Die Würde des Lichtspiels ist unantastbar
'Manfred Riepe
Manfred Riepe
Die Metamorphose der politischen Filmzensur, die optische Vivisektion des Ich und das Unbehagen an der Kinematographie I. TONBANDSTIMMEN Die Handlung von Samuel M. Raimis "The Evil Dead" (1983) ist einfach, aber nicht simpel. Fünf amerikanische Jugendliche werden während ihres Urlaubs auf einer tief im Wald gelegenen Blockhütte nacheinander von "dämonischen Kräften" heimgesucht, die ihre Leiber entstellen und in blutrünstige Wiedergänger verwandeln. Ausgelöst wurde das Debakel durch (un?)sachgemäße Handhabung eines im Keller gefundenen Tonbandgerätes. Die elektromagnetisch konservierte Stimme eines Archäologen, der die Abgeschiedenheit der Hütte für seine Arbeit aufsuchte, berichtet vom Fund eines mysteriösen Buches. Indem der Archäologe einen darin enthaltenen "Zauberspruch" auf Band spricht, wird er unmittelbar zum Opfer der ans Aussprechen gebundenen Wirkung. Er wird bis auf seine Aufzeichnung vernichtet, buchstäblich. Zurück bleibt die aufgezeichnete Vernichtung, die Vernichtung als Aufzeichnung. Verhängnisvoller Medientransfer.
Für die ahnungslosen Zuhörer bedeutet das Abhören des Tonbands die Wiederholung der Misere. Via Tonband geht die "ungefährliche" stille Lektüre des Zauberspruchs verloren. Der Mechanismus der automatisierten Stimme vernichtet die der Aufzeichnung eigene Distanz: diejenige Distanz, die die Spaltung zwischen Subjekt und Objekt erst ermöglicht. Die Symbolfunktion wird okkupiert durch die unmittelbare Exekution des Bedeuteten.
Die Passivität des Zuhörens (gegenüber dem aktiven Moment der Lektüre) führt daher zum Ausfall der Reflexionsfähigkeit über das Gehörte. Sie wird zum Sinnbild der Passivität gegenüber einem Mechanismus: Im Moment des Zuhörens werden die Jugendlichen unmittelbar von dem affiziert, was erzählt wird. Die Geschichte vom Tondband vollendet sich im Zusammenspiel der Akteure mit dem Gehörten. Ihre Körper werden zum Schau-Platz der Geschichte, die über sie hereinbricht, buchstäblich: spell-bound, der Fluch.
Dieses In-die-Geschichte-Hineingezogenwerden wird dargestellt als elementarer Verlust instrumentellen Handelns. Einmal ausgelöst, funktioniert der Film nach dem Motiv des umgekehrten Exorzismus. Der entfesselte diabolus ex machina trennt die rationale Ordnung von Raum und Zeit auf wie die Maschen eines Strickpullovers. Dinge und Menschen sind nicht mehr das, was sie zu sein vorgeben. Unschuldige Studenten verwandeln sich in seelenlose Killermaschinen, die selbst dann noch funktionieren, wenn sie in Einzelteile zerlegt werden.
Der Kontrollverlust wird im Film autopoetisch reflektiert. Durch seine Machart wird dem Zuschauer im Kino suggeriert, er befände sich dadurch, daß er diesen Film schaut, in derselben Lage wie jene Teenager, die im Film dargestellt werden. Was durch einen einfälligen Kunstgriff erreicht wird. Das "Böse" als identifizierbare Instanz ist in dieser Geschichte nicht enthalten; es ist subjektlos und wird paradoxerweise durch die subjektive Kamera repräsentiert, die über den Waldboden schießt und dabei sogar Bäume umknickt. Die übersteigerte Geschwindigkeit dieser (oft zitierten) Kamerafahrten bringt jedoch nur das Prinzip zum Vorschein, das jeder Kamerafahrt zugrunde liegt: Die Übernahme des Blicks durch ein technisches Medium.
Filmisch wird diese Selbstthematisierung wiederum dargestellt, indem der unproblematische Bezug jener typischen, "sympathischen" amerikanischen Jugendlichen zur Wirklichkeit zu einer anscheinend nie versiegenden Quelle des Schreckens wird: Die kleine Blockhütte wird zum gigantischen Labyrinth, der umgebende Wald zur nach Flüchtenden grapschenden Dornröschenhecke, und die Dämonen kichern mit verfremdeten Tonbandstimmen:
"Auf dem Höhepunkt zerstückelt die Schnittechnik die Bilder so, daß oben und unten, fern und nah, dort und hier nicht mehr getrennt wahrgenommen werden können. Alle Mittel, die wir haben, um uns zu orientieren, ob Wasser oder Spiegel, Boden oder Luft, Gegenstand oder Bild, sind in Auflösung" (Helmut Hartwig, 1986). Die im Verlauf des Films entwickelte Zwangsläufigkeit, ja die Zwanghaftigkeit des Schicksals der Protagonisten setzt sich in der Wahrnehmungssituation des Zuschauers fort. Was die ästhetische Struktur des Films autopoetisch reflektiert, ist die Urteilsfähigkeit des Zuschauers: Das zugrundeliegende Prinzip, das damit extrapoliert wird, ist, "daß die Doppelperson Jeckyll/Hyde im Splatterfilm nicht mehr auf der Leinwand existiert, sondern über die subjektive Kamera in den Zuschauer hineinprojiziert wird" (Stresau, Norbert 1987).
Subvertiert wird damit das Medium als solches. Was nicht folgenlos blieb. II. DAS MEDIUM SCHLÄGT ZURÜCK Im Oktober 1983 erwirbt der Münchner Verleih "Prokin" die Lizenz zur Verbreitung des Films unter dem deutschen Titel "Tanz der Teufel". Am 10. Februar des Orwell-Jahres startet der Film mit nur 12 Kopien in deutschen Kinos. Weitere 30 Kopien werden umsonst gezogen, denn am 6. Juli wird seine bundesweite Beschlagnahme von der Staatsanwaltschaft München verfügt.
Dabei war die Prüfung durch die Freiwillige Selbstkontrolle anfangs negativ ausgefallen. Mit der Auflage von vier Schnitten konnte der Film "ab 18 Jahren" freigegeben werden. Trotz der Weigerung des Verleihers, den Schnittauflagen nachzukommen, hatte die FSK "Tanz der Teufel" am 25. November 1983 die Unbedenklichkeit gegenüber Paragraph 131 StGB (1) bescheinigt: "Zwar bringt der Film eine Fülle von Gewalttätigkeiten zur Darstellung, die objektiv zum Teil in brutaler und unmenschlicher Weise geschildert werden (…)". Der Tatbestand der "Gewaltverherrlichung und Gewaltverharmlosung" ist jedoch nicht erfüllt, weil sich die Gewalt laut FSK nicht gegen "Menschen" richtet: "Das äußere Erscheinungsbild der von der bösen Naturmacht okkupierten Menschen ist so sehr gespenstischen Fabelwesen nachgebildet, daß ein Vergleich dieser Kreaturen mit menschlichen Wesen als Lästerung des Menschengeschlechts empfunden würde".
Am 12. Juli 1984 begründet Richter Straßmeier vom Landgericht München die Beschlagnahme von "Tanz der Teufel" jedoch wie folgt: "Es handelt sich dabei auch um Gewalttaten gegen Menschen (…). Aus dem Gesamtzusammenhang des Films ist eindeutig zu erkennen, daß diese Wesen die 3 am Anfang gezeigten Mädchen darstellen (…)".
Über den durch Artikel 5 des Grundgesetzes gesicherten Kunstvorbehalt urteilt der Jurist: "(…) der Film (enthält) nur eine Aneinanderreihung von einzelnen Gewalttaten ohne eine sinnvolle Rahmenhandlung, so daß auch nicht von einem Kunstwerk gesprochen werden kann und somit der Kunstvorbehalt nicht greift". Da diese Aussage auch ein ästhetisches Urteil und als solches per definitionem niemals unanfechtbar ist, bedurfte es buchstäblich einer Monopolisierung der Kunstbewertungslizenz auf seiten der Justiz. Um gar nicht erst in eine Debatte über die in Artikel 5 des Grundgesetzes garantierte Kunstfreiheit zu geraten, wird seitens der Staatsanwaltschaft dem Urteil von Fachleuten generell die Kompetenz entzogen: "Abzustellen ist bei der Bewertung nicht auf die Meinung von Filmkritikern (…), die durch die ständige Betrachtung derartiger Filme an die gezeigten Gewalttaten bereits gewöhnt sind (…)", so der Staatsanwalt am Landgericht München 1 in einem nicht namentlich gezeichneten Brief an die Firma Prokino vom 20.9.1984.
Um den Tatbestand im Sinne des Paragraphen 131 zu erhärten, insistiert die Rechtssprechung darauf, daß die im Film dargestellten Dämonen Menschen sind: "Nach dem Willen des Gesetzgebers sollen unter dem Begriff 'Menschen' auch menschenähnliche Wesen verstanden werden, wie sie in Videofilmen als 'Zombies' oder ähnliche Wesen vorkommen". Aus der Sicht des Landesgerichts heißt es daher, daß, selbst wenn man dem Film überwiegend künstlerische Darstellung zubilligen würde, jedenfalls die Kunstfreiheit hinter die Menschenwürde anderer zurücktreten müßte".
Dadurch steht nach Ausschöpfung rechtsstaatlicher Mittel jede Kunstdebatte (über Gewaltdarstellung) von vornherein auf verlorenem Posten. Durch die Diskreditierung des pluralistischen Prinzips ästhetischer Bewertung sowie das Gegeneinander-Ausspielen von Kunstfreiheit und Menschenwürde erreicht die Jurisp(r)udenz eine instanzenübergreifende Macht. Über ästhetische Belange fällt sie juristische Urteile. Daß der Film erstens keine Kunst ist, (2) weil darin Wesen zerstückelt werden, die zweitens "menschenähnlich" sind – dies sind zwei ästhetische Urteile. Die Besonderheit des geschilderten Rechtsstreits ist, daß ein subjektives ästhetisches Urteil die Grundlage der objektiven Rechtssprechung bildet. III. VON DER POLITISCHEN ZUR ÄSTHETISCHEN ZENSUR Das geistige Klima, dessen Kind die FSK ist, so Malte Ludin in "Keine Experimente" (30.1.91, ZDF), verdankte sich erheblichen personellen Altlasten aus der NS-Vergangenheit, die als Fachkräfte beim ("Wieder"-)Aufbau der Bundesrepublik gebraucht wurden. Der kalte Krieg gegen den Kommunismus machte insbesondere vor dem propagandawirksamen Zelluloid nicht halt. Als Spitze des Eisbergs wurden nahezu alle Defa-Filme aus der damaligen DDR verboten – ja selbst polnische Filme, in denen die "Sowjetzone" als "DDR" bezeichnet und die ansonsten vollkommen "harmlos" sein konnten.
Mit der Liberalisierung, die es seit 1972 erlaubt, Filme mit der Kennzeichnung "ab 18 Jahren" auch ohne FSK-Vorlage öffentlich aufzuführen, geht jedoch 1973 unmittelbar die Verabschiedung einer neuen gesetzlichen Handhabe einher, die es fortan dem Staatsanwalt ermöglicht, jeden Film zu verbieten, sofern der Tatbestand des Paragraphen 131 StGB (ästhetisch) nachweisbar ist.
Mit dieser gesetzlichen Handhabe sollte ursprünglich dem Wiederaufkeimen von Neonazitum und dessen öffentlichem Aufruf zum Völkermord begegnet werden. Es ist aber kein Zufall, daß die Verabschiedung dieses Gesetzes exakt mit dem Boom des "Spaghetti-Westerns" zusammenfällt. Im bislang üblichen Hollywood-Western werden "serielle Unmenschen" (Indianer) maschinell niedergemetzelt: "Der Mann fällt vom Pferd, aber er fällt nicht gleich auseinander" (Helmut Hartwig). Daran störte sich keiner, bis der Italowestern plötzlich die Lupe vor vormals antiseptische Einschußlöcher hielt. Sergio Corbucci und Sergio Leone entlarvten den visuellen Hedonismus des Traumfabrik-Westerns.
Lange verbotene Film wie Rosselinis "Rom – offene Stadt" und Bergmans "Das Schweigen" wurden zu dieser Zeit demonstrativ als "Kunstwerke" rehabilitiert. Die Praxis der politisch motivierten Zensur konnte jovial als Kinderkrankheit abgetan werden. Mit dem kalten Krieg, der Studentenbewegung 1968 sowie den Ostverträgen der sozial-liberalen Koalition und dem spätestens damit eingeleiteten Verlust der Feindbilder ging ohnedies das "Zeitalter der Politik" zu Ende.
Der Austragungsort politischer Auseinandersetzung verschwindet scheinbar. Die konkrete Identifizierung politischer Kräfte wird zunehmend durchwirkt durch die Ebene der Informationsverbreitung. Am deutlichsten ist dieser Sprung bei den radikalen politischen Bewegungen zu spüren:
"Indem sich die RAF auf eine Auseinandersetzung mit dem Apparat eingelassen hat, zu einer Zeit, als es eigentlich schon um eine Auseinandersetzung auf der Informationsebene hätte gehen müssen, um propagandistische oder agitatorische Momente, (…) hat sich die RAF in eine antiquierte Position begeben. (…) Wir haben damals einen Konflikt der Hardware geführt, wo in Wahrheit schon der "Kampf der Software lief" (Ex-RAF-Mitglied Peter Jürgen Boock in "Freistil", WDR 1990).
Die Verabschiedung des Paragraphen 131 (3) leitet über ins Zeitalter der Massenmedien, den "Kampf der Software". Die skandalöse Wirkung, die der "Gewaltfilm" in Deutschland zu Beginn der 80er Jahre erzielte, resultiert aus der Verkennung der medientechnologischen Revolution. Als im Zuge der feldzugartigen Invasion des zwischen 1980 und 1984 boomenden Video-Abspielgerätes (4) plötzlich in jedem deutschen Kinderzimmer ein "Zombie am Glockenseil" zu hängen schien, lieferte der hysterische Proteststurm der Mafia der Sozialpädagogen das gewünschte Zensurmotiv. Das methodisch nicht abgesicherte, unscharfe Bild, das zwischen auflagenstarken Printmedien, Fachzeitschriften und emotional aufgeladenen TV-Diskussionen zirkulierte, basiert auf der irrationalen Verquickung eines außer Kontrolle geratenen technischen Distributionsmediums mit einer moralisch sanktionierten Sorte von Filmwerken. Das Ergebnis sind in ihrer Unlogik medienpolitisch aufgeladene Mischbegriffe wie "Horrorvideo" oder "Videofilm", die Zelluloid und Magnetband nicht differenzieren. Sinnfälligerweise wurde auch der Film "Tanz der Teufel" erst nach seiner Veröffentlichung auf Video verboten. IV. GUILTY PLEASURES IN TEXAS Wer sich ein Bild von "diesen" Filmen machen will, begibt sich in eine kriminalisierte Grauzone. Dabei handelt es sich um nicht mehr als ein paar Dutzend in der Regel unterschätzter Werke, die den Mythos des "Horrorvideos" begründen. Hershell Gordon Lewis gilt als der "Erfinder" des modernen Horrorfilms ("Blood Feast", 1963). So wie das Trauma der atomaren Bedrohung sich in den Monsterfilmen der 50er artikulierte, bildete George A. Romeros "Night of the Living Dead" (1968) den Kommentar zu den grausamen Bildern des ersten Medienkriegs in Vietnam.
Mit bizarrem Humor und auf irritierend undramatische Art präsentiert dieser S/W-Film eine außer Kontrolle geratene subhumane, maschinengleiche Armee von Untoten, die in Vietnam nicht richtig beerdigt wurden: Zombies. Es herrscht tranceartige Bürgerkriegsstimmung. Brave Familienväter holen die Gewehre aus dem Schrank, bilden Bürgerwehren und gehen auf Treibjagd, als ob sie auf nichts anderes gewartet hätten.
Der psychopathologische Feinmechaniker David Cronenberg entwirft in "Videodrome" (1982) die Vision einer medientechnologischen Massenpsychose, die den Menschen als kybernetisches Substrat ("das neue Fleisch") okkupiert. Von "Handarbeit, sozusagen von der Revolte der Manufaktur gegen die Mechanisierung der Zelluloid-Fleischindustrie, berichtet auch Tobe Hoopers unerreichter Klassiker "The Texas Chainsaw Massacre" (1972). Drei Hippies und ein Krüppel werden von einer kannibalischen Metzgerfamilie tranchiert und zu preisgekröntem Chili verarbeitet.
Dieser archetypische Gewaltfilm beginnt sinnfälligerweise mit einer ironischen Hommage an die konventionelle Weise, Grauenhaftes nur durch Andeutung darzustellen. Die schwarze Leinwand hinter den Credits wird durch kurze, blitzlichthafte Spots erhellt, deren Nachbilder in den Köpfen der Zuschauer als vermoderte Leichenteile imaginiert werden. Das Prinzip Andeutung (5) wird jedoch jäh unterbrochen. Die stroboskophafte Bildfolge stabilisiert sich bald zum konstanten Bild einer bizarr montierten Skulptur aus ausgegrabenen Leichenteilen und demonstriert so das Thema des Films: "Zerhackung oder Schnitt im Realen, Verschmelzung oder Fluß im Imaginären" – die ganze Forschungsgeschichte des Kinos spielt nur "dieses Paradox durch" (Kittler). Zerhackt werden Leiber (mit der Kettensäge) sowie deren Bilder (vom Kinematographen). V. DIE MECHANISIERUNG DES BLICKS UND DAS UNBEHAGEN AN DER KINEMATOGRAPHIE Die inkriminierten Filme leisten eine mehr oder weniger explizite und zugleich unliebsame Analyse des Mediums. Die autopoetische Struktur des Splatter-Movies ist eine gelungene Karikatur der Identifikationslust des Zuschauers. Der so verpönte Lacheffekt vermeintlich "abgestumpfter" Zuschauer angesichts des Puzzles dampfender Gedärme ist im Sinne der Freudschen Witzdefinition eine Befreiung. Der Witzeffekt verdankt sich jener Abfuhrlust, die mit dem überraschenden Ausfall einer sinn- bzw. zwanghaften Struktur einhergeht. Was lachend aufgelöst wird, ist die unwillkürlich gewordene Identifikation mit dem Bild bzw. der Leinwand. Lachen angesichts des "Kettensägenmassakers" setzt demnach eine elaboriertere Haltung voraus als die des Schreckens oder die Übelkeit: Der Lachende erkennt das Bild als Bild, der eitel Geschockte bleibt im Bild gefangen: Fällt das Urteilsvermögen aus, so muß der Spiegel erst zum Zerrspiegel werden, um die Differenz des Subjekts zur Leinwand wieder herzustellen. Da die "eitele Schockierung" letztendlich die Grundlage für das Zensurmotiv liefert, bleibt die Frage, aufgrund welcher strukturspezifischen Voraussetzungen das Lichtspiel beim Subjekt überhaupt eine derartige Identifikationslust erzielen kann. Die kinematographische Illusion basiert ebenso wie die natürliche optische Wahrnehmung des Menschen auf der Montage von Einzelbildern. Im Kino, der Physiologie – auch in der psychischen Repräsentanz der Wahrnehmung – entsteht das singuläre Bild immer nur en passant, und zwar als Vortäuschung (Imagination) einer zeitlos in sich stabilen Figuration. Netzhaut und Film erwecken zwar den nicht zu leugnenden Eindruck eines ständigen, ununterbrochenen Reizempfangs. Es handelt sich dabei jedoch um eine für die optische Wahrnehmung konstitutive Täuschung. Faktisch verhält es sich so, daß unsere Augen – im Kino ebenso wie bei jeder beliebigen optischen Wahrnehmung stets einer intermittierenden Serie von Einzelaufnahmen ausgesetzt sind, die durch entsprechend kurze Intervalle voneinander getrennt sind.
Also auch – beziehungsweise gerade bei der Beobachtung ruhender Objekte vollführen die extrinsischen Muskeln winzige, schnelle, unwillentliche und zumeist nicht wahrnehmbare Bewegungen des Auges. Diese unwillkürlichen Bewegungen zerhacken die Welt um uns in Einzelbilder. Was wir als von der Zeit unabhängig präsente Welt erachten, kommt durch dieses "Hirnkino" erst zur Erscheinung. Wird der Mechanismus mit einem anderen gleichgeschaltet, so verschwindet die Wahrnehmung: Mit Hilfe einer entsprechenden Versuchsanordnung (siehe Abbildung) läßt sich das Abbild eines Musters konstant auf eine Stelle der Netzhaut fokussieren: "Reizmuster, die mit diesem stabilisierten retinalen Bild betrachtet werden, erscheinen zunächst scharf, beginnen aber sofort zu verblassen, bis sie verschwinden und ein homogenes graues Feld hinterlassen" (Krech/Crutchfield, Weinheim 1985).
Sofern also das Stillhalten des Bildes den Bedingungen widerspricht, unter denen dieses – als stillgehaltenes – erst zur Erscheinung kommt, existiert das, was wir unproblematisch unter Einzel- bzw. Standbild verstehen, in der Tat nur als differentielle Serie sich unablässig in wechselseitiger Abgrenzung konstituierender Wahrnehmungsreize. Erst die serielle Synthese dieser Reize als Spur erzeugt im Nachhinein jenen Effekt, den wir "Bild" nennen. Der Apparat liefert uns Bilder nur im Zuge einer quasi-epileptischen Bewegungsnot (der Augen).
Die technische Analogie zwischen Kinematographie und optischer Wahrnehmung bliebe zufällig, setzte sie sich nicht bis in die Struktur des Ich hinein fort. Auch das Ich besteht nach Freud aus einer nur diskontinuierlich präsenten Struktur. Das Ich ist nicht einfach in unproblematischer Weise gegeben. Es besteht darin, daß es permanent erhalten bzw. "unterhalten" wird: "Wo Es (gerade noch) war, soll ich (immer wieder) werden". Das Ich verwirklicht sich im Vollzug einer differentiellen Serie narzißtischer Identifikationen und Realitätsprüfungen. Für jede einzelne dieser Identifikationen gilt, was für die Seinsweise des Einzelbildes auch gilt. Das singuläre Bild, die einzelne Selbstwahrnehmung, hat nur je als vorübergehende Bestand im kontinuierlichen Bewegungsfluß der Reihe. Ohne diesen Bewegungsfluß gibt es kein Bild und damit auch kein Ich. Rezeptionsform und Subjektivität sind daher strukturhomolog.
Die Freudsche Narzißmustheorie und deren Radikalisierung durch Lacan im "Spiegelstadium" erklären die Feinmechanik des marxschen Satzes: "Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewußtsein". Sofern "der Regisseur" – nach einer sprichwörtlichen Auslegung Bela Balázs' – "dein Auge führt", indem der Kinematograph sich der Bewegungsnot der Augen sowie deren intrapsychischem Pendant: der "Quadratur der Ichprüfungen" (Lacan) substituiert, paralysiert die damit mechanisierte Ichbildung die – subjektive – Autonomie des Subjekts. Die kinematographische "Urszene" war folglich mit einer Übersprungshandlung verbunden: "Bei der Vorführung von Louis Lumières "L'arrivée d'un train en gare", 1895, raste die Lokomotive vom Hintergrund der Bildwand her auf die Zuschauer zu, die vor Schreck aufsprangen, weil sie fürchteten, überfahren zu werden. So sehr identifizierten sie ihr eigenes Sehen mit dem des Apparates: die Kamera wurde zum erstenmal handelnde Person des Geschehens" – (Georges Sadoul). Als die Bilder laufen lernten, verlernten es die Augen. (6) Die Nach-Außen-Stülpung des Psychismus auf der Kinoleinwand bedeutet eine "mentale Vivisektion" – Die Tatsache, daß ein Apparat für uns sieht und psychische Funktionen simuliert, bewahrt einen Rest von etwas unerklärbar Bedrohlichem, latente Gefahr. Bewegte Bildgeschichten werden seither nur unter der Bedingung als künstlerisch akzeptiert, daß der Phantasie genügend Raum zur Ergänzung der Bilder verbleibt. Aus einem Unbehagen an der Kinematografie heraus wurde die Andeutung eines Verbrechens oder einer physischen Bedrohung gegenüber deren konkreter Abbildung bevorzugt: Murnaus "Nosferatu" ist seit "Caligari" der erste Film, der uns das Gruseln nicht mit lächerlich verzwickten Qual- und Mordmaschinen lehren will, wo wir nicht vor den gefährlichen Möglichkeiten der Technik, sondern vor den unbekannten Mysterien der Natur Angst bekommen"
(Balász 1924). Das im Dunkel des Kinosaals vielstimmig überlagerte Rattern des Projektors kehrt im Motorengeräusch der Kettensäge wieder. Balázs' "lächerlich verzwickte Qual- und Mordmaschinen" sind im Splatterfilm simple Haushalts- und Gartengeräte. Ein motorgetriebenes Holzfällerwerkzeug ist seit Tobe Hoopers "The Texas Chainsaw Massacre" das archetypische Symbol des Gewaltfilms. Splatter- beziehungsweise Terror-Movies, in denen Leiber als das behandelt werden, was sie faktisch sind: Bilder, sind entlarvende Selbstportraits des mechanisierten Sehens. Der "Schnitt" in seiner automatisierten Dimension findet samt zirkulärem Transport der Bilder in der Kettensäge eine schneidend scharfe bildliche Entsprechung. "Zwischen den Bildern" heult die Kettensäge. VI. "DAS ORNAMENT DER MASSE" Der Grund, Filme wie "Evil Dead", "Texas Chainsaw" oder "Videodrome" zu verbieten, ist folglich weniger in einem ethischen Anliegen als vielmehr in deren subversiver, zersetzender Wirkung auf gesellschaftlich erwünschte Weisen des Sehens zu finden. Der Identifikationszwang mit der Leinwand ist ein neues Machtdispositiv, das sich über die spezifische Massenwirksamkeit der Kinematographie konstituiert. Die Kinobesucher, so Edgar Morin, reagieren auf die Leinwand wie auf eine mit dem Gehirn fernverbundene, "nach außen gestülpte Netzhaut". "Die Unterhaltungsindustrie", so Roger Willemsen (in: Merkur Nr. 432), verwendet "alle Energie darauf, die Menschheit von einer möglichen praktischen zu einer theoretischen Größe zu reduzieren"; sie bekehrt die Menschheit zu Zuschauern. Erst unter diesen Voraussetzungen wird Politik endlich souverän (…). Die Massenwirkung der Filme ist staatstragend. Ihr reales Pendant ist eine "Demokratie ohne Demos".
Gewaltzensur ist folglich nur das Symptom dafür, daß Subjektivität mehr und mehr als Funktion einer in spezifischer Weise unkritischen Rezeption von Bildern definiert wird. Unkritisch insofern, daß ihre Hinterfragung ermöglichende Übersetzung in verbale Sprache unterminiert wird. Das wachsende Unvermögen, Bilder in Sprache rückzuübersetzen, (7) definierte Freud als pathologisch, um gleichzeitig dieser Übersetzungsarbeit im Sinne seiner psychoanalytischen Kur Vorschub zu leisten:
"Ist einmal ein Bild (d.h. eine Zwangsvorstellung) aus der Erinnerung aufgetaucht, so kann man den Kranken sagen hören, daß es in dem Maße zerbröckle und undeutlich werde, wie er in seiner Schilderung desselben fortschreite. Der Kranke trägt es gleichsam ab, indem er es in Worte umsetzt" (Freud, 1895b). Die "eitele Schockierung" indessen bildet ein zusehends entsprachlichtes, für Manipulationen offenes Rezeptionsverhalten. Die autopoetische Struktur des Splattermovies bedeutet ein Stückweit Rückgewinnung von Sprache und damit auch eine Emanzipation von einer bewußtlosen Rezeptionsweise.
Der inkriminierte Angriff auf den menschlichen Zelluloid-Leib, also diejenige Gewaltdarstellung, die außerhalb der Kontrolle des "gemeinsamen Einverständnisses von Filmemachern und Publikum" stattfindet, so "daß der erzeugte Schauder" (…) auf der Basis akzeptierter Konventionen (…) im Endeffekt (als) furchtlösend verstanden wird" (Rowohlt Filmlexikon), ist ein Angriff auf eine staatstragende Instanz. Das Grundgesetz wird daher zum Gesetz zur Reinhaltung der Filmästhetik; FSK und Nachzensur über Paragraph 131 bieten die gesetzliche Handhabe, Leinwände, Bildschirme und (Bild-)Körper von mediensubversiven, medienzersetzenden Gewaltdarstellungen "sauber" zu halten. Das siamesische Spiegelbild des Menschen darf nicht geschunden werden. Je mehr die Würde dem hierdurch als passiver Zuschauer funktionalisierten Subjekt abhanden kommt, umso rigider muß diese Würde "nach dem Willen des Gesetzgebers" menschenähnlichen Wesen wie sie in Videofilmen als 'Zombies' vorkommen, zugesprochen werden. Die Würde des Lichtspiels ist unantastbar.
(1) Paragraph 131, Strafgesetzbuch: "Gewaltdarstellung und Aufstachelung zum Rassenhaß": Wer Schriften (Paragraph 11 Abs. 3), die zum Rassenhaß aufstacheln oder die grausame oder sonst unmenschliche Gewalttätigkeiten gegen Menschen in einer Art schildern, die eine Verherrlichung oder Verharmlosung solcher Gewalttätigkeiten ausdrücken oder die das Grausame oder Unmenschliche des Vorgangs in einer die Menschenwürde verletzenden Weise darstellen, verbreitet, öffentlich ausstellt, anschlägt, vorführt oder sonst zugänglich macht, einer Person unter 18 Jahren anbietet, überläßt oder zugänglich macht oder herstellt, bezieht, liefert, vorrätig hält, anbietet, ankündigt, anpreist, in den räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes einzuführen oder daraus auszuführen unternimmt, um sie oder aus ihnen gewonnene Stücke im Sinne der Nummern 1–3 zu verwenden oder einem anderen eine solche Verwendung zu ermöglichen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.
Ebenso wird bestraft, wer eine Darbietung des in Absatz 1 bezeichneten Inhalts durch Rundfunk verbreitet. Die Absätze (1) und (2) gelten nicht, wenn die Handlung der Berichterstattung über Vorgänge des Zeitgeschehens oder der Geschichte dient.
Absatz (1) Nummer 3 ist nicht anzuwenden, wenn der zur Sorge für die Person Berechtigte handelt". So der Wortlaut des 1985 verschärften Paragraph 131 StGB. zurück
(2) Dabei entblödete man sich nicht, eine Aussage Sam Raimis zu zitieren, der angeblich gesagt haben soll, daß er mit "The Evil Dead" gar keine Kunst habe machen wollen …zurück
(3) zu dem in der ganzen Welt erst seit Januar 1990 in der Schweiz ein Pendant existiert zurück
(4) vgl. dazu Hoffmann, Kay: Am Ende Video – Video am Ende", Berlin 1990zurück
(5) Hitchcocks "Psycho", Duschszene: 70 Einstellungen in 45 Sekunden; die Bildfrequenz des Kinematographen wird fast erreicht. zurück
(6) Nur mühsam, so scheint es, erlernen sie es wieder, mit der Fernbedienung: "Zapping" oder "Switching" als ein zwar fragwürdiges, aber immerhin reaktionsbildendes Lektüreverfahren. Zum Leidwesen der Werbekunden, die seit Einführung der Fernbedienung um die Effizienz ihrer Werbezeit bangen. zurück
(7) Das Dilemma der nur noch "empfinden" wollenden Filmkritik … zurück
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