Die seismische Form
'Jean Baudrillard
Jean Baudrillard
Der seismischen Form gehört die Zukunft. Sie stellt die kongeniale Katastrophenform im Zeitalter der Simulation dar (ich weiß nicht warum) – eine grund- und bodenlose Form der Spalte, des Bruchs und des Sprungs, die Form zerspringender und brüchiger Gegenstände; die Form, bei der gewaltige Schollen und ganze Flächen übereinandergleiten und starke Oberflächenbeben verursachen. Uns frappiert nicht mehr die vernichtende Lava: dieser Feuerschlund, der die Erde besäte und noch eine Strafe und Läuterung mit sich brachte. Es handelt sich hier nicht um die Sintflut, sondern vielmehr um eine Urkatastrophe als Beginn der Welt; also genau um die großen legendären und mythischen Formen, die uns dauernd beschäftigen. Die Explosion, die als Form(prinzip) in der Besessenheit nach der Nuklearkatastrophe kulminierte, erscheint uns gegenwärtiger zu sein (umgekehrt hat sie aber auch den Mythos vom großen Urknall (Big Bang) als dem Ursprung des Universums genährt). Das Erdbeben, die seismische Form, hat, so könnte man sagen, einen modernen und aktuelleren Charakter, was wieder einmal bestätigt, daß die Katastrophen sich ihrer jeweiligen Kulturform anpassen. So unterscheiden sich auch die Städte durch eine sie bedingende Form der Katastrophe, die jeweils ihren lebhaften Reiz ausmacht. New York, das ist King-Kong, black-out und die vertikale Bombardierung. Tower-Inferno. Los Angeles repräsentiert einen horizontalen Bruch und das Abgleiten Kaliforniens in den Pazifik. Earth Quake. Heute haben wir es mit einer unserer Erinnerung näher liegenden Form zu tun: sie gehört zum System der Spaltungen und unmittelbaren Ausbreitung; zu vergleichen mit einem Wellensystem, einer Ordnung des Spasmischen und der direkten (polaren) Vertauschung. Der Himmel fällt einem nicht mehr auf den Kopf, doch rutscht einem jetzt der Boden unter den Füßen weg. Wir befinden uns in einem spaltbaren Universum, im Packeis, im horizontalen Abdriften. Das uns (be-)drohende Erdbeben bewirkt, auch in einem geistigen Sinn, einen Einbruch der Zwischenräume; das Aufsprengen von fast untrennbar verbundenen Dingen, das Aufbrechen der sich im Vakuum zusammenziehenden Gegenstände. Denn im Grunde (!) genommen hat es eh nie einen Grund oder eine Tiefe gegeben, sondern lediglich eine rissige Oberfläche, die sich bekanntlich in Fusion befindet. Die Erdbeben sagen es, sie sind das Requiem des Unterbaus. Und wir werden nicht mehr gespannt auf die Sterne oder den Himmel lauern müssen, sondern auf die unterirdischen Gottheiten, die uns mit dem Sturz in den Abgrund drohen.
Die Energie der Erdbeben auffangen: der helle Wahnsinn; genauso ein Wahnsinn wäre es, wenn man etwa Energie aus Autounfällen, überfahrenen Hunden, aus all dem, was fällt und zusammenbricht, gewinnen würde. Eine neue Perspektive, vielleicht sogar eine neue Hypothese: wenn alle Dinge eher dazu tendieren, zu verschwinden und zusammenzubrechen, könnten Unfall und Katastrophe zur zukünftigen Hauptenergiequelle werden. Eines ist gewiß: wenn es uns nicht einmal gelingt, die seismische Energie aufzufangen, kann auch die symbolische Welle niemals beruhigt werden: die symbolische Energie (wenn man so sagen kann), d.h. die Faszinationskraft und Ironie, die ein solches Ereignis freisetzt, steht in keinem Verhältnis zu dem von ihm ausgelösten destruktiven materiellen Energiepotential.
Genau diese symbolische Kraft, diese Durchbruchsenergie der Katastrophe will man in einem wahnsinnigen Vorhaben bändigen; und in einem direkteren Plan will man Erdbeben voraussehen, um ihnen mit Evakuierungsaktionen zuvorkommen zu können. Das witzigste daran ist, daß die in diesem Bereich sehr bewanderten Experten (!) aus San Francisco ausgerechnet haben, daß der aufgrund eines unmittelbar bevorstehenden Erdbebens ausgerufene Not- und Evakuierungszustand eine Panik auslösen würde, die in ihren Auswirkungen verheerender als die eigentliche Katastrophe wäre. Auch hier die totale Lächerlichkeit (des Systems; aber keine Ironie des Schicksals). Mangels einer wirklichen Katastrophe wird es wohl erlaubt sein, durch Simulation eine Katastrophe auszulösen, die es mit jener durchaus aufnehmen und sie sogar noch besser ersetzen kann. Man fragt sich, ob nicht genau das den "Experten" im Kopf herumspukt genau das gleiche spielt sich im Nuklearbereich ab: Spielen nicht alle Präventiv- und Dissuasionssysteme ihre Rolle als potentielle Katastrophenherde? Unter dem Vorwand, die Katastrophe verhindern zu wollen, tragen sie deren Konsequenzen ins Unmittelbare, ins Hier und Jetzt. Was wieder einmal bestätigt, daß man beim Zerstören und Vernichten nicht auf den Zufall zählen kann: es muß im Sicherheits- und Dissuasionssystem ein unmittelbares Äquivalent gefunden werden. Es ist daher auch offensichtlich, daß ein Staat oder sonst irgendeine Macht, mag sie auch noch so gut die Erdbeben voraussehen und allen Folgen zuvorkommen können, letztlich sogar das Überleben der Gattung stärker bedroht als die eigentlichen Erdbeben. Die süditalienischen Terremotati (Erdbeben) haben den italienischen Staat sicherlich wegen seiner Fahrlässigkeit getroffen (die Medien waren noch vor den Hilfsdiensten am Ort des Geschehens, offensichtliches Merkmal der gegenwärtigen Hierarchie von Dringlichkeiten sowie des wirklichen (Ab-)Laufs der Dinge; zu Recht wurde dem politischen System die Katastrophe zur Last gelegt (insofern es nichts anderes mehr prätendiert als nur noch eine terroristische Fürsorge gegenüber bestimmten Bevölkerungsgruppen), aber nie und nimmer würde jemand im Traum an eine Ordnung denken, die selbst zu einer solchen Dissuasion der Katastrophe fähig wäre: der Preis wäre, daß jeder im Grunde genommen die Katastrophe bevorzugt – sie entspricht mit ihrem Elend zumindest dem prophetischen Bedürfnis nach gewaltsamem Verschwinden und dem starken Bedürfnis nach Verspottung des politischen Systems. Das gleiche gilt für den Terrorismus: Was ist das wohl für ein Staat, der in der Lage ist, jeglichen Terrorismus im Keim zu ersticken und aufzulösen (BRD)? Muß er sich nicht selbst mit einem Terrorismus ausstatten und ganz einfach den Terror auf allen Ebenen verallgemeinern? Was ist nun der Preis für diese Sicherheit und träumt wirklich jeder ernstlich davon? POMPEJI REVISITED Alles in dieser Stadt ist metaphysisch, bis in ihre traumhafte Geometrie hinein, die sich nicht als räumliche, sondern als geistige Geometrie der Labyrinthe darstellt – diesseits der Zeit, die in der Mittagshitze noch stärker gefriert. Welch ein großartiges psychisches Erlebnis, die spürbare Präsenz der Ruinen, ihre Spannung, ihre Schatten(bildungen), ihre Alltäglichkeit. Koinzidenz der Banalität eines Spaziergangs und der Immanenz einer anderen Zeit, eines anderen, einzigartigen Moments, dem Augenblick der Katastrophe. Die mörderische, aber aufgehobene Anwesenheit des Vesuv gibt den toten Straßen den Reiz der Halluzination – die Illusion, schon vor der eigenen Geburt da zu sein, im Hier und Jetzt, am Vorabend der Eruption, und man steht zweitausend Jahre später wieder auf, tot und wieder lebendig, durch ein Wunder der Nostalgie, in der tiefen Immanenz eines früheren Lebens. Nur wenige Orte hinterlassen einen solchen Eindruck von Unheimlichkeit (es ist kein Zufall, daß Jensen und Freud (1) dort auch das "psychische" Agieren Gradivas ansiedelten). Die ganze Wärme des Todes spürt man hier, die sich noch durch die fossilen und kurzlebigen Zeichen des Alltagslebens steigert: die Aushöhlung der (Ge)Räder im Gestein, die Abnutzung der Brunnen(kränze), das versteinerte Holz einer halbgeöffneten Tür, die Togafalte eines in Asche begrabenen Körpers – es stellt sich keine historische Zeit zwischen diese Dinge und uns, keine Zeit, um den Monumenten ihr Prestige zu verleihen: hier in der Wärme des sie überraschenden Todes werden sie sofort materiell. Weder die Monumentalität noch die Schönheit sind wesentlich für Pompeji, sondern die Intimität der Dinge, die Faszination ihrer Unmittelbarkeit; es ist sozusagen das vollendete Simulakrum unseres eigenen Todes.
Pompeji stellt also eine Art Trompe-l'oeil und Urszene dar: der gleiche Taumel abzüglich einer realen Zeitdimension – die gleiche Halluzination mit einer zusätzlichen Dimension, nämlich einer Transparenz der kleinsten Details deines Lebens; wie die genaue Vision, die man vom Meeresgrund oder von lebenden, auf den Grund eines künstlichen Sees versunkenen Bäumen erhält, wenn man beim Schwimmen darüber hinweggleitet.
Die geistige Wirkung der Katastrophe besteht darin, die Dinge anzuhalten, bevor sie ihr Ende erreichen, und sie in der ewigen Spannung ihres Verschwindens zu halten.
Pompeji: wieder einmal durch ein Erdbeben verwüstet. Was ist das für eine Katastrophe, die sich wild auf Ruinen stürzt? Was ist das für eine Ruine, die es nötig hat, ständig wieder niedergerissen und verschüttet zu werden? Sadistische Ironie der Katastrophe: sie wartet insgeheim darauf, daß die Dinge und selbst die Ruinen wieder ihre Schönheit und ihren Sinn annehmen, um sie anschließend wieder zu zerstören: sie wacht eifrig darüber, daß die Illusion der Ewigkeit zerstört wird, aber sie spielt auch mit ihr, indem sie die Dinge in einer zweiten Ewigkeit zur Erstarrung bringt. Genau das, dies Versteinerte, diese Erstarrung eines geschäftigen Lebens, durch eine katastrophische Unmittelbarkeit, machte gerade den Reiz Pompejis aus. Die erste Katastrophe, die des Vesuv, war gelungen. Die des Erdbebens ist viel problematischer. Sie scheint in einer parodistischen Wirkung der Regel von der Verdopplung der Ereignisse zu folgen. Läppische Probe der großen Premiere. Vollendung eines großen Schicksals; eine erbärmliche göttliche Natur hat dabei noch etwas nachgeholfen. Aber vielleicht hat das Erdbeben auch einen anderen Sinn, nämlich den, uns zu ermahnen, daß die Zeiten der grandiosen Erdrutsche und Wiederauferstehungen, die Zeiten der Spiele um Vergänglichkeit und Ewigkeit vorbei sind; an ihre Stelle treten, durch progressive Verschiebungen, die kleinen Ereignisse, sozusagen "süße" Vernichtungen, ohne einen neuen Morgen, weil es ja gerade die Spuren sind, die dieses neue Schicksal auslöschen. Dies alles macht uns mit dem horizontalen Zeitalter der folgenlosen Ereignisse vertraut, wo der letzte Akt leicht parodienhaft durch die Natur selbst inszeniert wird.
Aus dem Französischen von Martin S. Leiby (Dieser Text ist erschienen in: Jean Baudrillard: Laßt Euch nicht verführen!, MERVE-Verlag, Berlin, 1983. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlages.)
(1) vgl. dazu S. Freud: Der Wahn und die Träume in W. Jensens "Gradiva", mit dem Text der Erzählung von Wilhelm Jensen (Hrsg. und eingeleitet von B. Urban und J. Cremerius), Frankfurt/M. 1973 (Taschenbuch-Ausgabe) (A.d.Ü.) zurück
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