Kohle-Lichtbogenlampen. Sie waren Gleichstrommaschinen.

Mit der Erfindung des Wechselstromgenerators durch Tesla (1888) und des Transformators (Zipernowsky 1885, Stanley 1886) war die Möglichkeit einer einfachen Erzeugung und effektiven Übertragung über weite Strecken für den elektrischen Strom geschaffen. Die Inbetriebnahme einer Hochspannungsleitung in Deutschland von Lauffen nach Frankfurt (1891) durch Oscar von Miller und der Bau des Niagara-Kraftwerkes (1895) durch die Firma Westinghouse mit Tesla als Projektingenieur für die Wechselstrommaschinen, stellen Meilensteine in der praktischen Anwendung von Wechselstrom dar. Die Durchsetzung der Wechselstromtechnik gegenüber der Gleichstromtechnik ging aber nicht problemlos vor sich. In Nordamerika war ein langer Kampf zwischen den konkurrierenden Firmen, der Firma Westinghouse und der Edison General Electric Company, vorhergegangen. Es wird berichtet, daß die Edison Company sogar die Hinrichtung durch den elektrischen Stuhl (NewYork 1889) vor allem deshalb unterstützte, damit sie die Gefährlichkeit des Wechselstroms demonstrieren konnte.

Die elektrische Ausstellung in Frankfurt (1891) und die elektrische Ausstellung im Rahmen der Weltausstellung in Chicago (1893) brachten jedoch eine klare Entscheidung zugunsten des Wechselstroms. Dieser Erfolg der Anhänger der Wechselstromtechnik war in Nordamerika vor allem der praktischen Pionierarbeit von Nikola Tesla und der mathematischen Meisterleistung von Charles Proteus Steinmetz zuzuschreiben. Der in Chicago von Steinmetz gehaltene Hauptvortrag "Application of complex numbers in Electrical Engineering" und seine gleichzeitig in deutsch erschienene umfangreiche Arbeit in der "Elektrotechnischen Zeitschrift" [Stein 93] zeigte, daß für die Wechselstromtechnik auch das ohmsche Gesetz und die Kirchhoff-Regeln – beide allerdings in verallgemeinerter Form – ihre Gültigkeit haben. Mit der von Steinmetz entwickelten "symbolischen Methode" (in Deutschland auch unter dem Namen "komplexe Wechselstromrechnung" bekannt) konnten die für Wechselstrom in den Modellen gültigen differentialanalytischen Beziehungen auf einfache algebraische Formeln gebracht werden. Damit war die Berechnung von Wechselstromerscheinungen genau so einfach wie für Gleichstrom möglich geworden.
STEINMETZ ALS WISSENSCHAFTLER
Was waren die epochemachenden Beiträge von Charles P. Steinmetz? Wie kam es dazu?

Charles Proteus Steinmetz wurde am 9. April 1865 in Breslau als Karl Rudolf Steinmetz geboren. Von Kindheit an körperlich ein Krüppel, besuchte er mit großem Erfolg das Gymnasium in Breslau und anschließend die Universität in Breslau, um Mathematik und Astronomie zu studieren. Sein Interesse galt aber auch dem Studium der Physik und Philosophie sowie der gerade entstehenden Elektrotechnik. Seine rein mathematische Doktorarbeit aus dem Jahre 1887 "Über unwillkürliche selbstreziproke Korrespondenzen im Raum, die bestimmt werden durch ein dreidimensionales Linearsystem von Flächen der nten Ordnung" hatte bereits die Zustimmung seiner Professoren erhalten und der Doktorhut war zum Greifen nahe. Da griff das Schicksal ein: Steinmetz war Mitglied einer zu dieser Zeit verbotenen sozialistischen Studentenverbindung und Redakteur der "Volksstimme". Er erfuhr durch einen wohlgesinnten Freund, daß seine Verhaftung vorbereitet wurde. Um dieser zu entgehen, flüchtete er über Wien nach Zürich. Sein Ziel war, dort als Emigrant sein Studium an der Eidgenössischen Technischen Hochschule zu beenden. Es kam aber anders: Ein Freund, der Däne Oskar Asmussen, überredete ihn, mit ihm nach den Vereinigten Staaten von Amerika auszuwandern. Ohne besondere Kenntnis der englischen Sprache, ohne wesentliche Geldmittel, aber mit einem Empfehlungsschreiben von F. Uppenborn, des Herausgebers der international angesehenen "Elektrotechnischen Zeitschrift" schiffte er sich auf dem Dampfer "La Champagne" in Le Havre mit dem Ziel New York ein. Das Empfehlungsschreiben verhalf ihm sofort zu einer Anstellung bei der Firma Eichemeyer und Osterheld in Yonkers, nahe der Stadt New York, die elektrische Maschinen erzeugte. Er begann dort als technischer Zeichner, die Firmenleitung fand jedoch bald heraus, welches Talent in ihm steckte und er wurde mehr und mehr bei der Lösung von schwierigen Fragen herangezogen. Ein Problem bei elektrischen Maschinen war in dieser Zeit die Erwärmung der Eisenkerne der Elektromagnete. Steinmetz nahm sich aus streng wissenschaftlicher Sicht dieses Problems an und entwickelte die bis heute fundamentale Theorie der magnetischen Hysteresis. Am 19. Jänner 1892 konnte er in einem Vortrag beim Treffen der Vereinigung amerikanischer Elektroingenieure (AIEE) in New York und einige Monate später dort in größerem Detail vor einer großen Anzahl von Zuhörern über seine wichtigen Ergebnisse berichten. Eine umfangreiche Arbeit in der Elektrotechnischen Zeitschrift dokumentiert diese Leistung bis in die heutige Zeit [Stein 92].

Die im Jahre 1892 gegründete General Electric Company, die sich hauptsächlich aus den verschiedenen Firmen der Edison Gruppe rekrutierte, kaufte auch die Firma Eichemeyer und Osterheld auf – und damit auch gewissermaßen Charles Proteus Steinmetz. Steinmetz fand bei General Electric in Schenectady, eine am Hudson River im Norden des Staates New York gelegene Kleinstadt, seinen idealen Platz. General Electric gab Steinmetz die größte Unabhängigkeit in der Forschung und stattete ihn großzügig mit Mitteln aus. In dem an der Wendell Avenue unmittelbar neben seinem Wohnhaus gelegenen Laboratorium konnte er die verschiedensten Forschungsarbeiten betreiben. Ein besonderer wissenschaftlicher Erfolg war die künstliche Erzeugung von elektrischen Blitzschlägen, mit denen Blitzableiter und die Wirkung von Blitzschlägen auf verschiedene Materialien experimentell untersucht wurden. Im Jahre 1902 wurde er vom Union College als Professor für Electrical Engineering verpflichtet, 1903 wurde ihm das Doktorat (PhD) nachträglich verliehen. Bis 1913 nahm er die Position des Vorstandes des Department for Electrical Engineering mit großem Engagement dort wahr. Seine in dieser Zeit verfassten Lehrbücher bildeten für Generationen von Elektrotechnikern einen wichtigen Bestandteil ihrer Ausbildung [Stein 97], [Stein 09], [Stein 14], [Stein 16], [Stein 17a], [Stein 17b].
Daneben entstanden zahlreiche wissenschaftliche Aufsätze, alle wichtig für die Entwicklung von wissenschaftlich gestützten Methoden für die Elektrotechnik.
STEINMETZ PRIVAT
Eine Aufzählung der wissenschaftlichen Leistungen von Charles Proteus Steinmetz allein gibt nicht das volle Bild seiner einmaligen Persönlichkeit. Lassen wir Anton Zischka [Zisch 58] kurz zu Wort kommen. Er schreibt über Steinmetz:
"Er war ein intimer Freund von Marconi und Edison geworden. Ihm klopfte er Morsezeichen aufs Knie, um sich besser verständigen zu können. Die amerikanische Presse nannte Steinmetz nur den "modernen Jupiter". Denn wenn er ein ganz großer Gelehrter war, so blieb er auch zeitlebens ein großes Kind: Er ließ sich ein Palmenhaus bauen, und weil er selber ein Krüppel war, sammelte er da die häßlichsten Kriechtiere, Fische und Vögel, die er finden konnte. Er ließ über den Spiegeln seines Hauses Quecksilberdampflampen anbringen, damit die Besucher sich als grüne Wasserleichen mit violetten Lippen sehen sollten. Er lud seine Türklinken elektrisch auf und veranstaltete "Blitztage" ' zerstörte in seinem Hochspannungslabor Häuser aus Pappe. An manchen Tagen ruderte er in seinem Kajak umher, lief zu den Kriminalfilmen und las unzählige Detektivgeschichten. Die Nächte über brütete er über neuen Formeln und stellte er Berechnungen an, die der General Electric Millionen einbrachten."

Wenn auch Zischka vielleicht mit etwas dichterischer Freiheit berichtet, so trifft er die Wahrheit doch ziemlich.

Steinmetz lebte tatsächlich das Leben eines ewig jung Gebliebenen. Er liebte sein Stelzenhaus am Viele's Creek, einem kleinen Nebenfluß des großen Mohawk River, und er liebte es, in seinem Kanu an der Lösung von mathematisch-technischen Problemen zu arbeiten. Auf äußere formelle Formen legte er wenig Wert, seine Kleidung war stets einfach und zweckmäßig. Es machte ihm nichts aus, selbst die höchsten Besucher in seinem "Camp Mohawk" in seiner roten Badehose und Ruderleibchen zu begrüßen. Um eine Familie zu haben, adoptierte er eine solche: das Ehepaar Hayden, welches ihm schließlich drei Enkelkinder schenkte. Er blieb zeitlebens der Idee des Sozialismus treu und engagierte sich in ideeller Weise an der Stadtpolitik von Schenectady.

Sein Tod am 16. Oktober 1923 an einem Herzversagen kam ganz unerwartet. Die ganze amerikanische Presse berichtete darüber. Von Herbert Hoover, später Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, ist aus diesem Anlaß folgender Wortlaut überliefert:

"His mathematical reasoning broke the path for many of the advances in electrical engineering in recent years and solved problems that were vital to the progress of the industry. In his writings he has left engineers a heritage of mathematics that will endure, and as a man he has set us all an example of physical courage and of devotion to our life work."

Charles Proteus Steinmetz war einer der großen Ingenieure die mithalfen, elektrische Maschinen und elektrische Phänomene mit wissenschaftlichen Methoden zu entwerfen und analysieren zu können. Wie Nicolas Tesla hatte er eine solide wissenschaftliche Ausbildung an europäischen Hochschulen erhalten. Im Gegensatz zu Tesla mußte er sich aber nicht ständig als Erfinder verdingen und um Sponsoren bemüht sein. Die General Electric Company ermöglichte ihm in großzügiger Weise die Durchführung seiner wissenschaftlichen Pläne. Mit seiner Lehrtätigkeit am Union College und den daraus resultierenden Büchern gab er sein Wissen großzügig an die Jugend weiter. Neben dieser professionellen Charakterisierung – die wir mit seinem ersten Vornamen "Charles" ("Karl der Große") assoziieren wollen – gibt es aber noch die private persönliche Seite von Charles Proteus Steinmetz. Sie paßt mehr zu seinem zweiten, aus der Gymnasialzeit erhaltenen Spitznamen "Proteus", dem vielgestaltigen, die Zukunft weissagenden Meergreis aus der griechischen Mythologie. Hier lernen wir Steinmetz als ewig jung Gebliebenen kennen, immer aufgelegt zu Streichen, Abenteuer- und Schundromane lesend, stark sozial denkend und trotz seiner Krüppelhaftigkeit ein volles Leben sich gestaltend.

Literature

[Stein 92]
Charles Proteus Steinmetz: Das Gesetz der magnetischen Hysteresis und verwandte Phänomene des magnetischen Kreislaufes, Elektrotechnische Zeitschrift, XIII. Jahrgang, pp. 519, 531, 545, 563, 575, 587, 599, Berlin 1892
[Stein 93]
Charles Proteus Steinmetz: Die Anwendung komplexer Größen in der Elektrotechnik, Elektrotechnische Zeitschrift, XIV. Jahrgang, pp. 597599, 631–635,641–643, 653–654, Berlin 1893
[Stein 97]
Charles Proteus Steinmetz: Alternating Current Phenomena, McGraw-Hill Book Company, New York 1897
[Stein 09]
Charles Proteus Steinmetz: Radiation Light and Illumination, McGraw-Hill Book Company, New York 1909
[Stein 14]
Charles Proteus Steinmetz: Electric Discharges, Waves and Impulses, McGraw-Hill Book Company, New York 1914
[Stein 16]
Charles Proteus Steinmetz: Theory and Calculations of Alternating Current Phenomena, McGraw-Hill Book Company, New York 1916
[Stein 17a]
Charles Proteus Steinmetz: Theory and Calculations of Electric Circuits, McGraw-Hill Book Company, New York 1917
[Stein 17b]
Charles Proteus Steinmetz: Engineering Mathematics, McGraw-Hill Book Company, New York 1917
[Zisch 58]
Anton Zischka: Pioniere der Elektrizität, C. Bertelsmann Verlag, Gütersloh 1958

Biblilographycal Books

J.A. Miller: Modern Jupiter – The Story of Charles Proteus Steinmetz, The American Society of Mechanical Engineers, New York 1958.
J.N. Leonhard: Das Leben des Karl Proteus Steinmetz, Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart, Berlin 1930 (translated from English).
J.W. Hammond: A Magician of Science, The Boy's Life of Steinmetz, The Century Co., New York 1926.
A Century of Progress: The General Electric Story, Hall of History Foundation, Schenectady, New York 1982.