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Ars Electronica 1990
Festival-Programm 1990
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Festival 1979-2007
 

 

Le Système Du Monde – Das System der Welt
Musikalisches Schauspiel

'Serge Dutrieux Serge Dutrieux / 'Jean-Pierre Larroche Jean-Pierre Larroche / 'Michel Rostain Michel Rostain

Idee und Bühnenbild: Jean-Pierre Larroche
Musik: Serge Dutrieux
Inszenierung: Michel Rostain
Die Manipulatoren: Radek Beran, Vincent Guillot, Daniel Lecoyer, Olivier Place, Milena Yelinkova
Licht- und Tonregie: Frederic Pin
Motorik – Elektronik: Gerard Pistillo
Bühnenbild – Ausführung: Les Ateliers du Spectacle
Production-Manager: Sylvie Papandreou

Produziert von Un Theatre pour la Musique – Train de Nuit – Les Ateliers du Spectacle

Auftragswerk von Ars Electronica, in Coproduktion mit:
AULNAY/Espace Jacques Prévert Fondation 90, MASSALIA/Marseille

Der Blick ist ein kosmisches Prinzip. Das Auge eines Dichters ist ein Zentrum des Lichts, die Sonne einer Welt. Kopernikus nannte die Sonne oft "Augapfel der Welt" oder "Sichtbarer Gott" und für die Elektra des Sophokles war sie die "Allessehende". Der Blick ist eine Sonne, und die Sonne ein Blick. Die Planeten kreisen um ein Auge aus Licht. Und wir sind auch Auge des Lichts. Der Poet ist der Träumer der Welt. Man hat die Welt niemals richtig gesehen, wenn man das Gesehene nicht geträumt hat. Die Worte des Träumenden werden die Namen der Welt. Dann ist die Welt groß, und der Mensch, der träumt, ist eine Größe.

(nach Gaston Bachelard)


LE SYSTÈME DU MONDE
Das System der Welt
* 1609 veröffentlichte Kepler seine "Harmonie der Welt"; 1790 schrieb der französische Physiker Pierre Simon de LAPLACE seine "Exposition du Système du Monde". Ihnen beiden verdanken wir den Titel unseres Werks.
Le Système du Monde ist die Erzählung von einer imaginären Kosmologie. Es ist ein Schauspiel der Manipulation von Objekten und Bildern, ein Schauspiel mit unsichtbaren Schauspielern oder solchen, von denen man nur zusammenhanglose Teile sieht, ein visuelles und musikalisches Spektakel ohne Text im eigentlichen Sinn.

Die Aufführung läuft auf einer Mini-Theaterbühne ab, ausgestattet mit etwa jener Maschinerie, die man in den Theatern des 18. Jahrhunderts findet. Vor der Bühne – nicht im Musikgraben, sondern als authentischer Akteur des Werks – der Komponist/Interpret, mit seiner Geige und den elektronischen Instrumenten, die er mit Hilfe seines Computers steuert.

Die Exposition – oder besser "Erprobungsphase" des Systems erzählt uns von einer gleichzeitig vorhersehbaren und aleatorischen Welt, konzentriert und in ständiger Auflösung begriffen, chronologisch und zeitlos. Eine verzauberte Welt, in sich geschlossen, unendlich, irreversibel …
Fraglos gibt es bis heute unbekannte Planeten, Sterne und sogar Galaxien. Wir werden diesen Mikrokosmos dabei erleben, wie er alle großen Familien von Himmelskörpern unserer kosmologischen Fiktion durchreist.

Da gibt es die Himmels-Mechaniken: große Automaten, die das Universum als ein unendliches Uhrwerk beschreiben. Es gibt virtuelle Wesen, die nur existieren, weil man sie nennt, und die aleatorischen Körper, die Unordnung säen. Wir werden auch die Botschafter-Körper sehen, die metaphorischen Körper, alle jene belebten Wesen des Himmels, die, denkt man, unsere Vergangenheit und unsere Zukunft künden. Eine Welt, bewohnt von Zeichen, die wir uns dienstbar zu machen versuchen.

Dieses Experiment mit dem System der Welt ist nicht ganz risikolos, denn die Himmelsobjekte sind in Wirklichkeit Akteure einer echten und ständigen Auseinandersetzung, und es wird bald klar, daß der Manipulator keineswegs alle Parameter des Systems der Welt beherrscht.
EINE IMAGINÄRE KOSMOLOGIE
Ein Blitz erleuchtet den Saal.
Das gigantische Auge öffnet sich langsam – und es sind die Sterne, die darin erscheinen. Ein Musiker dirigiert das Orchester der Zeit, während eine unsichtbare Hand versucht, den Myriaden von Sternen Form zu verleihen. Drache, Wagen, Großer Bär …

Ein majestätisches Planetarium beschreibt die Himmelssphären. Plötzlich fällt ein Planet, und das Planetarium spielt verrückt. Der Entziffer-Roboter bringt alles wieder ins richtige Geleise. Phaeton überquert den Himmel stolzgebläht in seinem Feuerwagen. Er fällt. Das Gestirn verfolgt seine Bahn auch ohne ihn.

Ein elektronisches Mini-Laboratorium verfolgt minutiös den Lauf des Himmels. Plötzlich – eine Explosion. Das Universum hat eine Panne. Alarm! Der Musiker startet die Zeit neu. Neuerlicher Alarm. Das Universum hört nicht auf, sich selbst fertigzumachen.

Der Musiker versucht, alles neu zu modellieren. Umsonst. Das Universum schwankt und fällt, die Anzeigen schlagen aus wie wild. Dieses Universum, das sich selbst fertigmacht, macht auch den Experimentator fertig.
Wo soll man wohnen in einer Welt, die sich desto mehr ändert, je mehr wir sie erforschen?

Serge Dutrieux – Jean-Pierre Larroche – Michel Rostain
EIN SPEKTAKEL AUS MANIPULATIONEN VON KLANGMATERIALIEN
Als Instrumentalmusiker fasziniert mich der Fortschritt der musikalischen Mikro-Informatik, wo die Klangerzeugung und Klangbeherrschung derselben Zuwendung in handwerklicher wie intimer Hinsicht entspringen wie jener, die ich meiner Geige entgegenbringe. Als Komponist erstrecke ich diese Klanguntersuchungen bis zur Erstellung einer Partitur. "Le Système du Monde" ist ein Aspekt dieses Abenteuers.

Ich habe an der Verfeinerung dieses informatischen Werkzeugs gearbeitet, bis ich jetzt meinen MacIntosh auf der Bühne "spielen" kann wie ein wirkliches Instrument. Und so spielt meine Violine – die ihren Resonanzkörper mit einer elektronischen Karte vertauscht hat – im Lauf der Aufführung selbst im Duett mit einem elektronischen System, das ich mit den Füßen steuere.
"LE SYSTÈME DU MONDE"
ist ein "Spektakel der Manipulation von Objekten und Bildern", aber auch ein Spektakel der Manipulation von Klangmaterialien, dank der jederzeit verfügbaren Speichermöglichkeit. Begriffe wie "Aleatorik, Zeit, Verzerrung" sind dabei ebenso konstituierende Elemente wie Live-Musik. Die Tonhöhen, die Rhythmen, die Intensität, Timbre, Zeit, Bindungen, Akzente sind ebenfalls musikalische Parameter, die ich real-time beeinflussen kann. Die Administration von alledem verlangte nach einem elektronischen Gerät, das für Live-Aufführungen geeignet ist.

Dieses Ziel haben wir erreicht durch Verwendung von:
1 Computer
9 Synthesizer
1 Sampler
4 Effektprozessoren
2 digital Mixer
1 MIDI-Geige, 1 elektrische Geige, 1 Baßgeige

Ein elektronisches Steuerungssystem, dessen Prototyp extra für dieses Werk geschaffen wurde.

Der gebaute Prototyp ist ein Ensemble aus 64 Pedalen, die mit einer Vielzahl Mikroprozessoren verbunden sind. Jeder Anschlag eines Fußes auf einem Pedal löst einen elektrischen Impuls aus, der sofort von einem Prozessor bearbeitet wird. Wenn die Funktion eines jeden Pedals einmal definiert ist, braucht das Signal nur mehr auf den richtigen MIDI-Kanal geschickt werden, um im Rechner eine vorprogrammierte Aktion auszulösen.

Dank der über MIDI-Kanal gesendeten Signale kann jederzeit in den musikalischen Ablauf eingegriffen werden: Abrufen eines bestimmten Mix, eines musikalischen Elements, Start oder Ende eines speziellen Effekts, Auslösung aleatorischer Elemente über die Zeit, die Tonhöhe, den Rhythmus, Akzentuierung usw.

Die MIDI-Geige selbst ist einesteils elektrische, anderenteils numerische Geige, sie generiert MIDI-Codes, die ebensogut elektronische Musikinstrumente steuern können wie ein Computer oder ein Mischpult. Steuert man geigenderweise etwa ein Mischpult, und ordnet man jede Note den verschiedenen Parametern des Mischpults zu, so kann man real-time auf alle Parameter der Abmischung zugreifen. Der elektronische Klang wird dann beim Spiel selbst ununterbrochen je nach dem Spiel des Geigers modifiziert.

Serge Dutrieux
TRAIN DE NUIT
Ein Pfeifen, als wollte es mein Trommelfell zerreißen, ohrenbetäubender Lärm, zwei Scheinwerfer auf mich gerichtet, der ich flach daliege, an die feuchte Wand geklebt, die Finger in den kalten Stein gekrallt. Der "Paris–Toulouse" fährt in den Tunnel ein. Gewaltiger Luft- und Staubstoß. Ein verwüstender Orkan.

Erinnerungen an einen kurzen Augenblick. Das kleine rote Schlußlicht flüchtet in die Ferne.

So habe ich die Schönheit des Klanges entdeckt, die Schönheit seiner Kraft.

Die Zeit ist vergangen, doch noch immer bleibt mir zäh die Erinnerung an eine Musik, die mich endgültig aus den akademischen Gleisen geworfen hat.

So teilt heute "TRAIN DE NUIT" alle Abenteuer mit mir, bei denen der Weg so viel bedeutet wie das Ziel.
Unserer Transportmittel: Das Licht, das Bild, der Klang

Serge Dutrieux
EIN THEATER FÜR DIE MUSIK
"Un Théâtre pour la musique!" Unter diesem Motto habe ich seit jeher unsere Arbeit verstanden. Neben den Repertoire-Opern gibt es in Frankreich auch Platz für musikalische Ereignisse, die gleichzeitig durch einen schöpferischen Geist, durch Lust am Abenteuer und durch Interesse an der Kommunikation bestimmt sind.

Meinen Gedanken liegt die Gewißheit zugrunde, daß es möglich ist, dem Publikum Wirklich lyrische "Spektakel" anzubieten, indem man das Theater und die Musik auf tausenderlei lebendige und neuartige Weisen verbindet, vom Instrumental-Theater bis zu Jazz-Opern, über Werke aus der Welt der zeitgenössischen Musik, über Video-Opern, über das Musik-Theater, über halbszenische konzertante Aufführungen und so weiter … Das kann uns sogar dazu bringen, bestimmte Stücke aus dem lyrischen Repertoire aufzugreifen, aber eben in einem neuen Kontext im Materiellen wie im Ästhetischen.

Aus diesem Geiste heraus hat "Un Théâtre pour la Musique" sich zuerst am "Rébus Malheureux" beteiligt, und jetzt eben das "Système du Monde" geschaffen. In einer Zeit, wo die Ausstattung eine so bedeutende, um nicht zu sagen überwältigende, Rolle in zahllosen lyrischen Produktionen spielt, erlaubt die Zusammenarbeit eines Komponisten und eines Bühnenbildners, in der sich ständig neu stellenden Frage einen Schritt weiterzugehen: Was ist am Theater als solchem einzigartig? Was ist das Theater? Was ist das Musiktheater?

Michel Rostain