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Herrschaft der Mechanisierung
Verse aus der Giedion-Bibel

'Laetitia Sonami Laetitia Sonami / 'Paul DeMarinis Paul DeMarinis

Maschinen unterscheiden sich so sehr von uns wie wir uns vorstellen, uns von der Natur zu unterscheiden. Sie erscheinen als Verkörperung unseres Abstraktionsvermögens, unseres Selbstverständnisses und des Aufbaus der Welt. Wenn wir um uns blicken, sehen wir überall die durch Maschinen verursachten Veränderungen. In unseren Bauernhöfen, Städten, Industriewüsten, in unseren Gedanken, Beziehungen und Träumen. Die Maschine ist für uns zu einer Art Vermittler in einem Dialog mit uns selbst geworden, einem manchmal tiefsinnigen, manchmal sinnlosen Dialog. Die Maschine verleiht unseren flüchtigen Gedanken und unseren anpassungsfähigen Wahrnehmungen einen wesentlichen Anschein von Objektivität. Jede Maschine erzeugt in ihrem Zeitalter Illusionen und dient als Norm für objektive Wahrheit und Realität. Aus der Annahme, daß die Maschine objektiv ist, ergibt sich auch der Glaube, daß die aus der Maschine resultierenden Werke objektiv sind. Die Verwendung von "intelligenten Bomben" mit eingebauten Sensoren und Führungssystemen, die sich ihre Ziele selber suchen, rechtfertigt nun das Töten tausender Menschen als "Begleitschaden". Wie sind wir so weit gekommen?

Während in Europa der Krieg tobte, durchsuchte der Schweizer Architekt und Historiker Siegfried Giedion die hintersten Archive der amerikanischen Patentämter, um die anonyme Geschichte der mechanischen Erfindungen zu dokumentieren. 1947 publizierte er seine einzigartige Abhandlung "Mechanization Takes Command – Die Mechanisierung übernimmt das Kommando". Der Titel in der Gegenwart vermittelt etwas von der Unmittelbarkeit des vergangenen mechanischen Zeitalters, das das 19. Jahrhundert umfaßte, in dem die menschlichen Erfindungen das menschliche Sein überwältigten und neu definierten. In einer Gegenüberstellung der natürlichen Ressourcen, der Verfügbarkeit qualifizierter Arbeitskraft und der historischen Errungenschaften Europas und Amerikas untersucht er – Kapitel um Kapitel – das Eindringen der Mechanisierung in die verschiedenen Bereiche des menschlichen Lebens. Schloß und Schlüssel, Brotbacken, Schlachthäuser, Möbel und das Gefühl des Komforts, Küchengeräte und Baden. Durch seine ständige Aufmerksamkeit für den Einfluß der Mechanisierung auf die organische Welt, unser Leben und unsere Körper übertrifft Giedions kritische Perspektive die reine historische Dokumentation, teleologische Theorie oder szientistische Lobhudelei: Er entblößt die Wurzeln der vielen Widersprüche, die unseren globalen Krisen des Lebens und der Menschlichkeit mit den gesamten Mechanismen und dem herrschenden Geschmack zugrunde liegen. "Mechanization Takes Command" ist ein Quellenwerk der Probleme, Lösungen und jener Lösungen, die zu Problemen wurden.

DIE HAND
"Unübersehbar sind die verschiedenen Gebiete der Mechanisierung oder gar die technischen Lösungen innerhalb dieser Gebiete, die in ihrem Zusammenwirken die heutige Lebensform erzwungen haben. Von verblüffender Einfachheit aber ist die Methode, die aller Mechanisierung zugrunde liegt.

Die menschliche Hand ist ein Greifwerkzeug. Sie kann rasch zupacken, festhalten, drücken, ziehen, schieben, formen, sie kann suchen und fühlen; Flexibilität und Gegliedertheit sind ihre Kennzeichen.

Drei Gelenke am Finger, Handgelenk, Ellbogen und Armgelenk und, wenn erforderlich, Rumpf und Füße helfen mit, die Flexibilität und Anpassungsfähigkeit zu steigern. Die Muskeln und Sehnen bestimmen die Art des Zupackens und Festhaltens, die empfindliche Haut das Abtasten und Fühlen des Materials, das Auge steuert die Bewegung. Aber entscheidender als diese wohlintegrierten Tätigkeiten wirkt der Verstand, der sie leitet, und das Gefühl, das sie beseelt. Mag es sich bei der Bewegung um das Kneten des Teiges, das Falten eines Tuches oder um die Führung der Hand beim Malen handeln: jede Bewegung ist im Gehirn verankert. So wunderbar die Kompliziertheit dieses organischen Instrumentes auch anmuten mag, für eines eignet es sich nur schlecht: für die Automatisierung. An der Art, wie die Bewegungen zustande kommen, liegt es, daß die Hand nicht darauf eingestellt ist, Tätigkeiten mathematisch präzis und ohne Unterbrechung auszuführen. Jede Handlung beruht auf einem Befehl, den das Gehirn stets wiederholen muß, und es widerspricht dem Organischen, das Wachstum und Veränderung einschließt, sich der Automatisierung zu unterwerfen."
Unsere Wissenschaften verlassen sich auf technische Vermittler zur Erfassung und Messung von Dimensionen, die wir mit unseren Sinnen nicht wahrnehmen können. Während es nicht mehr möglich ist, sich eine Wissenschaft ohne Maschinen vorzustellen, stoßen wir jeden Tag auf Maschinen ohne Wissenschaft – und hier haben wir echte Science-fiction. Tagtäglich erleben wir ein Panorama von scheinbar autonomen Maschinen, die unseren Planeten kolonisiert haben – von den unschuldigen Improvisationen der Kinder- und Volkstechnik bis zu unseren systemlos zusammengebastelten großen Industriekomplexen. Blindheit, Macht und das kollektive Fehlen irgendeiner entschlossenen Richtung ermöglichen es, daß diese großen kumulativen Maschinerien unerbittlich eine Welt zerfressen, deren Ganzheit wir nicht erfassen können und die wir erst vor kurzem zu schätzen begonnen haben.
"In La Villette hatte – was gleichfalls getadelt wurde – noch jeder Ochse einen besonderen Verschlag, in dem er getötet wurde. Das war eine Fortführung handwerklicher Gewohnheiten, die die Routine des Massenschlachtens nicht kannten. Die langen Schlachthäuser bestehen aus aneinandergereihten Einzelverschlägen. Man ist seitdem schon lange zu technischen Einrichtungen und zum Schlachten in großen Hallen übergegangen. Aber in diesen Einzelheiten liegt wahrscheinlich ein Nachklang der tief eingewurzelten Erfahrung, daß jedes Tier nur unter großen Mühen und Opfern herangezogen werden kann und besondere Sorgfalt braucht. Die großen Ebenen jenseits des Mississippi, auf deren freien Grasflächen die Viehherden, vom Pferderücken aus gelenkt, fast ohne Pflege aufwuchsen und sich vermehrten, stehen in innerem Zusammenhang mit der Bandproduktion, ebenso wie der bäuerliche Kleinbetrieb, in dem jedes Tier seinen Namen hat und jeder Kuh beim Kalben beigestanden werden maß, mit der handwerklichen Durchführung des Schlachtens."
Wir verweilen nun am Ende des elektronischen oder Informationszeitalters. Vielleicht ist es unsere Unentschlossenheit, die uns davon abhält, eine von zwei gleichermaßen bedrohlichen Alternativen zu wählen: unsere müden Paradigmen aufzugeben und einen neuen ganzheitlichen Begriff von uns selbst und der Umwelt anzunehmen, oder nicht nachzugeben und sie zu vernichten. Heutzutage ist es vielleicht aufschlußreich, den Weg, den unsere Vorfahren im längst vergangenen Maschinenzeitalter eingeschlagen haben, neuerlich zu überlegen. Giedion betrachtete die Maschine als Diktator von sozialen und ethischen Werten, von Ästhetik, als Spiegel der Natur und als Modell des Geistes. Alle diese Dinge wurden der Maschine in ihrer Blütezeit vor eineinhalb Jahrhunderten zugeschrieben oder auf sie projiziert. Innerhalb dieser Muster können Gewohnheiten verborgen sein, die unsere Kultur wiederholt, auch wenn sich die Paradigmen verschieben.
"In der Glanzzeit des letzten Matriarchats, in der minoischen Kulturepoche, finden sich Wannenbad, Kanalisierung und Wasserklosett. Dank der unermüdlichen Ausgrabungsarbeiten von Arthur Evans haben wir bessere Einsicht in diese Frühperiode als etwa in die Entwicklung des griechischen Gymnasion. Die bemalte Wanne aus gebranntem Ton, die Evans im Palast von Knossos auf Kreta wieder zusammensetzte und die im Gemach der Königin stand, belehrt uns, daß dieser Typ des Bades, wie viele andere minoische Gebräuche um 1250 v.Chr. von den Griechen der mykenischen Periode übernommen wurde. Jene kretische Wanne in ihren bescheidenen Dimensionen entspricht der Beschreibung des mykenischen Bades, wie die homerischen Helden es benutzten. Wenn Homer rückblickend (um 800 v.Chr.) ausführlich die Badezeremonie beschreibt, wird das Bad immer als Mittel 'gegen geistentkräftende Arbeit' bezeichnet. Entspannung, nicht Reinigung steht hier im Vordergrund."

"Der heutige Typ des Bades, das Wannenbad ist eine Mechanisierung des primitivsten Typs, Es gehört in das Gebiet der äußeren Abwaschung. Die Badewanne wird als erweiterte Waschschüssel aufgefaßt. Allerdings hat keine frühere Zeit das Bad so selbstverständlich als zum Schlafzimmer gehörig betrachtet wie die unsere. Jeder seiner Bestandteile ist das Ergebnis einer langwierigen Mechanisierung, und so ist es zu erklären, daß das Badezimmer mit fließendem Wasser erst gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts aufkam und erst in der Zeit der Vollmechanisierung, zwischen den beiden Weltkriegen, zur Selbstverständlichkeit wurde. Das ändert nichts an der Tatsache, daß das Wannenbad ein primitiver Typ ist, wie er etwa in Kreta um 1800 bis 1450 v.Chr. zu finden ist, ehe das griechische Gymnasion entstand."
Es erscheint, daß die Technik in unserer modernen westlichen Kultur die Stellung des "Vermittlers" einnimmt, eines mythischen, magischen oder orakelhaften Fetischs, auf den wir eine innere Dimension projizieren, die wir nicht direkt ausdrücken können, und bei dem wir wiederum Antworten über die Welt und unseren Platz darin suchen. Maschinen bieten uns eine Art Dreifaltigkeit des Dialogs zwischen Selbst-als-Subjekt/Maschine/Selbst-als-Objekt. Der Sessel des Friseurs, die Barbiepuppe, der Desktopcomputer, die intelligente Bombe – jedes stumme Objekt beteiligt sich an einer Diskussion, von der es nichts versteht. Unsere Besessenheit mit Schlüsseln, Codes, speziellen Steuerungstasten ist vielleicht eine zeitgenössische Manifestation von besonderen Formeln – Beschwörungen, die wir einst zur Kommunikation mit dem Unbekannten, den "geisterhaften Mächten" verwendeten. Sollten die "genii loci", die Wald- und anderen Geister, die wir einst verehrten, um unser Verständnis und unsere Anteilnahme an der Umwelt zu vergrößern, nun in der Technik eingebettet sein? Kommt unser dauerndes Bedürfnis, uns selbst durch die Wiederholung der Technik zu bestätigen, aus der Verzweiflung oder Furcht vor der "Leere"? (In einem kürzlich erschienenen Bericht beschrieb eine Geisel in iranischen Gefängnissen, wie er die ihm bekannten mathematischen Formeln und Theoreme nur mit Hilfe von Brotkrümeln und Staub nachbildete. Er dachte nie daran, seine Einsamkeit, Hilflosigkeit und das Fehlen jeder Möglichkeit, sich selbst auszudrücken, zu erforschen.)

Für unsere Performance haben wir einige der überraschendsten und romantischsten Passagen aus Giedions Text zur Vertonung gewählt: Die Kapitel über das Schlachten, über die Mechanik der Hand und über das Baden formen den Kern unseres Textes. Durch eine Computeranalyse verwandeln wir die natürlichen Rhythmen und Melodien der Sprechstimme in musikalisches Material. Durch Bearbeitung dieses Materials mit Sprachsynthese, Synthesizern und Samplern haben wir eine Serie von "Songs" oder Stimmungen geschaffen, die sowohl von Giedions Material stammen als es auch porträtieren.

Durch die Verwendung von Computern und Synthesizern in dieser Performance soll die Spaltung zwischen minimaler gestischer und darstellerischer Handlung und der massiven Steuerung des Erlebnisses, die durch den Klang und die Bilder angedeutet wird, übertrieben werden. Das Material – nicht der Künstler – trägt nun den Erlebnisreichtum dem Ziel entgegen. Wie die moderne Architektur liefert uns auch die Audiotechnik ein Mittel zur Schaffung einer kunstvollen Sammlung von transparenten Bildern, die in Raum und Zeit koexistieren. Wie die Architektur bewahrt sich auch die Audiotechnik einen Sinn für das Illusorische, indem sie Räume schafft, die unsere Empfindung für das Selbst verändern, ohne daß wir uns dessen bewußt werden. Die verfügbaren Steuerungen ermöglichen jedoch eine "schmerzlose" sofortige Auflösung ohne intelligente Bomben. Wieder zermalmt die Abtrennung der Handlung vom Ergebnis den Widerstand.

Es liegt Ironie in dem Gegensatz zwischen der natürlichen Live-Stimme und der Synthesizerstimme. So wie die Stimme dem Körper weggenommen und als Wesen ohne körperliche Substanz, ohne Status oder Ort, ohne Gesichtspunkt, ohne die durch einen entblößten Hals gebotene fleischliche Verletzlichkeit, neu eingesetzt ist, wird sie als neues Wesen wiedergeboren. Vielleicht als Stimme des Gesetzes oder als Orakel, das aus dem Jenseits sprechen kann. Ein phantastisch falsches Vertrauen wird in uns geweckt durch diese Brustkorbresonanz ohne Brustkorb, diese Nasallaute ohne Nase, Verschlußlaute ohne Lippen oder Zunge, diesen Sänger von Liedern ohne Kehlen. Die Stimme, die der Maschine begegnet, erleidet die gleichen Dislokationen, wie sie an den Tierkörpern im Schlachthof verübt werden. Anders als bei der Zufallszerstörung durch den Tod auf der Straße wird ihnen das Wesentliche entnommen, sie werden verformt – in etwas anderes verwandelt. Hier haben wir Stimmen exzidiert, das Fett und die Knorpel der Bedeutung abgelöst, um die darunterliegenden harmonischen und rhythmischen Skelette freizulegen. Wir haben die künstliche Stimme von ihren Knochen filetiert und abgelöst, um sie erst recht in einer neuen Aufmachung wieder einzusetzen, sie als Gott, Dämon oder Geist auferstehen zu lassen. Wer sagt diese Dinge? Bin ich der einzige, der diese Stimmen hört?
"Wir traten in einen riesigen, niedrigen Raum und folgten einer Allee toter Schweine, die auf dem Rücken lagen, alle Viere in die Luft gestreckt. Am Fluchtpunkt angekommen, sahen wir eine Art menschlicher Hackmaschine, die die Schweine in marktgerechtes Schweinefleisch verwandelte. Ein Bohlentisch, zwei Männer zum Heben und Wenden und zwei zum Schwingen der Beile waren ihre Bestandteile. Eiserne Zahnräder hätten nicht regelmäßiger arbeiten können. Klatsch, fällt das Schwein auf den Tisch, zack, zack, zack, zack, zack, zack fallen die Beile. Alles ist vorbei. Kaum hat mans ausgesprochen, geht es schon wieder: klatsch, und dann zack, zack, zack, zack, zack, zack, Zum Bewundern ist keine Zeit. Geübte Griffe lassen alles, Schinken, Schultern, Rippen, Bauch und Filet sauber geviertelt an ihre Stellen fliegen, wo Helfer mit Loren und Drehtischen jedes Stück seiner Bestimmung zuführen – den Schinken nach Mexiko, die Lende nach Bordeaux. Fassungslos über die Schnelligkeit, zogen wir unsere Uhren und zählten fünfunddreißig Sekunden von dem Augenblick, wo ein Schwein den Tisch berührte, bis zur Ankunft des nächsten. Leider zählten wir nicht die Anzahl der erforderlichen Schläge."
Giedion hat ein Panorama aus gefundenen Bildern und somit eine visuelle Dialektik geschaffen – Bilder von Marey, den Gilbreths und Muybridge erscheinen gegenüber Duchamp, Ernst und Klee und illustrieren alle miteinander die Codierung der menschlichen Bewegung in Gestalt und Form. Stiche der McKormick-Mähmaschine aus dem 19. Jahrhundert, Patentzeichnungen von Tierhäutungsmaschinen, die nie praktisch angewandt werden konnten, begleiten uns auf unserem Weg durch Giedions anonyme Geschichte. Die mehr als 500 Abbildungen zum Text von "Mechanization Takes Command" bilden ein glänzendes Kaleidoskop visueller Anthropologie und enthüllen Paradoxa, versteckte Ordnungen und völlig blinden Optimismus, während sie nacheinander an unserem Weg erscheinen. Wir haben diese Kupferstiche und Strichzeichnungen zusammen mit Farbphotographien in die Projektionen für unsere Performance eingearbeitet und weisen dabei wieder auf die Parallelen und Widersprüche zwischen dem Mechanischen und Tatsächlichen hin, dem, was gesehen werden soll und was nicht versteckt werden kann.