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Ars Electronica 1991
Festival-Programm 1991
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Festival 1979-2007
 

 

Unruhiges Wohnen


'Elfriede Jelinek Elfriede Jelinek / 'Bernd Roger Bienert Bernd Roger Bienert / 'Roman Haubenstock-Ramati Roman Haubenstock-Ramati

WILHELM SINKOVICZ ÜBER BERND-ROGER BIENERT

"Denn das weiß das Publikum nicht, mag es nicht wissen, daß, um ein Kunstwerk zu EMPFANGEN, die halbe Arbeit an demselben vom Empfänger selbst verrichtet werden muß"
Ferruccio Busoni
Daß im traditionsverhafteten Repertoirebetrieb eines Hauses wie der Wiener Staatsoper kaum Auseinandersetzungen möglich sind – solche zwischen Publikum und Klängen selten, solche zwischen Publikum und Bühnenraum so gut wie nie – ist evident. Selbst dort, wo während der vergangenen Jahrzehnte weltweit Innovatorisches Musiktheater am ehesten stattgefunden hat, im Bereich des Balletts, ist den Wienern Visionäres nicht geschenkt worden. Mit einer Ausnahme: Der wenig über zwanzigjährige Wiener Choreograph Bernd R. Bienert sorgte 1984 für den ersten Sturm im szenischen Altwarenladen Staatsoper. Mit seinem Tanzstück "Alpenglühn" zertrümmerte er – im Verein mit dem jungen Komponisten Thomas Pernes Seh- und Hörgewohnheiten. So konsequent, daß die Direktion das Werk konsequent in das Nachmittagsprogramm verbannte.

Die Kunde vom Enfant terrible im traditionsreich konservativen Haus verbreitete sich indessen rasch. Man kam nicht umhin, den Jungstar um ein zweites Werk zu bitten, das dann – umrahmt von Auftritten Rudolf Nurejews – als schwerer Schlag in die Magengrube manches Tanzfreundes empfunden wurde: Bienert der "Revoluzzer" verweigerte sich in der seltsamen Kreation mit dem noch seltsameren Titel "Rads Datz" allem und jedem. Den Ballettomanen versagte er den Tanz, unterzog die klassischen Figuren einer bleischweren, provokant zeitlupenartigen Metamorphose. Der Komposition Gottfried von Einems, die ihm aufgezwungen worden war (sie trug als Widmungsträger freilich den Namen des damaligen Staatsoperndirektors) versagte er die Gefolgschaft, errichtete bewegte Gegenharmonien, kontrapunktierte sie mit kabarettistischen Intermezzi. Der Bühnenraum, den er sich in gold, tiefblau, schwarz und rot geschaffen hatte, träumte sich allerdings in ferne Illusions-Regionen. Das Ahnungsvolle, das Bienerts Arbeiten bis dahin schon ausgezeichnet hatte, das alles Kommende noch in verstärktem Maße auszeichnen sollte, war da schon vorgegeben. Inmitten eines anarchischen Verschwörungsszenarios, das alle, die Visionäres nicht erkennen mochten, dem jungen Künstler bis heute nicht verziehen haben.

Sein Weg war damit freilich vorgezeichnet, das emotionelle und artistische Grundvokabular erstellt. In der Folge errichtete Bienert Bühnenwelten von phantastischen räumlichen Dimensionen. Die Choreographie beginnt mit der selbst entworfenen Bühnenarchitektur, setzt sich über die suggestive Zeichensprache des Lichts fort und endet in den völlig neu kombinierten, zwischen puristisch gezeichnetem Tanzlineament und völliger körperlicher Verkrampfungsgeste aufgespannten Kanon der menschlichen Bewegung. Mit solchem "Choreographie-Raum-Design" (Bienert) lassen sich alptraumartig bedrückende, ausweglos scheinende Nachtmahre ebenso konsequent – also für den Zuschauer unentrinnbar – realisieren, wie etwa das harmonische "Negativbild" eines Mozartklavierkonzertes: Bienerts bisher einziges Werk, das ohne Augenzwinkern als "Ballett" bezeichnet werden könnte, war "trazoM", in Holland für Introdans erarbeitet und ein Kabinettstück an "musikalischer" Bewegungsregie. Indem er nämlich darauf verzichtet, die vordergründig wahrnehmbaren rhythmischen und melodischen Strukturen der Musik nachzustellen, erweist dieser Künstler seine immense Musikalität: Hier wird Mozarts Komposition nicht mit untauglichen Mitteln "nachgestikuliert" (– denn sie vermittelt ihre Strukturen ganz gut von allein.) Hier wird ein optischer Überbau realisiert, ein Kontrapunkt, der immanente formale Gesetzmäßigkeiten, die "innere" Bewegung sozusagen, die sich nicht unmittelbar durch die Klänge mitteilt, sichtbar macht. Das musikalische Werk im wahrsten Sinne des Wortes also szenisch "interpretiert".

Das Publikum ist dabei aufgefordert, denselben Prozeß des Analysierens auch an Bienerts Werk vorzunehmen, weiterzuträumen, Angespieltes, Erahnbares, Erwünschtes – auch Verweigertes, das erwartet war, aber nicht sichtbar eingetreten ist, deshalb aber doch: DA war – zu ergänzen, im Sinne von Busonis Wort zu EMPFANGEN. Die internationale Bühnenwelt hat in den letzten Jahren keinen Künstler hervorgebracht, der solches mit mehr Impetus einzufordern wüßte.
WILHELM SINKOVICZ ist Chef des Kulturressorts der Österreichischen Tageszeitung "Die Presse"
ELFRIEDE JELINEK
UNRUHIGES WOHNEN
Fort, ins Haus, damit das Schreckliche bewahrt wird! Das Kind im Tragegurt. Nur ein bißchen Wohlwollen als Nahrung. Gerade noch beachtet, so hat es sich bequem gemacht. So verlaufen sie ins Haus. Das Kind läuft aus. Ein Rinnsal bleibt auf dem Gehsteig zurück. Die Bauwerke versammeln sich. Es ist Tag. Sie gehen hinein ins Behältnis, das ihnen gewährt ist. Ihr Wohnen ist nicht Wandern. Ihr Wohnen ist Behaltenwerden ineinander. Das Kind verwandelt sich zu schnell. Es läuft noch nicht. Bald wachsen ihm Zähne. Es ist nicht harmlos, ineinander herumzufahren. Dem können sich Wände nicht anpassen. Sie sind auf Verharren eingerichtet. Das Kind stört. Es bleibt sich nicht gleich. Ihr Wohnen ist nicht Wandern! Dieser Aufenthalt wird dem Kind nicht bekommen. Es bekommt jetzt nicht seine Milchjause. Die Eltern wandern durch ihren Aufenthalt. Sie holen sich ins Bauwerk hinein. Sind ins Netz gegangen. Aber nein! Nicht durchs Wohnen die Landschaft in die Nähe holen! Diese Nähe erträgt die Weite der Landschaft nicht. Diese Nähe schafft die Weite nicht mehr. Diese Nähe schafft keinen Meter weiter! Bis hierher! Die Frau nimmt ihren Körper, der ein Kind ist, mit hinein. Geht der Körper, geht auch die Frau. Das Kind nimmt sie mit. Es hält sie voneinander fern. Noch! Eine Barriere ist das Kind gegen das Wohnen, das Nähe stiftet. Das Kind ein Stück Draußen, und das bleibt es auch. Bis zuletzt. Sein Körper vormals die Flügel der Mutter. Jetzt dicht angelegt, aber sie starten nicht mehr. Es geht für das Kind nicht mehr hinaus. Es heißt drinnenbleiben! Ohne das Kind hat sich die Frau früher fortbewegt. Diese Wanderung ist zu Ende. Doch ohne Wandern kein Wohnen! Sie stürzen zusammen. Voneinander fern hält sie das Kind. Dieses Wohnen heißt, einander fortwährend zugeworfen werden. Das Kind schreit. Die Tür bitte schließen! Im Behälter sind sie angekommen. Füllen sich schon ein. Fühlen sich ein in den Genuß, der sie selber sind. Das Kind nehmen sie mit. In diesem Augenblick schon Hindernis ist das Kind. Sie können ihm nicht auskommen. Wohnen sie vor dem Kind davon, ineinander? Der einzige Platz, den das Kind läßt. Das Kind ist immer wo anders und ein Anderes. Es ist nicht die Mutter. Was ist es? Es ist die Bewegung der Mutter, die in sich erstarrt ist. Sein Aufenthalt in der Mutter ist beendet. Abgegrenzt von ihnen das Kind. Ein Schritt ins Leere, von der Mutter nie vollzogen. Noch! Nacht! Sie werfen das Kind von sich. Und sich selbst auf den Hauptwanderweg, der sie ineinander führt. Die Kleider der Frau säumen den Boden ein. Fortgeworfene Abfälle diese Kleider: Spuren der Menschen. Wegweiser. Rahmen die Wege ein. Machen sie erst zu Wegen. Diese Anwesenheit kein Wohnen, weil es nachher nicht weitergehen wird. Schon sind sie beendet, begrenzt durch sich. Dieses Wohnen ist kein Weitergehen. Kein Aufenthalt, der ihnen gegönnt ist. Unaufgeräumt die Küche, wo Genuß aus den Regalen gerissen wird. Überall Endstation! So wird das nie eine Wanderung, denn es wandelt sich nichts. Das Kind schreit. Noch! Noch! In der Küche die Wohnung der Frau. Es klebt Überfluß an ihr. Noch von früher her! Ihr Wohnen Bewegung des Überflusses. Jetzt wird es eng. Es wird genommen und genommen. Auch dieses Nehmen schon Stillstand. Endstation ineinander. Es schreit das Kind. Noch! Das Kind schreit. Weiß nicht, woher es gekommen ist. Kann nicht mehr zurück. Es macht aus ihnen eine Anordnung. Unordnung. Stört bei der Nachbarschaft. Hier der Körper, aus dem es kam. Dort der Körper, der es beenden wird. Schon im Dunst der Lust zu sehen. Wie frisch aus den Wickelbändern geschält. Dieser Aufenthalt entschieden zu kurz. Das Kind ist gar nichts Eigenes gewesen. Das Kind ist heute so unruhig. Seine Stelle wird bald frei. Das Kind kann nicht sagen, hier war einer. Es ist selbst gekommen und gegangen: Bewegung! Aber nichts mehr dazwischen! Das Wohnen ist das Kind und ist es gewesen. Es schreit. In die Geräte ihrer Körper werfen sie etwas hinein, das unerkannt zu ihnen zurückkehrt. Sie haben einander schon an der Schwelle übernommen. Noch! Das Wohnen nur mehr Hebel, mit dem sie einander öffnen. Das Kind wird endgültig still sein. Auf den Boden mit ihm, während sie sich geradeaus weiter verlaufen. Für die Lust markierte Wanderwege. Das Kind ein Einfamilienhaus auf der Welt. Von Schlägen wird dieses Kind bewohnt. Es knallt wie Sonne auf seinen Kopf. Schmettert wie Regen auf seinen Körper. Leuchtspurmunition die Wäsche der Frau. Auf dem Wasser des Teppichs. Der schlägt Wellen. Das Kind wickeln sie darin ein. Das Wickelkind schreit jetzt nicht. Staub in seinem Rachen. Der Vater hat auf der Mutter etwas Notdürftiges zu verrichten. Wie es das Gestirn mit dem Himmel und das Gestein mit der Erde tut. Und das Gestern! Was macht es aus uns? Es macht, daß wir alle weitergehen. So ein Wandel ist nur natürlich. Die Frau ist schon lang ausgezogen. In vielen Ländern gehört sie zum Alltag des Straßenbilds. Jetzt wohnt der Mann dort, wo die Frau gewesen ist. Er ist die Frau gewöhnt. Sie sind nicht mehr zwei. Überraschen einander in ihrem Gebäude.

Besuchen sich. Alle Wege vollgeparkt mit ihnen. Kein Platz mehr zum Umkehren. Auch ausgekehrt wird nicht. Sie sind sich Widerschein auf den Häuten, die ihre Häuser sind. Heute ist vorbei. Das Kind geht nirgends mehr hin. Eingenäht in den Teppich. Als Natur ist es ausgesperrt. Ein Stück geneigt ist das Kind. Dann lassen sie es in sein Windelgerät fallen. In den Teppich. Sie sind ihm keine Freunde mehr. Ihr Geschäft ist jetzt eröffnet. Sie schenken sich ein und aus. Sie sind Länder, die in sich liegen. Keine Wege mehr, wo Männer die Frauen küssen. Für das Kind ist die Welt ein Gebäude. Es regnet Prügel. Zu allererst wird das Dach vom Kind weggezogen. Mit Absicht folgt die Finsternis. Dort macht das Kind sein Geschäft und wird gleich geschlossen! Hier! Heißt es. Sie werden sie selbst, weil sie einander bewohnen. Finden sich gegenseitig zur Handhabung vor. Das Kind ist gestillt. Schweigt still. Ruhe! Das wird kein Geschäft! Sie verschenken sich. Sie verschenken nichts. Kein Geschenk ist das Kind. Es weiß ja nichts von sich. Seine Windelgurte halten es notdürftig zusammen. Dieser Bausatz ist unvollständig. Sie legen sich daneben. Die Ankömmlinge verlieren sofort jede Milde. Treten gegen ihre Tore. Ihr Einlaß bitte!

In dieser Fleischbank zählen sie sich auf die Hand. Sie zählen nicht! Frage an das Kind: Wie findet es sein Dasein? Antwort: Das Dasein ist im Teppich gefunden worden. Und wie die Küche aussieht! Fast sofort erblicken sie Nahrung, die ihren Platz verlassen hat. Erbrochenes fällt neben ihnen auf das Lager. Ihre Flügelpaare wirbeln. Groß und vergeblich. Ihre Lust trägt sie nicht hoch. Etwas Schweres fällt zufällig. Und auf das Kind drauf. Sie schicken ihre Körper ins Nebenzimmer, damit sie sich wiederfinden. Dort sind sie aber auch nicht. Unterhaltsam ist die Lust nicht. Wo ist die Sammelstelle? Wo finden sie sich, damit sie gemeinsam nach Haus gehn? Wer hätte es nicht gern gemütlich? Atmet nicht das Kind? Sie verstricken sich. Wolle, die das Leben schrieb. Sie folgen sich mit den Augen. Das Kind schläft nicht mehr. Es rinnt aus. Sie gehen aus sich heraus. Ihre Buschenschanken sind jetzt eröffnet. Sie passen einander und probieren sich als Paar. Dazu fehlt etwas. Sie scheinen sich ziemlich genützt zu haben. Spitzen sich zu wie beim Sport, wenn man plötzlich weit geschleudert wird. Größer! Höher! Schlanker! Die Türen der Menschen überwinden! Sie eintreten. Jetzt drinnensein. Zum letzten Mal schreit das Kind. Es kämpft mit seiner Ausscheidung. Jetzt hat es verloren! Es war zu kurz. Mit einem Plumps fällt es aus seiner neuen Körper Wohnung. Beim Sport kämpfen die Menschen. Und sie kümmern sich dabei um den Nachbarn! Damit er ihnen nicht vorkommt. Die Frau hat alles erzeugt. Sie schimmert vorlaut in ihrem Körperkleid. Das ist keine Leistung. Schmutzige Teller überall: Schuppen, die ihr von den Augen fallen. Sie wird bewohnt. Ihren Körper hat sie gleich mitgebracht. Sie braucht ihn. Auch das Turnkostüm. Damit sie darin weiterkommt. Sie steckt in mehreren Plastiksackeln, die eng um sie zugezogen sind. Ihrem weiblichen Geschlecht wird geschmeichelt. Schon macht es eine Bekanntschaft. Das Kind schreit nicht. Es hat keine eigene Wohnung mehr. Die Frau hat es aufgenommen: wie Dreck vom Boden. Sie wischt mit sich und ihrem Produkt. Abgetrocknet steht sie gleich wieder auf. Bereit zu neuerlicher Entnahme. Dieses Tuch ist schon wieder saugbereit. Sie schlürfen einander. Vor keinem müssen sie sich benehmen. Kein Kind mehr. Geschäft ist Geschäft. Sie sind ihre eigen Mauern, gemacht, um in sich einzukaufen. Sie bleiben sich nichts schuldig. Trinken gleich kuhwarm vom Euter. Es gibt Bessere als Mann und Frau. Und doch: Immer nur sie! Wühlen in sich herum, als sollten sie verschleudert werden. So billig kommen sie sich nicht davon! Sogar Kleidung paßt besser! Kein andrer würde sie nehmen. So billig bekommen sie sich. Das Kind hat so geschrien. Erschrocken vor Vergnügen. Jetzt Stille. Wer will teilen? Das Kind gegen die Wand geschleudert. Unsanft diese Wohnung. Die Menschen machen das Wohnen, nur sind ihre Vorwände zu hart. Sie sind nur sie selbst. Aneinander gewöhnt. Kein Grund, sich umzudrehn. Sie berufen sich ein. Letzte Rekruten. Verteidigen ihre Schrebergärten bis zum Letzten. Doch kein andrer will je hinein. Keiner macht sie einander streitig. Kein Grund, stolz auf sich zu sein. Kein Grund, der ihnen gehört zumindest. Schon gehören ihre Körper der Zeitung. Sie müssen sich zur Verfügung stellen. Es ist jetzt Morgen. In der Zeitung stehen sie still. Zittern wie Rehe. Jetzt gehören sie allen. Das Kind ist ein wenig niedergesaust. Ein paar Meter zumindest! Jetzt ist schon morgen, weil es in der Zeitung steht. Noch schnell gegen den Eingang klopfen! Nicht gut geschaffen sind Mann und Frau. Sogar Kleidung paßt besser! Am liebsten würden sie sich an der Kasse zurückgeben. Aber es ist jetzt morgen. Das Kind ein Haufen eigene Behausung. Beginnt schon zu faulen. Es hat mit dem Kopf, seinem Kissen, gegen die Wand geklopft. Keiner ist je gekommen. Das Kind ist jetzt auch weg. So gebären sie einander gegenseitig. Das nimmt kein Ende. Ihre Fensterscheiben beschlagen. Sie haben keinen Dunst von sich. Unermüdlich schaffen sie sich bis heute weiter. Dort wird ihr Leben geschrieben stehen! Stehen wieder wie Unbekannte voreinander. Lesen sich. Eigentlich sympathisch! Krieg! Krieg! Teile, selten im Freien zu sehen, werden angemietet. Wie besichtigt, so genehmigt. Sie werden verworfen. Diese verzogenen Glieder! Die werden noch von sich essen lernen!

Und wenn wir sie stundenlang am Tisch sitzen lassen! Aufgegessen wird! Danke für Ihren werten Gegenwert! Noch! Können Sie mir noch mehr von sich geben? Das Essen beinhaltet schon, daß man irgendwann mehr will. Sie suchen sich am Boden als Spur. Führen von sich weg. Beißen voneinander ab. Werfen sich fort. Das Kind ein einziger Abfallhaufen. Ein Prospekt, gratis ihnen beigelegt. Sie wollen alles, was hier draufsteht. Nach Anweisung der Zeitung gebraucht werden. Kein Körper ist bequem. Doch er bietet Bequemlichkeit für den andren. Gemütlichkeit! Dann muß man ihn ausziehen. Hier steht es doch! Heute ist schon morgen. Sie glauben, nie besser gewohnt zu haben. Und doch ist ein Reihenhaus wies andre. Hauptsache viele und oft! Mehr! Wer sind sie? Die Mauern des Kindes sind ins Innere gestürzt. Und sie stürzen gleich hinterher, die Menschen. Als hätten sie sich verloren. Ins Innere! Mehr! Mehr! Doch drinnen wie draußen: Taub. Es gibt keinen Unterschied. Es gibt keinen Unterstand. Hauptsache mehr! Es ist morgen. Mehrere Stunden liegen zertrampelt hinter ihnen. Es löst sich das Haus auf. Gewährt nichts mehr. Sie sind keine gültige Währung! Umso schöner die Wiese, wo sie voneinander weiden. Offen und laut etwas sagen. Mehr! Mehr Abdruck bitte! Her mit der Zeitung! Es ist morgen. Sie stehen hier und sind aus ihren Abdrücken verschwunden. Sie sind nicht dagewesen. Es war nicht.
ROMAN HAUBENSTOCK-RAMATI
"UNRUHIGES WOHNEN"
Das Wort "Wohnen" bedeutet bei Elfriede Jelinek "das Leben". Das ganze Leben spielt sich eigentlich zu Hause ab. Also: "unruhiges Wohnen". "Unerträgliches Leben". Direkt ist Jelineks Text mit der Musik nicht zu realisieren. Also kein Naturalismus. So gab es für mich nur die Möglichkeit, das Ganze zu poetisieren. Das was geschieht, diese schreckliche Tat, das Zerschlagen eines Kindes hat etwas von einem Alptraum. Und genau diese Dimension öffnet einen Raum für den musikalischen Zugang.
Zunächst also die Stimme und dazu einige poetisierende Klangschichten.

Jelineks Stimme: ohne Espressivo, wie das Lesen eines Krankheitsbefunds.

Eine Diagnose: ganz kalt, nicht zu schnell, nicht zu langsam. Bestimmte Pausen zwischen den Sätzen.

Dann der Versuch, mittels Elektronik, Computer und Synthesizer die Stimme zu verändern. Aufsplitterung der normalen Sprache in mehrere Schichten:
wie von fern: ganz leise, dann multipliziert.
Gewisse Sätze übereinandergesetzt, dann Klangveränderungen.
Einerseits auf eine männliche, harte Sprache hinaufgesteuert,
andererseits auf die Stimme des Kindes hinuntergesteuert.

Das gibt eine ganze Klangskala der Stimme, wobei ich sie quasi unterstreiche: durch Temporelationen, Schnitte, Rhythmisierungen, bis hin zu einem retrograden Ablauf der Sprache.

Wir haben also den Originalklang der Stimme mit verschiedenen Veränderungen, auch Verlangsamungen – das allein ergibt schon die Musik in sich selbst.

Alles wird Musik: auch das Wort. Es ergeben sich Mehrstimmigkeiten: nicht nur Sätze, auch Worte werden zerschnitten und übereinander geschichtet.

Die verschiedenen Stimmschichten sind schließlich umgeben von einer Hülle von Geräuschen und harmonischen Klängen, die zwischen secco, ganz secco und sehr, sehr weitem Hall liegen.

Die Suche nach einer 'richtigen' Musik resultiert schließlich im Versuch, der Sprache harmonische Klangwelten gegenüberzustellen. Zwei lange computergesteuerte Klangschichten.

Das alles für eine Kontinuität von 50 Minuten.

Aspekte des Traums: die Verwandlung der Stimme in männlich/kindlich ist gemeinhin nur vorstellbar wie innere Stimmen im Traum, aber daraus entwickelt sich nun eine Kunst-über-Kunst-Relation zu einer schrecklichen Sache, die umhüllt wird in eine Form, die diesen Prozeß am Rande der Unerträglichkeit zum Schluß als Teil des Lebens erträglich machen soll.

Kunst ist im Grunde dazu da, das Leben erträglich zu machen.

Und: es ist eine Art Sehnsucht in diesem musikalischen Ganzen.

Eine Sehnsucht nach Ruhe. Auch nach einem Kind.