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Ars Electronica 1991
Festival-Programm 1991
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Festival 1979-2007
 

 

Ein Hemd fährt einsam durch die Hölle
Jim Whitings "Unnatural Bodies"

'Jürg Laederach Jürg Laederach

Jim Whiting ist siebenunddreißig Jahre alt und kahl wie Yul Brynner. Ich lerne ihn in Klaus Littmanns Vierhundert-Quadratmeter-Raum kennen, da beugt er sich über den nebligen Bildschirm eines alten Computers. Unter seinen Fingern knacken die Tasten. Nichts wird so rasch museumswürdig, wie die älteren Stücke dieser Technik. Einige Stunden später treffe ich Whiting auf einem Hügel vor der Stadt. Er trägt ein einschlägiges Smoking-Derivat. Es besteht aus einem dunklen Anzug, unter dem er nur Haut zu tragen scheint. Wo ist sein Hemd hingekommen? War beim ersten Galeriebesuch die äußere Hausmauer über Littmanns Eingangstür leer gewesen und hatte demnach ein Zeichen des Hauses und der Ausstellung gefehlt, so war das beim nächsten Mal anders. Über der Tür (von fern war dahinter, im Dunkel der Bartheke, Littmanns berüchtigte, abgeschraubte Münchner Bahnhofsuhr sichtbar) hing ein verstümmelter roter Oberkörper, dessen beide Brustwarzen durch Elektrokästchen, möglicherweise Spulenbehälter ersetzt worden waren. Es war kein Oberkörper, höchstens eine Gußform in der Gestalt eines T, der Querbalken machte die Schultern, der Längsbalken das Rückgrat. An der Hüfte war Ende, ein Metallring schloß die Gestalt ab wie ein Gürtel. Tiefer unten kam nichts mehr. Keine Beine. Damit die Figur, die ohnehin nicht laufen konnte, nicht davonlief, war sie in einen Käfig gesteckt. Whiting hatte seinen Beinlosen eingesperrt. Der ruckte ein bißchen. Offenbar verblieb ihm Bewegung. Jede Bewegung entstand unter einem Schnappen und klatschenden Zischen. Dann stieß der Amputierte im Maschenkerker über Littmanns Tür ventilprustend etwas Druckluft aus.

Klaus Littmann, unversehrt, perfekt angezogen, von den Monstern unverwüstetes Hemd, ist ein begabter Visionär und einer der letzten authentischen Utopisten Basels, jener Stadt, deren Verhältnis zur Kultur sich (u.a. in der Alten Stadtgärtnerei) rapid trübt. Littmann fördert Whiting, der in einem Sattelschlepper seine Menschen- und Gliederbau-Materialien aus England herkarrte, sie an der Elisabethenstraße auslud und sogleich mit Lötkolben, Schweißbrenner und Druckluft ans Zeugen ging.

In einem wölfischen Roman der Mary Shelley läuft der Held zu einem Professor Waldmann nach Ingolstadt, ehe er hoch über dem Genfersee die "abgehackte Bewegung" erfindet. Dort steht sodann das Labor des Dr. Frankenstein. Der plündert die benachbarten Anatomiesäle, fertigt ein Ungeheuer aus Leichenteilen und haucht ihm aus dem Blitzableiter Leben ein. Whiting lebt, wie die Shelley, in der schwarzen Romantik der Homunculi und der schaurig-schönen Zahnstangenmonster. Der benützte Steuerungs-Computer ändert daran nichts: Whiting evoziert die Ära eines mechanischen, eher prärobotoiden Geister-Stammes. Es könnte sich um Autophagen handeln, Selbst-Verzehrer, die sich noch ein bißchen was antun, ehe sie verschwinden.

Whitings mechanisches Instrument sind abgeschnittene Stücke des "stärksten Feuerwehrschlauches, den es gibt". Sie montiert er zwischen zwei Stahlteile. Das Schlauchstück ist schlaff: dann stehen die beiden Stahlteile z.B. rechtwinklig zueinander. Ein gesteuertes Ventil öffnet sich, eine Leitung preßt Druckluft ins Schlauchzwischenstück: die beiden Stahlteile rasen aus dem rechten Winkel und bilden zum Schluß, mit dem straffen Schlauch, eine Gerade. Whiting nennt die schlaff-straffen Schlauchteile "Muskeln", nämlich "muscles", wenn er sich an sein Englisch erinnert, oder "Musklä", wenn er in der Sprache seiner Berner-Bündner Mutter spricht.

Eine der bösartigsten, glänzendsten Ausstellungen seit langem. Man betritt sie durch eine vergitterte Röhre, so, wie Raubtiere im Zirkus in den Käfig tigern. Hinter den Gittern: neue Ungeheuer, zuckende Muskeln, schnappende Verschlüsse, grob geschmiedete stählerne T-Träger. Die Figuren sind zu Rümpfen, oft einzelnen Gliedmaßen verkommen, werden bisweilen in Gruppen von Halb-Intakten zusammengestellt, die an die Mechanik und an die ausgezahnte Gestalt des universellen Zeitgenossen erinnern.

Das Angenehmste im Schrecken ist Whitings absolute Sparsamkeit der Zeichensetzung: es wird jeder physiologische, anthropomorphe Ausdruck des Materials nur einmal gezeigt: bereits bei der nächsten Figur oder deren Fragmenten trifft man auf eine Ableitung: von der Vor-Figur her ist die Identifikation noch da: ich zwinge mich gequält, auch im letzten zuckenden Glied- und Körperrudiment noch einen Menschen zu sehen; zwei Schritte weiter wird sich diese Identifikation mit noch weniger Anlaß zufriedengeben müssen. Am Ende der vergitterten Röhre stehe ich in Littmanns Großraum, und die danse macabre verdichtet sich spastisch, stampfend, krumm kriechend, hängend, knallend zu dem Schrei, der einem Francis Bacon eine lebenslange Beschäftigung wert war, in dem aber Whiting – der jede Beziehung zu einer Tradition, Klassik, Richtung usw. zurückweist – allenfalls das Gelächter des technischen (und bereits wieder technik-löschenden) Weltgeistes erblickt. "Na hör mal, so kriechen doch alle, so strengen sie sich an, jeder an seinem Platz, zuckt ein bißchen mit seinen muscles, Musklä." Nach der Frage, was die Figuren oder ihre Stümpfe, angenommen, es gebe Seele, für eine Psychologie hätten, weiß er. "Ist doch klar. Sie strengen sich an. Ich zeige den ständigen Versuch, die Anstrengung, how they try."

Zwei zerschlissene Fräcke hängen leblos an T-Haken, durch ein Loch im Ärmel die geschweißten Knochen sichtbar. Ein rampant man, ein an einem Ausleger aufgehängter Kriecher mit guillotiniertem Kopf versucht mit dem Halsstummel eine Frau zu penetrieren. Sie kann leichte Schienbeinbewegungen ausführen. Ihr Luft-Ausstoßen ist unabhängig von der geschärften Berührungs-Hand eines weiteren Bruch-Mannes, der auf ihren mit Schaumstoff markierten Oberkörper loswill. Die Schlauchventile der Ungeheuer zucken mit einer Energie von etwa 5 PS. Whiting und Thomas Scholz, sein Assistent, wurden mehrmals von ihnen verletzt und haben sie fürchten gelernt: Die Gitter vor diesen Wunden schlagenden Schwerverletzten sind mehr als Spielerei. Das Zufallsmoment, das ihren Bewegungen innewohnt, kann die Bewegungsbahn jederzeit anders lenken, und eine hervorschießende Hand oder Kniescheibe kann jeden Betrachter gleich live in eine Whiting-Figur verwandeln. Das Herzstück der Ausstellung findet im abermals umdrapierten Gitter statt: diesmal ist es eine immense Wanne, worin das mörderische Marionettentheater dreiviertelmobil an seinen Nabelschnüren und Luftzufuhren tanzt.

Ein einsames, hämisches Kunstglied erigiert an einem Holzpfeiler. An seiner Spitze ein schwarzer Saugnapf. Ein einsamer Unterarm (oder ähnlich) beugt den Ellbogen und hüpft ziellos über den Boden. Er fühlt sich etwa zu gleichen Teilen als Publikumsmagnet und als Publikumsschreck. Schläge in die Fresse können freundliche Aufforderungen sein. Doch: so nahe wagt sich ohnehin niemand heran.

Inmitten pendelnder Hängeleuchten steht Helfer Scholz im Halbdunkel an der Drehbank und schweißt die Walpurgisnacht weiter. "Je mehr Figuren kaputtgehen, desto öfter kann ich sie verbessern. Noch vier Tage, und die Ausstellung ist doppelt so gut!" An der Wand hängt Martyr Pig, schwarzer Anzug, Oberarm und Beinknochen stechen durch das Tuch, er watet und streckt die Arme aus. Ein Skelett im Sonntagsanzug, kein Zentimeter Fortschritt. Ich schreie mit dem Gemarterten. Whitings Hemd entdecke ich jetzt. Es fährt hinter einem geflochtenen Reisekoffer und einem Farn im Topf als dritter Waggon über eine Deckenschiene: an einem den Raum umspannenden Transportseil durch die satirische Hölle. Das Seil kann sich senken, dann fährt mir das leere Einzel-Hemd wie ein gehängtes schottisches Schloßgespenst übers starrende Gesicht. Es riecht, Menschenrest, nach leichtem Schweiß, während hinter der kopfschleudernden Vierergruppe fremdbestimmter Stummelprokuristen aus einem Injektionsrohr Maschinenöl in ein poliertes Wännchen tropft.

Klaus Littmanns Münchner Bahnhofsuhr steht vorn im Café. Auf ihre Rückwand ritzte Daniel Spoerri: "Think Big". Littmann las das so lange, bis er jetzt, mit Jim Whiting, sein bisher Größtes schuf. Die Exponate sind der Knüller der Saison; da geht eine Karriere ganz fürchterlich steil hoch. Köln und Berlin, Mailand und Glasgow haben gebucht. Vielleicht stellt Jim Whiting auch dort, wie bei Littmann, sein Bett zwischen die Ausgeburten und schläft jede Nacht bei ihnen. An einer Stelle sagt Mephistopheles: Am Ende hängen wir doch ab – von Kreaturen, die wir machten.

Dieser Text erscheint mit freundlicher Genehmigung der Galerie Littmann, Basel. Zuerst abgedruckt im Jim Whiting Katalog der Galerie, und in der "Weltwoche" am 26. Mai 1988.