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Ars Electronica 1990
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Festival 1979-2007
 

 

Das musikalische Schrifttum an der Schwelle zur modernen Wissenschaft.
Über die Polemik Fludd – Kepler – Mersenne

'Stefano Leoni Stefano Leoni

EINLEITUNG
Zu Beginn des 17. Jahrhunderts dreht sich ein Rad von dichten Wechselbeziehungen – zum ersten Male und vielleicht so klar wie niemals wieder in der Geschichte, vertreten durch Personen wie Marin Mersenne, René Descartes, Johannes Kepler, Pierre Gassendi, aber auch Robert Fludd, Michael Maier, Athanasius Kircher, Heinrich Khunrath und andere – zwischen musikalischen Gedanken, philosophischer Auslegung, magisch hermetischen Gedanken, kabbalistischer Tradition und der Geburt des modernen wissenschaftlichen Denkens. Der vorliegende kurze Artikel nimmt von diesen und ähnlichen analogen Feststellungen seinen Ausgang, wobei er sich auf die Forschungsarbeit stützt, die am Lehrstuhl für Geschichte des Wissenschaftlichen Gedankens des Instituts für Philosophie, Abteilung Epistemologie der Universität Genua, durchgeführt wurde, eine Forschungsarbeit, die von verschiedenen gezielten Studien und Untersuchungen ihren Ausgang nahm und die bestätigt hat, daß bereits von der frühen Renaissance an Konstrukte magisch-symbolischen Ursprungs allmählich von linguistisch-formalen Strukturen musikalischer Art abgelöst wurden. Zumindest aber wurden diese musikalischen oder para-musikalischen Themen den ausdrücklich philosophischen oder religiösen gleichberechtigt zur Seite gestellt. Man hat also begonnen, mit dem Heranwachsen der Wissenschaft und der modernen wissenschaftlichen Methodologie auch eine theoretisch-musikalische und/oder paramusikalische Diskussionstätigkeit zu entzünden.

Wir werden sehen, wie sich nach einer Periode reich an Stimuli (dem 16. Jahrhundert, besonders in seiner zweiten Hälfte) die Basis des Mechanizismus, der modernen Wissenschaft und – sozusagen als "Folge" daraus – auch einer modernen Gnoseologie herausbildet.

Einerseits erleben wir die Strukturierung einer Tendenz mit, Konzeptualisierungen von vorwiegend proportional/harmonischem Typus zu forcieren, die die außergewöhnlichen mytho-poetischen Fähigkeiten der Musik und ihrer Sprache benutzen und damit beispielsweise Titel wie Marin Mersennes "Harmonie Universelle" legitimierend (den dieser einer Serie seiner Arbeiten geben wird). Andererseits bemerken wir auch das zunehmende Wachstum an Interesse für die neugeborene Wissenschaft von der Akustik, die auch als Schlüssel zur Erkenntnisphilosophie und in Polemiken mit dem Animismus und dem kabbalistisch-symbolischen Gedanken Fluddschen Geistes eingesetzt wird.

Die Rolle, die die musikalische Theorie hier spielt, ist außergewöhnlich bedeutungsvoll und eine heutige Analyse ist insofern zulässig, als diese sowohl die Präzisierung der historischen Fundamente als auch die Konstruktion einer musikalischen Epistemologie ermöglicht, wenn auch unter einer historischen Matrix, die die heutige Forschung aber zu benötigen scheint.

Auch methodisch kann bestätigt werden, daß die Notwendigkeit einer solchen Untersuchung – eng mit der Wissenschaftsgeschichte überhaupt verknüpft – unter anderem in der augenfälligen Überlegung begründet ist, daß die Geschichte der Wissenschaft selbst ein essentielles Element sein muß, um überhaupt Wissenschaft zu machen.

Weiters ist anzumerken, daß die einschlägige Bibliographie ziemlich lückenhaft und der Zustand der Forschung um historisch-methodologische Aspekte in der interdisziplinären Betrachtung der Beziehungen zwischen Musik, Wissenschaft und Philosophie bestenfalls "zweideutig" ist, nachdem letztere allzulange nur die Apannage einer Musikwissenschaft war, die sich mehr über die musikalischen Auswirkungen des Schrifttums als über den Zustand der Kulturgeschichte Europas im 16. und 17. Jahrhundert, also der Ideengeschichte, den Kopf zerbrochen hat.

Die neueren Untersuchungen der Wissenschaftsgeschichte haben die feinen und tiefgehenden Beziehungen aufgezeigt, die zu Beginn der Neuzeit die philosophische und religiöse Spekulation mit dem Studium der Welt der Natur verbinden und mit einem Fortschritt in der wissenschaftlichen Untersuchung, der aus einer Geisteshaltung entspringt, die als typisch für die Renaissance angesehen wird. Die hermetische Magie und die kabbalistische Tradition sind – wie gesagt – die ursprünglichen Elemente, an die sich ein waghalsiger Versuch der kulturellen und moralischen Erneuerung anhängen, welche eines ihrer Zentren im Deutschland des frühen 17. Jahrhunderts findet, rund um geradezu abenteuerliche politisch-religiöse Strukturen, die, gestützt auf die protestantischen und "liberalen" Kräfte in Europa, darangeht, die katholisch-habsburgische Hegemonie und die restauratorische Offensive der Gegenreformation zu bekämpfen.

Diese politische Operation wird in den dramatischen Ereignissen besiegt, die Auslöser des Dreißigjährigen Krieges sind, dennoch gelingt es jenen intellektuellen Strömungen, die die ersten Texte der Erneuerung der hermetischen Tradition geschrieben und damit die Rosenkreuzerbewegung ausgelöst haben, der bisweilen wütenden Repression zu widerstehen, die gegen sie losgelassen wurde, und einen starken Einfluß auszuüben auf jene Gedankenbewegung, die in ganz Europa zirkuliert, von Frankreich bis Italien, von Deutschland bis England, und die unter anderem keineswegs trockene Polemiken hervorbringen sollte, die immer wieder Argumentationen musikalischen oder weiter gefaßt harmonischen Charakters aufgreifen.

Und so kommt wieder einmal das "musikalische" Schrifttum zu höchst bemerkenswerter Bedeutung in der Entwicklung der Kulturgeschichte des Okzidents, fast schon als Schwanengesang darüber, daß das große Panharmonische Projekt, das das östliche mit dem westlichen Wissen verband und die vor- und klassische Antike über das Mittelalter mit dem Humanismus, nun denn sterben wird, langsam und erhobenen Hauptes, gerade in diesem geplagten 17. Jahrhundert, aber zuletzt noch als polemische Ausgangsbasis dienen wird für die Konstituierung eines modernen wissenschaftlichen Gedankens und seiner fundamentalen Konstrukte.
ÜBER MAGISCH-SYMBOLISCHE ELEMENTE IM MUSIKALISCHEN UMFELD

"Qui Rosarium intrare conatur Philosophicum absque clave, assimulatur homini abulare volenti absque pedibus"

(Michael Maier, Atalanta fugiens, Oppenheim 1618, EMBLEMA XXVII. De secretis Natura.)
Wenn das Studium der "musikalischen Magie" im engeren Sinne – wenn auch geographisch wie chronologisch auf das Europa des 16.–17. Jh.s reduziert – auch absolut peripher im Vergleich zu den künstlerischen und kulturellen Produkten jener Zeit aussehen mag, so ist es dennoch legitim – methodologisch wie historisch – eine Untersuchung über den Rückfall auf das Wissen und Können durchzuführen, den die Anwendung einer "musikalischen" Formalisierung in ihr scheinbar so fremden Bereichen mit sich bringt. Es handelt sich dabei um ein weites und fruchtbares Gebiet, wenn man es unter dem Aspekt des Rückfalls des magisch-symbolischen Gedankens der Hochkultur, der offiziellen, siegreichen, betrachtet, mit all den nachfolgenden Stellungnahmen, Polemiken und fruchtbaren kritischen Reflexionen.

Es ist dies ein Einfluß, der auch subtile Kommunikationsmechanismen enthält, der Meinung bildet und die Intelligenzia des 16.–17. Jahrhunderts zu extrem differenzierten Einstellungen führt, zu positiven wie negativen, oder zu zweifelhaft zweideutigen – in jedem Fall sind sie ziemlich interessant und geradezu beispielhaft für die Fermente und Debatten über methodologische und gnoseologische Probleme, die in der Kultur der Zeit so anfielen.

Gerade hier erwirbt der musikalische Raster weit übergeordnete Bedeutung ausgehend vom interdisziplinären Schrifttum musikalischen Zuschnitts, das durch das ganze 17. Jahrhundert groß in Mode bleibt.

Was nun diese spezifische Thematik betrifft, die inhärenten Beziehungen zwischen Musiktheorie, Philosophie, Theologie und neuer Wissenschaft, so kann ich nur auf die reichhaltige Bibliographie in englischer Sprache und auf einige italienische Studien verweisen, in denen einige Knotenpunkte betrachtet werden, die die Geschichte des wissenschaftlichen Denkens und die Geschichte der Mentalität mit dem Umfeld der musikalischen Spekulation und den mytho-poetischen Möglichkeiten der Musik verbinden, sowohl als Schlüssel zu einer Formalisierung von magisch-symbolischen Universen, als auch – umgekehrt – als Schlüssel zu einer methodologischen (und ethischen) Zerlegung dieser rationalen Modelle. (1)

Dieser magisch-symbolische Aspekt der Musik wird – wie erwähnt – häufig und recht aufmerksam und dokumentarisch behandelt, und zeitigt sicherlich interessante Ergebnisse.

Die Musik hat schon immer im Lauf der Geschichte der Menschheit einen eminent metaphysischen Wert dargestellt. Die Idee, daß ein Dogma, eine Wahrheit, im musikalischen Paradigma seine Realisierung in der Terminologie des menschlichen Intellekts findet, daß die Wahrheit – wie Schneider es ausdrückt – "singen muß" – stellt einen fundamentalen Zug des antiken Denkens dar. Jenes Denkens, das den Kosmos als Harmonie zu verstehen vermochte:
"Die Gleichung 'Gesang – musikalische Harmonie – Harmonie der Elemente der Natur – Konkordanz der Ideen – Ordnung und Wahrheit …' stellt in Wirklichkeit eine sehr logische Überlegenskette des mystischen Denkens dar." (2)
Für Sun Ts'ien, den chinesischen Historiker des ausgehenden 2. Jh.s v. Chr., verbindet die Musik Himmel und Erde:
"… Die Riten und die Musik manifestieren die Natur des Himmels und der Erde; … sie dringen bis in die Vorzüge der übernatürlichen Intelligenzen ein, lassen die oberen Geister herabsteigen und ermöglichen es den unteren, hinaufzusteigen." (3)
Es besteht kein Zweifel, daß sich bereits in fernster Vergangenheit die Grundidee der mystischen Kraft eines Klanges oder eines Instruments bestätigt hat: Man denke unter den vielen möglichen Beispielen an die biblische Erzählung der Eroberung Jerichos (Jos. VI, 2–16 und 20).

Es bleibt noch zu betrachten, wie der Klang oder der mit ihm verbundene Erzeugungsmechanismus auf das Natürliche oder Übernatürliche Einfluß nehmen könnte.

Hiezu werden die Daten schon seltener, wenn man nicht wieder einmal auf das – und sei es noch so vage – Konzept der Harmonie der Welt zurückgreift.

Aber gehen wir schrittweise vor:
Erinnern wir uns daran, daß der mythische musikalische Magier (aus der heidnischen Mythologie, aber besonders auch aus der christianisierten) Orpheus ist. Seine jüdisch-christliche" Kopie" besteht – explizit wie implizit – in David, wie uns übrigens viele Traktate über Musiktheorie bestätigen: "… es ist keine Fabel, sondern wahrhaftigste Geschichte", schreibt Augusto Steffani 1695, "daß Orpheus die wilden Bestien mit dem Gesange zähmte."

Orpheus, der par-excellence-Repräsentant der Musik, Orpheus, dessen Mythos die Grundlage für das musikalische Drama bildet, enthüllt die verzaubernden Qualitäten dieser Kunst, seine Allmacht auf die Dinge der Welt, seine Fähigkeit, auf die "Naturalia" einzuwirken, wie uns Dutzende musikalische Traktatschreiber bestätigen. Derselbe Orpheus, von Marsilius Ficinus (1433–1499) vom Standpunkt einer Verbindung zwischen dem Corpus Hermeticum und dem Neoplatonismus der Renaissance zitiert; von Hermes Trismegistos, einem Zeitgenossen des Moses, zu Pythagoras, von Plato zu Plotinus, vom neoplatonischen Mystizismus zur Magie der Natur:
"Ihn [Hermes Trismegistos] nennt man den ersten Autor der Theologie, ihm folgte Orpheus nach, der zweite unter den Theologen des Altertums; Aglaophemos – in die heilige Lehre von Orpheus eingeweiht – hatte zum Nachfolger in der Theologie den Pythagoras, von dem ein Schüler Philolaos war, der Lehrer unseres göttlichen Plato". (4)
Der Orpheus-Mythos bringt uns zu einem völlig Renaissance-gemäßen Konzept zurück (oder zumindest zu einem, das in der Renaissance zu neuem Leben erwacht): Zur Idee der Harmonie, der vielleicht größten esoterischen Kontamination der Musik. Größten deshalb, weil sie allen Zivilisationen zu eigen ist, allen Glaubensrichtungen und zu allen Zeiten.

Die Harmonie – Sicherheit gebend, aber nicht tröstlich – liegt somit an der Basis aller Möglichkeiten für die Musik, Speculum Dei et Mundi zu werden.

Wenn sich das Chaos als Einbruch in die Sphäre der menschlichen Erfahrbarkeit darstellt, oder auch als die Formalisierung des Realen auf der Ebene des Rationalen, als das Dämonische, die Unordnung, so ist sein Gegenteil, der schöpferische Akt, der sich als das Sein anbietet, als Präsenz im Werden, als Konstruktion, eben die Harmonie.

Das Irrationale, das in die menschliche Realität eindringt und deren Nichtig-Werden durch den Verlust des Sinnes bestimmt (was die intellektuelle Verbindung zwischen Mensch und Gott verhindert) ist das Dämonische, das sich in seinem Werk der Verschmutzung äußert. Wir stehen also vor einer zweideutigen Realität, korrumpierend weil korrupt beziehungsweise nicht integer, nicht harmonisch, versucherisch.

Im Inneren der Geschichte des musikalischen Gedankens strukturiert sich diese Beziehung als Konfrontation – Auseinandersetzung zwischen Erzeugung und Zerstörung aktiviert durch die Zahl, das (positive) Konspirieren des Diffentierten – also dessen, das nicht Eins ist – das die Harmonie der Welt erzeugt, indem es sich zur "ratio" formt (Intellekt, ja aber auch – wie sein griechisches Gegenstück "logos" – numerische Beziehung).

Als höchste Ordnung, Geist der Welt, ist die Musik für die Alten die Stimme Gottes, das Abbild der kosmischen Schöpfung und ihrer geordneten Organisation; Harmonie wird also zur "Stimmung" in allegorisch-metaphorischem Sinne. Es gibt viele Beweise für die besondere Bedeutung, die dem Begriff Harmonie und in der Folge der besonderen Wertschätzung der Musik entgegengebracht werden, einer Musik, die zur Disziplin der Disziplinen wird, Grenzland und Gebiet des wechselseitigen Austausches, ein Bereich der Zweideutigkeit und der Verführung, der Seduktion: des magischen "secumducere".

Die Musik kann (im Sinne von "hat die Macht zu") die Natur rekonstruieren, weil sie keine Natur voraussetzen kann, auf die sie sich bezieht; sie eignet sich perfekt für eine "alchemistische" Anwendung auf die Neubegründung der Weltenordnung durch ein Schema der kosmologischen Ordnung. Sie kann zum Grundmaterial eines makrokosmischen wie eines mikrokosmischen Modells werden.
VON DER EUROPÄISCHEN INTELLIGENZIA, VON DER MUSIKALISCHEN "MAGIE," UND DEN FLUDD'SCHEN POLEMIKEN AN DER SCHWELLE ZUM 17. JAHRHUNDERT.

Nihil igitur aliud sunt motus coelorum, quam perennis quidam concentus (rationalis non vocalis) per dissonantes tensiones …

(Johannes Kepler, Harmonices Mundi Libri V, Linz 1619, S. 212)
Das Europa des ersten Drittels des 17. Jahrhunderts erlebt, wie bekannt, ein Aufblühen des Schrifttums, von Manifesten, Traktaten und nachfolgenden Polemiken rund um symbolistische Utopien, um die Kabbala, um Geheimbünde rosenkreuzerischer Art. Ich betone, es handelt sich um ein augenfälliges Nachschlagen des mathematisierenden Projekts der Renaissance, das sich dauerhaft als "starker Gedanke" konfiguriert zu einem Zeitpunkt, als man die ersten stammelnden Laute der modernen wissenschaftlichen Methoden vernimmt, eines Gedankens, der, damals, noch ein "schwacher Gedanke" ist, ohne den Vorwand, die ganze Natur und den Kosmos in sich einzuschließen.

Ein Teil der Polemiken und der nachfolgenden Klärung einer neuen methodologischen Linie spielen sich – wie bereits oben angedeutet – innerhalb von oder quer durch das musikalische Umfeld ab. Nebenbei sollte man daran denken, daß auch Descartes selbst Hand an ein "Musikbrevier" legt, 1618, in dem er die "Methode" andeutet. Und so beziehen sich – mehr oder minder tief – unter vielen anderen auch Robert Fludd, Johannes Kepler, Marin Mersenne, Michael Maier, Petrus Gassendi, Athanasius Kircher, um nur einige zu nennen, in ihren wichtigsten Schriften auf die Musik.

Aber wie sich das musikalische Thema als fruchtbares Gebiet für Begegnungen und Entgegnungen darbietet, so kann es auch aufgrund seiner intrinsischen Schmiedbarkeit auf die verschiedensten Arten für die unterschiedlichsten und zutiefst divergierenden Zwecke und Ziele verwendet werden. Andererseits zeigen die Intellektuellen des frühen 17. Jahrhunderts keineswegs immer eine unvermeidliche Konsequenz "progressiver" Art.

Marsilius, Pico della Mirandola, Agrippa, Gerolamo Cardano, Reuchlin, Tritemius, Giordano Bruno, Paracelsus, Campanella und Kepler glaubten, man könne – ausgehend vom "arcanum" der egyptisch-hebräischen Weisheit, die Engel dazu zwingen, die Bewegung der Gestirne und ihren Einfluß auf die Erde zu ändern. Ihre Mittel sind zweifellos raffinierter als jene der Hexen: Die Astrologie, die Kabbalah, die Gedächtniskunst, die Theorie der Sympathie, die Mystik des Wortes und der Gesten, der wertvolle Talisman und der alchemistische Ofen sind ganz etwas anderes als die gewöhnlichen Techniken des Zauberers, als die chaotischen Hexensabbate, als die beunruhigenden magischen oder beschwörenden Formeln, aber das Zeichen und der kulturelle Tonfall sind die gleichen. Wie der Magier der Renaissance suchen sie – in England wie im Prag Rudolfs II. oder in der Pfalz eines Friedrich V. – die Möglichkeit, dem natürlichen Determinismus zu entfliehen, die Gestirne zu beherrschen, sich der demiurgischen Sphäre zu assoziieren.

Nun sind offensichtlich nicht alle Intellektuellen so konziliant hinsichtlich der Utopie oder – schlimmer – der "Magie"; die Angriffe gegen die Magie der Renaissance, und alle gemeinsam gegen den sogenannten Neoplatonismus mit seinen Natur-animistischen Philosophien, wurde gerade in Frankreich zu Beginn des 17. Jahrhunderts von Marin Mersenne losgetreten.

Man kann jedenfalls nicht leugnen, daß – hinsichtlich des Gebietes der Musik – die wissenschaftliche Revolution zu gleichen Teilen Tochter des Enthusiasmus der Neuplatoniker wie der rigorosen Methodik des Aristotelismus ist.

Vor ihrer Auflösung und vor Überlassung ihres Platzes an die wissenschaftliche Revolution und an den von dieser eingeschlagenen kulturellen Kurs hinterlassen die beiden klassischen Schulen allerdings noch ein wertvolles Erbe: die aristotelische Schule – besonders jene von Padua – wird den Geist der Väter der neuen Wissenschaft zu methodischer Strenge und zu epistemologischer Korrektheit formen; der Neo-Platonismus wird – mehr als neue Instrumente – neue Ziele vorgeben.

Die große magisch-astrologische Utopie, verbunden mit den Werten der Hermetik und des Neo-Platonismus wird alles daransetzen, jene befreienden Instrumente zu liefern, die – nach der wissenschaftlichen Revolution – von der neuen Wissenschaft verlangt werden. Recht häufig ist in der Geschichte die Bedeutung der Ziele und der Instrumente gleichwertig: die Güte der einen ist interaktiv mit der Vertrauenswürdigkeit der anderen verbunden.

Und es wird eben Mersenne sein, der behauptet, die Wissenschaft – verstanden als Hinwendung des Menschen zur Kreatur – werde ein Mittel des Heils sein, Heil im Sinne einer Erhöhung des Menschen, seiner Befreiung von materiellen Bedürfnissen zugunsten jener des Geistes:
"Befreiung von den Übeln und den Bedürfnissen, von den Mythen und den Ängsten, Instrument der Macht des Menschen (auf poetischer wie pragmatischer Ebene) auf die Natur, greifbares Zeichen seiner überlegenen Würde im Vergleich zum Rest der Schöpfung, erster und vornehmster Weg, um das menschliche Schicksal in Richtung auf eine Erhöhung zu zwingen, die fähig sein wird, die Bindung mit der irrationalen Form zu transzendieren – dies sind einige der Funktionen, welche die neue Wissenschaft sich zuzuschreiben vorgibt. Sie ähneln in beeindruckender Weise den Zwecken, die die magisch-astrologische Tradition sich zuvorderst auferlegt hatte". (5)
Es ist das Bildnis jener Utopie, in all ihren verschiedensten Aspekten, die offenbar das vorherrschende Zeichen der ganzen Epoche ist.

Wenn wir auch heute nicht mehr geneigt sind, den Rosenkreuzern, den Hermetikern, den natürlichen Magiern mehr zuzuschreiben, als ihnen wirklich gebührt (ganz sicher nicht die Vaterschaft der wissenschaftlichen Revolution, wohl aber die Befreiungsidee der Wissenschaften), wir müssen dennoch jene Bindungen im Auge behalten, die zwischen. den wahren Vätern der wissenschaftlichen Revolution und der Magie der Renaissance bestehen. Diese Bindungen waren auch – wenn nicht sogar überwiegend – harmonisch-musikalischer Art.

Man hat die mysteriosophischen, magischen und astrologischen Ideen dieser Wissenschaftler üblicherweise als "übergebliebene Schlacke der Hermetik und der Esoterik" bezeichnet, und die Sache mit der summarischen Erklärung abgetan, daß im Augenblick des evolutionären Übergangs von einer kulturellen Spezies zur anderen immer irgendein Aspekt der früheren übrig bleibt. Wenn man dies tut, so vergißt man, daß die Konstruktion einer wissenschaftlichen Theorie eine Sache ist, eine andere hingegen die Erfüllung dieser Theorie mit Sinn. Und es steht außer Zweifel, daß dieser magisch-astrologische Überrest die Konstruktion einer wissenschaftlichen Theorie keineswegs in theoretischem Sinne beeinflußt, weil es der Wissenschaft gar nicht zukommt, ihren eigenen Ergebnissen Wert zu verleihen.
"Das von der hermetischen Magie" – so bestätigt auch P. A. Rossi – "ist ein Traum, und wie jeder Traum ist er in seiner Irrealität perfekt. Warum sollte man diesem Traum also seinen Einfluß auf die historische Realität negieren?
… auch die Schatten zeichnen das Bild des Fortschritts mit Licht."
(6)
Mersenne, Minorit, Begründer des Mechanizismus, Freund und Mentor Descartes – weist den Animismus des Oxforder Arztes und Rosenkreuzers Robert Fludd (1574–1637) zurück: Er gibt, zweifellos, den Einfluß der Musik auf die Seele zu (und daher bezieht er unter anderem seine moralische Einstellung in bezug auf die Musik), aber er verlangt, daß in ihr nicht irgendein magischer Effekt gesucht werde. Für Mersenne entspricht der Klang der dem menschlichen Gehör faßbaren Vibration, er ist ein mouvement sonore, nichts anderes. Dazu schreibt Robert Lenoble:
"… diese Bewegung versetzt die Gehörorgane und die Nerven in Schwingung, und dort finden wir den wahren Grund des Phänomens. So wendet er (Mersenne) sich, um die Magie zu bekämpfen, bereits einer Psychologie und einer mechanistischen Wissenschaft zu." (7)
Mersenne hat schon 1623 in den Questiones in Genesim diese Grundannahmen verdeutlicht:
"ltaque, cum sonus sit veluti sonans motus, etmotus tantam vim in omnibus rebus corporeis habeat, non est, quod miremur, si musica vires suas exerat, et huc illuc animam transferat. " (8)
Die Questiones in Genesim stellen das "summum" der wissenschaftlichen Interessen Mersennes dar, seiner musikalischen, mathematischen, physikalischen, astronomischen Studien und gleichzeitig den ersten strukturierten Angriff auf die magisch-symbolisch-astrologische Tradition:
"Sunt qui ad Platonis ideas recurrant, quae presint lapidibus, adeout quilibet suam habed ideam, a qua vim et energiam suam accipat; vel cum Hermete, et Astronomis ad stellas, et imagines coeli (recurrant)." (9)
Hier wird der magische Kern des Ficinianischen Platonismus bloßgestellt, die ausgeprägte Konfusion zwischen Ideen, magischen Bildern und Hermetismus. Derartige Kräfte derartigen Bildern zuzuordnen, erscheint Mersenne schlichtweg verrückt:
"Verum nemo sanae mentis dixerit illas imagines vim habere, ut constellationes magis influant." (10)
Er verdammt die Doktrin einer "anima mundi" oder zumindest die extravaganten Verformungen derselben, die von den Naturalisten der Renaissance eingeführt wurden, von den Kabbalisten und den Hermetikern der Vergangenheit, – und noch mehr läßt er sich gegen seinen Zeitgenossen Robert Fludd aus. Diese Ideen werden allerdings von Mersenne im nächsten Jahrzehnt wieder aufgenommen und fortentwickelt.

Mersenne fordert die Studenten auf, sich nicht von den Analogien der Sprache oder der theoretisch-musikalischen "Notation" einfangen zu lassen, die Fludd gewöhnlicherweise mache: In der Musik und in der Astrologie vergleichbare Zahlen zu finden, sei kein ausreichender Grund, notwendigerweise Kausalitätsbeziehungen davon abzuleiten:
"Verum omnes Musicos advertere velim non ita inhaerendum esse numeris, ut statim rem eo modo se habere credant, quo numeros esse viderint, quippe qui nihil ad vim musicae faciunt, sed tantum ut res prius inventae facilius concipiantur, et exprimantur." (11)
Die Symbole sind nur Symbole. Mersenne spekuliert über keine magisch-symbolischen Erklärungen, nicht einmal des praktischen musikalischen Universums, wie dies hingegen Kepler versucht. Letzterer erklärt das Intervall der großen Terz für "männlich", weil es mit der Figur des Pentagons in Verbindung steht, das seinerseits ungerade Winkel hat und somit nach Pythagoras männlich ist; die kleine Terz hingegen heißt "weiblich", weil sie mit dem Zwölfeck in Verbindung stehe (gerade Anzahl von Winkeln und damit nach Pythagoras weiblich).

Aber ich, sagt uns Mersenne knapp,
"glaube nicht, daß die Zusammenklänge aus den Figuren entstehen, und deshalb halte ich mich bei diesen symbolischen Beziehungen und diesen Analogien nicht auf."(12)
Die perfekte Musik wird uns erst im Himmel enthüllt werden.
"Wenn Mersenne auch die Idee einer moralisierenden Musik niemals aufgibt, so verlangt er doch von der mechanistischen Wissenschaft, sie zu realisieren, und er wird in jedem Fall völlig begriffen haben, daß die wahre Art, Gott zu dienen, nicht eine Haarspalterei über pseudomystische Analogien ist, sondern die Schaffung einer ernsten Wissenschaft." (13)
Die Methode der Kabbala, die wir bei allen Hermetikern wiederfinden, begründet sich auf der Doktrin eines universellen Zusammenhangs der Dinge, und besonders des menschlichen Mikrokosmos aus Körper und Seele mit dem großen Universum, dem Makrokosmos. Mersenne hat diese Analogien manchmal bewußt mißbraucht (vgl. etwa "La Vérité des Sciences" und die "Questiones in Genesim"), aber er hat genug Verstand, sie als einfache literarische Ornamente zu betrachten und er bekämpft vehement jene, die aus Wortspielen das Prinzip der wissenschaftlichen Forschung machen wollen, kurzum, er sieht die Kabbalisten – um mit Lenoble zu sprechen – für einen "Club" von Kreuzworträtsel-Lösern an, die glauben, sie seien die Akademie der Wissenschaften. Fludd etwa sucht in der Kabbala den Anfang einer Medizin und einer Astrologie; die Sterne, die Elemente, die Teile des Körpers, ebenso wie sie eine Zahl und ein Buchstabe des hebräischen Alphabets sind, so sind sie auch eine Note der Tonleiter. Und so spiegeln die Kombinationen und Positionen der natürlichen Körper nicht nur die harmonischen Proportionen der musikalischen Intervalle wider, sondern es findet und bewahrheitet sich darin eine "universelle", makrokosmische Realität.

Mersenne ist weit davon entfernt, a priori die Hypothese der Harmonie der Sphären zurückzuweisen, die er ja auch von jemandem unterstützt findet, den er für einen anerkennenswerten Mathematiker hält, nämlich Kepler. Er untersucht sie besonders in seinem Traité de l'Harmonie Universelle, von dem viele Kapitel eine punktuelle Widerlegung des arbeitsamen "Microcosmos" von Fludd sind (Utriusque Cosmi Metaphysica, Physica et Technica historia, 1617), weil die harmonischen Hypothesen des letzteren die beobachteten Daten nicht in Betracht zieht. In diesem Punkt mit Kepler übereinstimmend, ist er der Ansicht, daß der astrologisch-musikalische Symbolismus seine Bestätigung nur aus den Berechnungen der Astronomen und Physiker ableiten kann. Nun scheinen diese Berechnungen von Fludd überhaupt nicht beachtet worden zu sein. Im wesentlichen erweist er sich als eine "Funzel der Wissenschaft", nicht als Leuchte (falsche Berechnungen und Schätzungen über die Distanz Erde–Planeten, über die Eigenschaften vibrierender Saiten, über die Dichte der Luft, Über chemische Zusammensetzungen usw.).

Deshalb bleiben seine Musik und seine kabbalistische Astrologie auch rein zufällig. Und so folgt auch das Urteil des (rationalen) Geistes über die Kabbala: Sie bestätigt immer und beweist gar nichts.

Mersenne läßt sich zu kabbalistischen Spielereien nur hinreißen, um deren Unbegründetheit zu beweisen; alle Behauptungen der Kabbala sind "frivola, fabulosa, vel saltem absque fundamento prolato". (14)

Aber dieses Spiel ist keineswegs unschuldig. Es kann zu verzerrten Analysen führen, zu einer Auflehnung gegen das göttliche Gesetz:
"Sane demiror eorum (der Kabbalisten) solertiam, qui ex qualibet dictione aeque possunt insurgere, ut adversus Scripturam sacram, et legem divinam quaecumque dicant, at ut pro ea dimicent …" (15)
Diese "Träume" sind schlimmer als die Unwissenheit, denn sie hindern uns daran, die Natur korrekt zu beobachten, wie er etwa zu Fludds Vorspiegelungen, uns über die Harmonie der Welt zu belehren, anmerkt:
"Es wäre viel besser, diese Harmonie überhaupt nicht zu kennen als sie sich anders vorzustellen, als sie ist." (16)
Die Polemik zwischen Mersenne und Fludd, in die auch zur Unterstützung des "bon père" noch Pierre Gassendi eingreifen wird, wird sich über lange Zeit erstrecken und von beiden Seiten manchmal in beleidigendem Tonfall geführt werden. Der "Sieg" Mersennes zeichnet sich erst – dann allerdings wie eine Laufmaschine – ab, als der Ausgang der Kritik Isaac Casaubons am "Corpus Hermeticus" des Trismegistos (1614) zum Allgemeingut wird, welch letzterer die Redaktion des Werkes in die ersten Jahrhunderte nach Christus datiert; Casaubon wird die "Ägyptische" Tradition als gefälscht entlarven und indirekt Hermetiker, Kabbalisten und Alchimisten vom picoficinianischen Typus in eine ernste Krise stürzen (auch wenn noch Jahre vergehen, bevor das Ergebnis seiner Textkritik anerkannt und zumindest teilweise akzeptiert wird).

Mersenne läßt sich die Gelegenheit nicht entgehen und schreibt in einem Brief an Nicolas de Baugy, den französischen Botschafter in den Vereinten Provinzen, vom 26. April 1630, in dem er dem Freund den antifluddianischen Text Gassendis übermittelt:
"Cum autem Fluddus plures alios authores enumeret, illos solo affero, quorum authoritate in suis libris nititur. Quos inter primum ordinem obtinet pseudo-Trismegistus, cujus Pimandrum et alios tractattis Scripturae sacrae authoritati atque veritati pares efficere videtur, et de quorum aestimatione nonnihil, credo remittet, si legat Casaubonum, prima ad apparatum Annanium Exercitatione."
Die Prügel gehen weiter: Die Kabbalisten täuschen uns über die Natur der Sprache, bestätigt Mersenne immer wieder.

Für sie bedeutet das Wort die Essenz der Dinge. Mersenne wird über diese Frage lange polemisieren. Aber wie Lenoble feststellt, die entscheidende Antwort zur Zerstörung des sekulären Prestiges der Onomantie verlangt er von der neuen Wissenschaft, vom Mechanizismus: Das Wort ist nichts als ein flatus vocis, ein rein konventionales Zeichen, eine Vibration der Luft, deren Natur dargestellt – und zwar zur Gänze dargestellt – wird von der Physiologie und der Akustik; nur die wahre Wissenschaft befreit von der falschen Wissenschaft.

Nur sie erlaubt es auch, die Moral zu retten. Denn – und dies ist die höchste Gefahr der Kabbala – in jenem universalen Zusammenhang, die sie zwischen Namen, Sternen, Elementen und physischen Personen annimmt, ist das menschliche Schicksal nichts mehr als ein einzelnes Element der kosmischen Geschichte.

"Die Musik des Mersenne ist die Medizin des Paracelsus, und somit die Panacee aller Übel der Seele und des Körpers", merkt Lenoble an. (17) Mersenne bekämpft die Illusionen der Astrologie und der musikalischen Kabbala eines Fludd, und mit der gleichen Idee einer universellen Harmonie legt er eine von der Vorhersehung geschaffene Übereinstimmung der Proportionen in allen Teilen der Natur dar. Ein Element, das der englische Arzt keineswegs ins Spiel bringt:
"His igitur cognitis a mundi materia exordium sumamus quam chordae monochordi, cujus instrumentum magnus est ipse Macrocosmus "Concludimus igitur Solem naturae DEUM, sed creatum, virtute harmoniae spiritualis per Diapason formale cum intervallis suis proportionaliter ordinatum accipere omnem formalem – lucidam virtutem a DEO omnium maximo, supernaturali creatore increato; terram vero per Diapason materiale correspondem DEI influentias accipere; indeque habere eandem cum Sole correspondentiam […] Haec itaque est machinae universalis harmonia naturalis, quam nemo hactenus quod sciam, ita succinte atque dilucide explicavit: Istius modi autem monochordi mundani consonantiae hoc modo depingentur […]" (18)
Mersenne weist die okkultistische Vision der Natur zurück zugunsten einer im wesentlichen psycho-physiologischen Optik, die unter allen Umständen die menschliche Freiheit von einer magischen Vorherbestimmung freihalten will und dreht den Standpunkt vieler seiner "Kollegen" damit um.
Er verzichtet darauf, eine metaphysische Theorie der Harmonie der Welt zu formulieren, die allein das Geheimnis Gottes bleibt. "Als Christ behält er sich den Weg der Gnade offen." (19)

Das Thema der Tier-Maschine, jenes des Mechanizismus also, das von Marin Mersenne eingeleitet wurde, erscheint gerade zu Beginn des 17. Jahrhunderts im Umfeld der Gnoseologie als eine Antwort auf den Pan-Psychismus des Naturalismus der Renaissance und als Vorschlag einer neuen Theorie der Wahrnehmung, die auf streng "operativer" Basis einen Unterschied zu machen in der Lage wäre zwischen dem Automatismus des Gefühls und der Bewußtheit der Wahrnehmung. Ein sehr beliebtes Thema, dieses, in jener gesamten philosophischen Tradition des Westens, von Boetius aufwärts, die das Problem des Bewußtseins in organisch-dualistischen Termini dargelegt hat.

Wir haben an diesem Punkt angekommen sicherlich einen Bruch-Effekt zu erwarten: Hier wird die klare Demarkationslinie zwischen Gott und dem Menschen einerseits, und der Natur andererseits gezogen, um es mit A. Espinas auszudrücken.

Auch Johannes Kepler (1571–1630), wenn er sich nicht animistischen Gedanken hingibt, polemisiert heftig mit Fludd und mit dem kabbalistischen Betrug im allgemeinen. Schon 1608 legt er in einem Brief an J. Tanck den eigenen Standpunkt klar:
"Auch ich spiele mit den Symbolen und habe mir ein Werk mit dem Titel Geometrische Kabbala ausgedacht – Ich spiele aber so, daß ich niemals vergesse, daß es sich eben nur um ein Spiel handelt. In der Tat, mit den Symbolen kann nichts bewiesen werden; kein Geheimnis der Natur wird von geometrischen Symbolen enthüllt. Sie geben uns nur Ergebnisse, die auch schon vorher bekannt waren, sofern nicht mit sicheren Argumenten bewiesen wird, daß sie nicht einfach Symbole seien, sondern daß sie die Welt und die Gründe der Verbindungen zwischen den beiden verglichenen Dingen widerspiegeln."
In der Folge erklärt Kepler im Anhang zu den Harmonices Mundi libri V (die nach der italienischen Übersetzung von Prof. Mario Fontana zitiert werden), einem Text, der sich weithin mit der Musiktheorie in bezug auf die Astronomie befaßt, klar und deutlich jene Unterschiede, die ihn von Fludd abheben:
"Deshalb sind auch in seinem Werke sehr viele Illustrationen, in meinem hingegen finden sich mathematische Diagramme, zusammengestellt mit Buchstaben. Man kann in der Tat sehen, wie er sich überaus an finsteren Rätseln von Dingen erfreut, wo ich mich hingegen bemühe in meinem Intellekt die in Dunkelheit gehüllten Dinge zur Klarheit zu bringen. Die erstere Einstellung ist den Alchimisten zu eigen, den Hermetikern, den Nachfolgern des Paracelsus; die letztere ist für die Mathematiker charakteristisch."(20)
Ganz offensichtlich betrifft die Polemik, die sich im "Anhang" zu manifestieren beginnt, die Konzeption der Mundänen Musik von Fludd, die aus der "Utriusque cosmi … historia" entstammt …

Kepler setzt so fort:
"Und so besteht auch in den Büchern II und III, wo er dieselbe Materie behandelt, die auch ich betrachte, dieser Unterschied zwischen uns beiden: Daß er jene Dinge von den Alten nimmt, die ich aus der Natur der Sache selbst hole, ausgehend von denselben Grundlagen: Während er nicht korrekte und konfuse Annahmen usurpiert, die auf unsichere Weise übertragen wurden, gehe ich dagegen nach der natürlichen Ordnung vor, auf daß eine jede Sache korrekt sei nach den natürlichen Gesetzen, damit eine Konfusion vermieden werde (…) In wenigen Worten: was die Behandlung der Harmonie betrifft, so behandelt einer die vokale und instrumentale Musik, der andere die philosophische und mathematische." (21)
Aber noch größer ist das discrimen für den Astronomen, wenn Fludd die Musik in die Welt einführt:
"Gehen wir also zu einem anderen Schritte dieses Autors, dorthin, wo er den Diskurs über die weltliche Musik einführt: hier ist geradezu unermeßlich, wie groß der Unterschied zwischen uns beiden ist. An erster Stelle sind jene Harmonien, die er zu beweisen sucht, reine Symbolismen, von denen ich dasselbe sage, was ich schon zu den Symbolismen des Ptolemäus gesagt habe, daß sie eher poetisch und oratorisch sind, denn philosophisch und mathematisch." (22)
Und, um zum Kern zu kommen:
"Aber um uns näher an jene Grundprinzipien heranzubewegen, von denen aus Fludd seine weltliche Musik konstruiert, sagen wir, daß er sich zuerst mit der ganzen Welt und ihren drei Teilen beschäftigt, Empirea, Coelestisch und mit den Elementen; ich hingegen halte mich ausschließlich an jene himmlische Welt, und nicht einmal an die ganze, sondern nur an die Bewegung der Planeten im Tierkreise. Er, im Vertrauen auf die Altvorderen, die da meinten, die Kraft der Harmonie käme von abstrakten Zahlen, begnügt sich damit zu zeigen, daß zwischen einzelnen Teilen Harmonie herrscht, wie immer er sie numeriere, ohne sich zu fragen, auf welche Weise die Einheit sich zu jener Zahl zusammengefunden habe […]" (23)
Und darüber hinaus erinnert er sich daran, daß Fludd sich nicht gerade auf gentlemanlike Weise in der Kritik an Kepler ausgelassen hat:
"Die Gebrauchsmathematiker beschäftigen sich mit den Schatten der Quantität, die Alchemisten und die Hermetiker umarmen das wahre Werk der natürlichen Körper", wie Kepler in der "Apologia adversus Rob. de Fluctibus" (1622) zitiert, in der er mit Hieben nach dem englischen Arzte nicht spart;
"In constitutione terminorum Harmoniae cuiusque descripsi, te fium veteribus qui credebant via Harmonicam esse ex numeris abstractis – und "[…] Kuno numerum ais formalem, vere igneum, arioni familiarissimum. Vide qua re conveniamus. Mihi mentis, et in ea quantitatum et circuli, tibi Naturae generatis opes praecedunt, quas sequitur utinque Numerus"; "Atque hino vel maxime demonstro, nullam doctrinae tuae iniuriam illatam a meis comparationibus, dum eo meos Harmoniarum terminos appello mathematicos, tuos vero aenigmaticos, pictos, Hermeticos." (24)
Und weiter:
"Tu rei figuram vel Hieroglyphicum effinxeris";"Tuis picturis mea comparavi diagrammata; fassus librum meum non aeque atque tuum ornatum esse, nec futurum ad gustum lectoris cuiuslibet: Excusavi hunc defectum a professione, cum ego mathematicus agam." (25)
Aber die Tendenz zur mystisch-symbolischen Musikographie, wenn auch in (zumindest vom phänomenologischen Standpunkt aus) streng dem "römischen" religiösen Kanon anhängenden Koordinaten, stirbt nicht völlig aus; bestenfalls wird sie aufgeweicht. Sie wird katholisch, wie etwa beim Jesuitenpater Athanasius Kircher: aber das ist eine andere Geschichte und läßt das Ambiente des Hofes Rudolfs II. und die Gedanken eines Maier (dem der "Atalanta fugiens", der die Musik mit der Alchimie in Bezug bringt) ebenso aus wie die damit konformen Ideen eines Fludd; deren Werke, in der Pfalz Friedrichs V. publiziert, treffen auf eine Welt, die sich rapide verändert und auf ein Europa, das vom Dreißigjährigen Krieg verwüstet ist.

Das "Amphiteatrum sapientiae aeternae" Khunraths mit dem inbrünstig betenden Kabbalisten-Alchimisten und einer Gruppe von Musikinstrumenten im Vordergrund ist endgültig erloschen.

Aber auch das ist eine eigene Geschichte, die eine eigenständige analytische Arbeit verdienen wurde …

Savona, im Sommer 1990

(1)
Vgl. unter anderem die Texte von Gozza und Leoni in der Bibliographie.zurück

(2)
Marius Schneider, El origen de los animales – simbolos … 1984, zit. nach der ital. Ausgabe: Gli animali simbolici … Mailand 1986, S. 122zurück

(3)
Ebenda, S. 124zurück

(4)
Marsilius Ficinus, Opera Omnia, Basel 1576, S. 1836, Argumentum a Cosimo de' Medici, im Corpus Hermeticum.zurück

(5)
P. A. Rossi, "L'eclisse della ragione", vgl. Bibliographie, S. 109–110zurück

(6)
P. A. Rossi, a.a.O., S. 111 zurück

(7)
Vgl. Robert Lenoble, Mersenne ou la naissance du mécanisme, Paris 1943, S. 367zurück

(8)
Marin Mersenne, Quaestiones in Genesim, Paris 1623, Sp.1164zurück

(9)
Ebenda, Sp. 1565zurück

(10)
Ebenda, Sp. 1561zurück

(11)
Ebenda, Sp. 1699azurück

(12)
Derselbe, Harmonie Universelle, Paris 1636–37, Traité des Consonance, III. Buch, T. XVIII, S. 188 zurück

(13)
Robert Lenoble, a.a.O., S. 370, Anmerkungzurück

(14)
Derselbe, Quaestiones in Genesim, Sp. 1705bzurück

(15)
Ebenda, Sp. 704zurück

(16)
Derselbe, Traité …, S. 453zurück

(17)
Robert Lenoble, a.a.O., S. 531zurück

(18)
Robert Fludd, Utriusque cosmi …, Oppenheim 1617, S. 85 und 88zurück

(19)
Ebendazurück

(20)
Johannes Kepler, Harmonices Mundi libri V, Linz 1619, "Appendix", S. 252zurück

(21)
Ebendazurück

(22)
Ebenda, S. 253zurück

(23)
Ebendazurück

(24)
Derselbe, Apologia Adversum Demonstrationem Analyticam …, Frankfurt 1622, S. 33zurück

(25)
Ebenda, S. 5 und folgende

Literaturhinweise
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P. GASSENDI, Examen Philosophiae Roberti Fluddi Medici … in Opera, Lyon, 1658.
P GOZZA, (a cura di) La musica nella rivoluzione scientifica del Seicento, Il Mulino, Bologna, 1989.
J. KEPLER, Harmonices Mundi Libri V, Linz, 1619.
J. KEPLER, Apologia adversus demonstrationem analyticam CL. V. D. Roberti de Fluctibus …, Frankfurt, 1622.
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S. LEONI, Le amionie del mondo, ECIG, Genova, 1988.
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P. A. ROSSI, "L'eclisse della ragione all'alba della scienza moderna", in AA. VV. Miscellanea filosofica, 1980, Le Monnier, Firenze, 1981.
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