SLP
' Selektion
Selektion
Joachim Pense, Stefan Schmidt, Roger Schönauer, Charly Steiger, Ralf Wehowsky, Achim WollscheidI. "SLP" bezeichnet eine Gruppe von Musikern (und ihr Projekt), die seit Beginn der 80er Jahre im Bereich der neuen Rock-Musik und im Grenzbereich zur elektronischen wie zur Tonband-Musik tätig sind, Sie arbeiten sowohl als einzelne Künstler als auch – in verschiedener Zusammensetzung – unter den Projektnamen SBOTHI, LLL, und P16.D4. Der gemeinsame Label-Name ist SELEKTION.
Bereits in der Struktur einer Rock-Gruppe findet sich die Tendenz zum Prinzip einer bestimmten Form von Zusammenarbeit: Verzicht auf explizite Autorenschaft und keine Trennung zwischen Komponist und Spieler; stattdessen ein fortwährender Austausch von Ideen und musikalischem Material. Diese kooperative Arbeitsweise ist für SELEKTION Voraussetzung kontinuierlicher Produktion.
Eine weitere wichtige Arbeitsgrundlage ist das internationale Mail-Music-Netzwerk, das für SELEKTION das Gerüst zur Distribution ihrer Informations- und Tonträger bildet. Dieses Netzwerk ist eine Bedingung für den Austausch von Information und musikalischem Material.II. VERBUNDEN MIT dem Austausch musikalischen Materials auf Tonband oder Compact-Cassette und seiner sequentiellen Bearbeitung ist das sogenannte "Recycling". Dieser Begriff bezeichnet die Vorgehensweise, bereits bestehende Materialien eigener oder fremder Quellen als materielle Grundlage für weitere Bearbeitungen zu nutzen. Wichtig ist, daß diese bereits einen Stand bestimmter Komplexität erreicht haben – nicht alle akustischen und musikalischen Materialien können verwendet werden.
Die musikalische Arbeit ist nicht so sehr Objekt-zentriert als vielmehr mit den allgemeinen Bedingungen von Austausch und Organisation beschäftigt.
Kooperation, Materialaustausch und Recycling bilden die Arbeitsgrundlage für NICHTS NIEMAND NIRGENDS NIE!, der DLP von P16.D4 und SBOTHI (1985/86). Beide Gruppen/Projekte hatten bereits zuvor zusammengearbeitet. NNNN! markierte den Zeitpunkt, nach dem eine allgemeine Diskussion der Vorgehensweisen und die parallele prozeßorientierte Arbeit am musikalischen Material notwendigerweise in den konzeptuellen Rahmen eines Tonträgers mündeten, der einerseits Dokumentation dieser prozeßorientierten Zusammenarbeit und andererseits eine komplexe Zusammensetzung von Klang-Material darstellte; diese Klang-Formationen resultierten aus verschiedenen kompositorischen Ideen auf der Ebene kurzer Stücke oder Fragmente und dem Tonträger als notwendig formbildender Bedingung (auf der Ebene der Makro-Struktur). SLP versucht, die Erfahrungen dieser kooperativen Arbeit und die von SELEKTION weiterentwickelte Tonbandmusik in eine vielschichtige Live-Präsentation zu überführen. Diese beinhaltet ein Live-Recycling der erwähnten NNNN!, eine Raum-Installation und eine Computer-Komposition, die das Klang-Material selektiert und so einen akustischen Raum schafft.III. AUF VIER Podesten im Zentrum eines quadratischen Raumes stehen, dem Publikum zugewandt, vier Operateure und bedienen vier Plattenspieler. Nach vorgegebenen Kompositions-Anweisungen werden verschiedene Passagen der vierten Seite von NNNN! per Tonabnehmer abgetastet, simultan oder in verschiedenen Kombinationen. Die Aktionen umfassen einfaches Abspielen oder Wiederholen einzelner Abschnitte ebenso wie den Einsatz abwechselnden Scratchings und perkussiver Nadelgeräusche, Das so produzierte Klang-Material wird zu einer Relais-Station geleitet. Dort können – nach Maßgabe des Computers – acht Stimmen (vier Stereo-Kanäle) durchgelassen oder elektronisch gelöscht werden. Durch den Lösch-Vorgang koordiniert der Computer die Anordnung der Stimmen, die sich in vielschichtigen Kombinationen überlagern. In den vier Raumecken befindet sich jeweils eine Lautsprecher-Gruppe, jeder Plattenspieler hat seine spezifische Raumdisposition, "erklingt" an Stirnwand, Rückwand, rechter oder linker Seitenwand. Die Raum-Installation von SLP trennt explizit den Ort musikalischen Geschehens vom (Ausgangs-) Ort des Klangs; der Zuhörer befindet sich zwischen dem (blick-)zentrierenden erratischen Bühnenfragment und der von ihm durch seinen jeweiligen Standpunkt gewählten Klangwand. Durch seine körperliche Präsenz beeinflußt er direkt die Klangentwicklung.
Thematisiert wird der Arbeitszusammenhang SLP nicht im Sinn einer ablesbaren "Message" als einer Programm-Musik oder einer technischen Demonstration des Recyclings oder der Computer-Komposition. Der Arbeitsprozeß der Produktion und der Selektion musikalischen Materials ist leitendes Motiv.IV. DIE VERÄNDERUNGEN struktureller Art im musikalischen Produktionsprozess beziehen sich in diesem Zusammenhang darauf, daß der Computer einerseits als universelle Maschine – "mächtigere" Verlängerung des menschlichen Arms – all das spielen oder ausführen kann, was dem Menschen ans physischen Gründen verwehrt ist (das Problem der Virtuosität) und andererseits nach bestimmter Programmierung als Komponist tätig werden kann, indem er z.B. nach stochastischen oder aleatorischen Programmen Partituren oder andere Spielvorgaben komponiert und ausdruckt. Konzeptuelle Absicht des Projekts SLP ist es, den Computer als "Regler" innerhalb eines prozessualen Recycling-Vorgangs multifunktional einzusetzen. Der Computer ist nicht ein quasi menschlicher "verantwortlicher" Komponist, seine Funktion – Erstellung und Kontrolle von Strukturen – bleibt unter ständiger Beobachtung durch den programmierenden Menschen. Der Computer perforiert und organisiert die Klangformation, die von den vier Platten abgetastet wird – die kompositorischen Überlegungen beginnen demnach mit einer Umkehrung der herkömmlichen Vorgehensweise. Nicht das punktuelle oder massierte Setzen eines Klangs, sozusagen eine aufbauende, klanghäufende Kom-Position, sondern die strukturelle Durchforstung einer bereits organisierten Klangmasse, also ein klangskulptierendes Vorgehen ist zentrales Motiv von SLP. Überlagerungs- und Selektions-Prozesse bringen in diesem Zusammenwirken neue musikalische Strukturen hervor.
Der spezifische Reiz, einen Computer einzusetzen, ergibt sich aus der Notwendigkeit explizit zu sein. Die Notwendigkeit, die eigenen Handlungen offen zu legen, hält den Komponisten davon ab, seine (möglicherweise unreflektierten) Arbeitsprozesse zu mystifizieren. Normalerweise ist es nicht notwendig, dem Computer Begründungen oder Erläuterungen zu liefern, diese Notwendigkeit entsteht jedoch dann, wenn weitere Mitarbeiter mit ihren differierenden Auffassungen in Bezug auf künstlerische Arbeit an dieser teilnehmen. Der Versuch, diese Explizitheit zu einer Grundlage des Projekts zu machen, ist Paradigma für SLP.V. VOM COMPUTER -Programm aus gesehen, besteht SLP aus vier Kanälen oder Stimmen, von denen jede zu jedem beliebigen Moment der Komposition zu- oder weggeschaltet werden kann. Das Programm reagiert weder auf den Klang, der gerade vom Tonträger zur Relais-Station geleitet wird, noch ist es Feedback auf den Klang im Raum.
Die Komposition des Programmes ist eine Studie rhythmischer Strukturen, die in komplexer Weise generiert, werden. Vierzehn kurze rhythmische Motive werden gegeneinandergestellt, gestaucht und/oder verzerrt; eine solche Bearbeitung bringt vierstimmige rhythmische Muster hervor, die z.B. manchmal nach dem Vorbild des menschlichen (sowohl des Lang- als auch des Kurzzeit-) Gedächtnisses reproduziert werden. Innerhalb dieses Rahmens erhält man eine große Bandbreite möglicher akustischer Ereignisse. Das Stück ist, in Korrespondenz zu den drei Stücken der vierten Seite von NNNN!, in drei Abschnitte unterteilt. Diese Abschnitte sind verschieden gestaltet – nicht nur, weil die Klänge auf der Schallplatte verschieden sind, sondern auch, weil die Parameter verschieden gesetzt wurden. Tatsächlich beziehen sich die Parameter auf das akustische Material der Platte, ein entscheidendes Kriterium ist dessen interne Komplexität.
Der erste Abschnitt ermöglicht ausführliche Schalttätigkeit, da das zugrundeliegende Stück aus einer Sequenz vermischter, dichter Geräusche besteht. Der zweite Abschnitt bezieht sich auf ein Stück mit einer fragmentierten zeitlichen Struktur mit langen Pausen: dies verhindert eine komplexe Behandlung durch den Computer insofern als diese nicht hörbar wäre. Das dritte Stück der Platte besitzt einen sich wiederholenden Grundrhythmus, der dazu neigt, jeden Schaltrhythmus zu dominieren.
Im ersten Abschnitt sind die klassischen Ideen musikalischer Entwicklung und das Modell des menschlichen Gedächtnisses vorherrschend.
Im zweiten Abschnitt werden die verschiedenen Effekte vorgeführt, die ein Taktmaß produzieren kann, wenn es mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten gespielt wird. Langsam gespielt, wird es als Rhythmus, bei steigender Geschwindigkeit als Klang wahrgenommen.
Der dritte Abschnitt ist in seiner Schaltstruktur reduziert, der entstehende gleichmäßige Grundschlag wird lediglich manchmal durch das Programm, die Schallplatten oder die Operateure unterbrochen.VI. OBWOHL verschiedene Teile der SLP-Aufführung komplex erscheinen – das Computer-Programm, die Information der Schallplatten – hat es trotzdem eine Struktur, die Analogien zum Gebrauch von Unterhaltungs-Elektronik aufweist, z.B. das Abspielen eines Tonträgers auf einer Stereo-Anlage (nur daß in diesem Fall vier Tonträgersysteme kombiniert sind).
Dies richtet sich gegen den eindimensionalen Gebrauch von Medien, sei dies die feste Verbindung von Instrument und Peripherie im Studio oder das prototypische Stereo-Hörer-Training.
Darüberhinaus zeigt SLP einen konzeptuellen Gebrauch allgemein bekannter Medien (einfacher Plattenspieler, Home-Computer, einfache Verstärker-Systeme). Das Interesse gilt nicht dem spezifischen Gebrauch eines Musik- bzw. technischen Instruments, sondern der Interaktion von Systemen technischer Instrumente auf der einen und sozialer Systeme auf der anderen Seite.
SLP ist Ausgangsmaterial für weiteres Recycling.
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