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Ars Electronica 1992
Festival-Programm 1992
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Festival 1979-2007
 

 

VIOLECTRA


'Johannes Fritsch Johannes Fritsch

Es gibt zwei grundlegende Erfahrungen bzw. Vorstellungen von Zeit, die für die Kulturgeschichte der Menschen, damit auch für die Musikgeschichte, von besonderer Bedeutung sind. Die eine ist unsere abendländische, gerichtete, eschatologische, jüdisch-christliche (ich setze nur Schlagworte), somit auch marxistische Zeitvorstellung. Der Glaube, daß alles sich weiterentwickelt, historisches Bewußtsein, Utopien, Aufklärung, Materialismus, Angst vor dem Tod, Fortschritt. Die andere ist eine eher morgenländische, zyklische Zeitvorstellung, sie ist mehr mythisch und archetypisch, die Erfahrung der "ewigen Wiederkehr", Wiederholungsrituale, das "große Jahr" im Leben Brahmas.

Die zeitgenössische Physik spiegelt beide Möglichkeiten: Es gibt eine Weltentstehungstheorie, die von einem Urknall ausgehend die Materie des Universums immer weiter auseinanderfließen läßt, und eine andere, nach der sich das Weltall in sehr langsamen Rhythmen ausdehnt und zusammenzieht. Musik, in der nicht etwas anfängt, sich entwickelt und dann endet, ist für den abendländischen Hörer, besonders, wenn er der Musik und der Ästhetik des 19. Jahrhunderts folgt, schwer zu begreifen. Schon die Geschichte der Cage-Rezeption ist da ein gutes Beispiel.

In den 60er Jahren wird für europäische und besonders für amerikanische Musiker die Auseinandersetzung mit ungerichteter Zeit wichtig.

Ein Jahr vor "Violectra", 1970, spielte der Kölner Feedback Kollege Michael von Biel "Deutsche Landschaften", seine erste Cellomusik. Von Biel ist auf dem Cello Autodidakt, sein Spiel entstand aus den regelmäßigen Bewegungen der streichenden und greifenden Hände, im Tempo des Herzschlags. Beim Hörer kann das Gefühl entstehen, er sei da bei der Geburt der Musik dabei.

"Violectra" nun hat – um nicht mißverstanden zu werden – nicht ausschließlich diese erwähnte zyklische Zeitvorstellung, sondern hat sie zum Thema gemacht in dem Versuch, unsere gerichteten dramatischen Formen, mit denen wir sozusagen aufgewachsen sind, damit zu vermitteln.

In der Geschichte der Musikinstrumente hat sich mit zunehmender Differenzierung und Spezialisierung auch der Abstand zwischen Mensch und Instrument, der Grad der Entfremdung, vergrößert: beim Sänger der Vorzeit sozusagen noch Einheit von Subjekt und Objekt. Dann die "natürlichen" Instrumente, die man bläst, klopft, zupft und streicht. Einfache Hilfsmittel (Mundstück, Schlegel, Plektron, Bogen) wirken fast wie verlängerte Körperteile. Die Distanz des musizierenden Bewußtseins zum erzeugten Klang ist noch so gering, daß auf verschiedensten Entwicklungsstufen – in Volksmusik aus Anatolien wie im Cellospiel Casals' durch die Musik Bereiche des menschlichen Wesens geöffnet werden, die sonst verschlossen blieben, weil der Klang, ungeachtet des musiksprachlichen Systems, in dem wir uns befinden, weil der Klang geprägt wird von Gedanken und Empfindungen des Menschen, der ihn produziert.

Auch beim Tasteninstrument noch, dessen komplizierte Mechanik und temperierte Stimmung starr wie objektivierende Filter zwischen Musik und Spieler oder Hörer gestellt sind, sogar bei der Orgel ist diese instrumentale Entfremdung überwindbar und oft überwunden worden.

Dann folgen die elektrisch verstärkten Instrumente und schließlich als bisherige Krönung einer entmusikalisierten Technik die elektronischen Klangerzeuger. Nach einem verbreiteten Gemeinplatz läßt sich das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen. Die banale Vorstellung, es sei ein Fortschritt vom Klavier zur Hammondorgel oder von der Orgel mit eingebauter Rhythmusmaschine zur Orgel mit eingebautem Synthesizer, verkennt, daß auf dem Gebiet der Musikinstrumente derart einfache Regeln des Übergangs von Quantität in Qualität zum Glück noch nicht Geltung erlangt haben. Steinway Flügel oder Sitar oder Shakuhachi-Flöte sind wohl kaum verbesserungsfähig. Stradivari-Geigen sind die besten!

Die schnellen Veränderungen und Erweiterungen der elektronischen Instrumente können nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Instrumente selbst, besonders der Synthesizer, sich in der mit ihnen produzierten Musik in unangenehmer und unangemessener Weise in den Vordergrund drängen. Entsprechend gibt es in der Live-elektronischen Musik immer wieder Kombinationen traditioneller Instrumente mit dem Synthesizer, die diesen "the medium is the message"-Aspekt zu überwinden suchen. So auch "Violectra".