www.aec.at  
Ars Electronica 1992
Festival-Programm 1992
Back to:
Festival 1979-2007
 

 

IMmediaCY


'PoMo CoMo PoMo CoMo

"IMmediaCY, ein technologisches Theater", ist eine integrierte Medienperformance, in der die Bühne ein riesiger Computer und das Publikum sein Benutzer ist. Es handelt sich um eine Mischung aus speziell angefertigter Technologie, Drama, Tanz und Musik, die eine kollektive virtuelle Realität ergeben. Die ganze Erzählung hindurch werden die Computer gleichzeitig idealisiert und unterminiert, sie nehmen Persönlichkeit an, sie brechen zusammen.

NARRATIVE ASPEKTE
IMmediaCY besteht aus drei augenscheinlich voneinander unabhängigen Geschichten:

1. Die Benutzeroberfläche/Operator Surface (OS) ist der Gastgeber der Show, der mit dem Publikum "einen Rundgang" durch den imaginären Computer unternimmt. Seine Aufgabe als "Willkommensprogramm" besteht in der Befriedigung der Publikumserwartungen. Er ist eine zweideutige Person, die vorgibt ein Piano, ein Beichtstuhl, eine scharfe Bombe zu sein. Er weiß einiges über das Publikum und provoziert es. Als Anwalt der IMmediaCY-Welt möchte er dem Publikum behilflich sein, damit es alles in Armreichweite, an den Fingerspitzen, auf der Zungenspitze hat. Seine Zelebrierung der Technologie wird am Ende durch das Paradoxon des Vermittlers beeinträchtigt: er, der die Dinge zusammenbringt, verhindert auch ihre Vereinigung.

2. Die kritische Beziehung zwischen zwei realen historischen Charakteren:
Giulio Camilio Delminio war ein berühmter Venezianer des 16. Jhdts., der das "Speichertheater" erfand. Seine vitruvianische Struktur wurde für die Speicherung und den sofortigen Abruf von Ikonen und Texten in hermetischer und kabbalistischer Tradition adaptiert. Das Speichertheater als Computer- und Cyberspace-Vorläufer macht Camillo zu einem frühen Verfechter des "externalisierten Bewußtseins". In IMmediaCY enthüllt Camillo das Geheimnis seines Speichertheaters und demonstriert das Verfahren am Beispiel lokaler Ikonen und Grenzzeichen.

Mnemonist S_ war eine Russin aus dem frühen 20. Jhdt., deren perfektes Gedächtnis einige Jahrzehnte später von A.R.Luria untersucht wurde. Die berühmte Fallstudie führte zur Revidierung einiger Annahmen über das menschliche Erinnerungsvermögen. In IMmediaCY ist Mnemonist S eine Zirkustänzerin, die sich, indem sie verschiedene Körperstellungen einnimmt, "erinnert". Ihr außergewöhnliches Gedächtnis ist zugleich ihr Fluch. Ein Zusammentreffen mit Camillo würde ihrem Schicksal eine weitere Wendung hinzufügen.

3. Der Zulu-Mythos vom Chamäleon und der Eidechse, der die Sterblichkeit erklärt. Der Tod als die endgültige Form des Vergessens, das zwangsweise Verschwinden von allem, das sich rasch verändert, das kalte Blut der Unsterblichkeit, das sind einige der Themen, die dieser Mythos beschwört.
FORMALE ASPEKTE
IMmediaCY ist ein Musiktheaterstück. Der Soundtrack offenbart einen eklektischen Ansatz zur Echtzeitverarbeitung, extensives Sampling und eine breite Palette an Digital- und Analoginstrumenten. Das Repertoire schwankt zwischen experimenteller Improvisationsmusik und populären Stilrichtungen, wodurch die meisten musikalischen Geschmäcker befriedigt und frustriert zugleich werden. Zum Formalen bemerkt Steve Gibson: " IMmediaCY ist eine zweideutige Struktur, die widersprüchliche Dekonstruktions- und Rekonstruktionsprozesse zur gleichen Zeit aufweist, und sei es nur mittels einer vollkommenen Umkehrung dessen, was im Vordergrund ist." Was geschieht, wenn Hip Hop neben Monteverdi angesiedelt ist?

Das Bühnenbild besteht aus rückwärtig projizierter 2 & 3D Computeranimation, Video und Kameras auf Akteure und Publikum. Live Visualisierung, Transformation und Verzerrung tragen zur visuellen (Un)Ordnung bei.

Ein innovativer Aspekt an IMmediaCY ist eine von uns als "Ansteckmodul" bezeichnete Bühnenvorrichtung. Es handelt sich dabei um leere Segmente innerhalb von Erzählstrang und Showdesign, die mittels variabler Ressourcen "ausgefüllt" werden. Beispiele für solche Steckanschlüsse sind:
  • Ferngesteuerte Videoverbindungen zu Schauspielern während ihres Rundgangs durch die Gastgeberstadt.

  • "Werbefilme", die Portraitansichten maßgeblicher Künstler und Wissenschaftler zeigen.

  • Verarbeitete Bilder des Publikums, die als Bestandteil der Erzählung verwendet werden.

  • "Unsaubere" Statistiken aus der Gastgeberstadt.
Die Steckanschlüsse sind in der Regel polemisch und ortsspezifisch, da in jeder Stadt anders. Thematisch beinhalten sie: "Deine Stadt ist ein Computer, du bist ein Computer" und "Du bist eine Stadt (ein städtisches Netzwerk)".
TECHNISCHE ASPEKTE
Um eine kybernetische Erscheinung und Mechanik zu gewährleisten, verwendet IMmediaCY vier Computer. Musik, Bewegung und visuelle Elemente sind computerassoziiert, wobei über eine bloße Simulation hinausgegangen werden soll. Diese Systeme befinden sich in einem anhaltenden Kommunikationsprozeß, der dem einzelnen Element eine übergreifende Wirkung ermöglicht, ähnlich wie Organe oder Teile sich zu einem Körper oder einer Maschine verbinden.

Die Gesten der Ausführenden werden in IMmediaCY durch ein Ultraschall-Interface registriert, welches die 3D Position und die Geschwindigkeit in Computersignale übersetzt, von denen sodann die Sampler und Computeranimation gesteuert werden. Das Gesten- und Mediensystem (Gesture and Media System – GAMS) ist eine preiswürdige Erfindung des PoMo CoMo-Technikers Will Bauer. Das Gerät besteht aus einem speziell angefertigten Schwingungsgenerator zur Unterwasserortung und einem Vorprozessor, einem adaptierten Motorola Mikroprozessor, Verstärkern und Lautsprechern, Radiosendern und -empfängern und der Software für IBM oder Macintosh-Festplatten. Alle Charakteristika in der Bewegung eines Akteurs (3D Position, Geschwindigkeit und Beschleunigung) können zu Parametern in der Aktivierung und Steuerung externer Medien werden. GAMS sendet im Falle von Musik und Diapositiven MIDI-Signale und AppleEvents bei einer Echtzeit-Animationssteuerung.

In IMmediaCY besorgt GAMS die technologische Auferstehung des Speichertheaters. Als "subjektive" Abrufmaschinen liegen beide Systeme zwischen Magie und Gedächtnisschulung, zwischen Manifestation und Sinnbild. Aufgrund der Achtsamkeit gegenüber dem Unscheinbaren aber Wertvollen wird Giulio Camillo von Will Bauer verkörpert. Zusätzlich zu GAMS verwendet das Stück einen MacIntosh-Computer für Animation und Bildschnitt, einen Atari mit Sequenz-Software und einen MacIntosh mit MAX-Software zur Musikverarbeitung.
ANLIEGEN
IMmediaCY ist ein Blick auf das Leben nach den Computern. Im Stück gelangt zwar ein Übermaß an Technologie zum Einsatz, die Ästhetik dagegen ist nicht besonders futuristisch, da wir uns mit den gegenwärtigen Fragen des Computerzeitalters beschäftigen. Uns interessiert nicht die Technologie um der Technologie willen (vor allem weil wir sie uns nicht leisten können!): Die Mechanik rechtfertigt das Risiko nicht. Vielmehr möchten wir partizipieren und die vorherrschenden kritischen Theorien zur Virtual Reality, zum Poststrukturalismus und zur Informationstheorie problematisieren (ein hoher Anspruch!)

Eine der Kernthesen von IMmediaCY ist, daß wir die sozialen Folgen des Informationszeitalters nicht diskutieren sollten, ohne über den Tod zu diskutieren. Der Tod ist in seiner individuellen oder kollektiven Form ein unvermeidbarer Prozeß des Vergessens, wofür es im Bereich der Computer und der KI nichts Vergleichbares gibt. Das digitale Verfahren der perfekten Reproduktion macht die Computer in der Tat unsterblich. So müssen wir Mythos und Fiktion erforschen, um "angemessenere" Interpretationsmodelle zu finden. Zum Beispiel formuliert J. L. Borges in seiner Kurzgeschichte Der Unsterbliche die These, der zufolge Unsterblichkeit zur Inaktivität führen würde, zu einem ausdruckslosen Zustand der Stasis. Durch dieses Prisma erscheint die populäre Science Fiction mit ihrer Idee, die Computer würden in ihrer Informationssammelpflicht alles "übernehmen" (wie im ersten Star Trek Film), unsinnig. Wir wissen einfach nicht, was Computer oder Unsterbliche tun würden, da ihnen die menschliche Teleologie des Abstumpfens fehlt. Jedenfalls können wir, einer möglichen Fiktion folgend sagen, daß sie gerne die Arbeit einstellen und ruhig sein würden.

Ein zweites Anliegen in IMmediaCY verdankt sich Keats Begriff des "negativen Vermögens", welches wir als die Fähigkeit, nicht heroisch zu sein, als die Möglichkeit, Schwäche und Verwundbarkeit zu respektieren, ansehen. In der Performance endet die Zelebrierung der Technologie an dem Punkt der (kanadischen?) Erkenntnis, daß wir die Technologie sind, und daß IMmediaCY nur ein weiterer narzißtischer Karneval ist. Die Zelebrierung endet mit der Aufklärung über Ursprung und Erhaltung von 80 % der Informationstechnologie für militärische Zwecke sowie über negative soziale Folgen, etwa Überwachung, Distanzierung durch Vermittlung und Standardisierung der Sprache. IMmediaCY entzieht sich jeder eindeutigen "Moral", es wirft lediglich Fragen auf und anerkennt die eigene Komplizenschaft mit diesen Fragen.

Eine letzte in IMmediaCY enthaltene Herausforderung liegt in der Erforschung der postindustriellen, posturbanen Ästhetik. Alternativen zu den gescheiterten sozialen Strukturen der Urbanität, mit ihrer Betonung auf Konkurrenz, Marginalisierung und Isolation, zu suchen, ist erstrebenswert. Es ist natürlich nicht möglich, die Urbanität auszurotten, da sie unser vorherrschender Bewußtseinszustand ist, aber man kann versuchen, sie zu ignorieren. Die Ästhetik von IMmediaCY ist eine Reaffirmation des "Oberflächlichen". Unsere Performance ist eine Oberfläche ohne Tiefe, keine Möglichkeit der Nostalgie, kein Zentrum. Die von uns ermutigten Charakterzüge sind Schwäche, Inkonsistenz und Eingeständnis von Fehlern. Unserer Ansicht nach sollte das Gedächtnis ein Nomade, nicht ein Museum sein.

Erfahrungsgemäß genießen die Leute das Spektakel einer Technologie, die zerstört wird ebenso, wie von ihrer Macht überwältigt zu werden. In IMmediaCY stirbt jeder und die Technologie versagt, weniger um das Publikum zu erfreuen, sondern um den Relativismus in Frage zu stellen, ohne im Materialismus oder Humanismus das Heil zu suchen.
DIE GRUPPE
PoMO CoMo ist ein kreatives Kollektiv von Künstlern und Wissenschaftlern, deren Fächer von der Technik bis Tanz, von der Musik zur Chemie reichen. Ursprünglich als FM Radioprogramm (welches immer noch sendet) gegründet, ist PoMo CoMo eine ständige Herausforderung der durch die berufliche Spezialisierung auferlegten Grenzen.

1988 dehnte die Gruppe ihre Aktivitäten auf den Bereich der Live Performance und der Produktion von Audiokassetten aus. Seit September 1991 wurden in fünf nordamerikanischen Städten Versionen des technologischen Theaters IMmediaCY vorgestellt. Frühere Produktionen wurden mit verschiedenen Teilnehmern in vier Städten präsentiert.

Einige Slogans der Gruppe lauten: "Werde simultan!" (Gibson), "Werde niemand!" (Kitzmann), "Geld ist nicht kooperativ" (Sawchuk), "Ändere dein Bewußtsein, sei dir deiner Veränderung bewußt" (Lozano-Hemmer) und "Es ist ein wunderbares Gefühl! – es wird nicht lange dauern" (Boyce).
IMmediaCY
Drehbuch: Andreas Kitzmann und Rafael Lozano-Hemmer
Musik: Steve Gibson und Marc Beil
Choreographie: Kelly Hargraves
Computertechnik: Will Bauer und Bruce Foss
Sprachadaptionen: Marc Boucher
Bühnenbild: Rafael Lozano-Hemmer und Geoffrey Bendz
Darsteller: Marc Boucher, Kelly Hargraves, Will Bauer, Rafael Lozano-Hemmer und Geoffrey Bendz
Steckanschlüsse: Robert Lepage, Marcel Achard, Nei Tenhaaf, Kim Sawchuk, Agustin Luviano-Cordero, Elizabeth Littlejohn und Chris Migone

Regie und Produktion: Rafael Lozano-Hemmer
Das Projekt wurde ermöglicht durch die freundliche Unterstützung von Canada Council, Ministère des Affaires Culturelles du Québec, Wayward Systems, Banff Centre for the Arts.