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Die imaginäre Bibliothek
DauerReden – LeseReisen

'Heiko Idensen Heiko Idensen / 'Matthias Krohn Matthias Krohn

Am Anfang war das Wort.

… es wurde gesprochen, getanzt, gesungen, geliebt, verdoppelt, erzählt, geknotet, gebetet, wiederholt, rezitiert, vergessen, eingeritzt, eingebrannt, gemalt, gemeißelt, geschrieben, in Tabellen gelistet, in magischen Formeln versteckt, gedruckt, gebunden, verlegt, als Fußnote an den Rand gedrängt, indiziert, gereimt, gezählt, formalisiert, codiert, compiliert, gespeichert, gescannt, als Muster wiedererkannt, übertragen, gefaxt, verschlüsselt, komprimiert, optimiert, transformiert, konvertiert, genormt, gelöscht, gelinkt, überschrieben, als Absprungsort markiert, zum Objekt erklärt, als Programm aktiviert, das Worte schafft …

Das Universum, das andere die Bibliothek nennen, setzt sich aus einer undefinierten, womöglich unendlichen Zahl ineinander verschachtelter Bildschirme zusammen. Weite, in die Tiefe führende Wege, die nur über das Aktivieren bestimmter Schalter zu erreichen sind, werden eingefaßt durch Markierungen am Rande dieser Blätter aus vergessenen Schätzen geschriebener, gezeichneter, imaginierter Buch-Utopien.

Die Anordnung der auf dem Bildschirm erscheinenden Bücher ist niemals dieselbe, ebensowenig die Art und Weise, in der sich der Benutzer durch die verschiedenen Gebiete der Bibliothek hindurch bewegt.

Das Buch ist bisher das radikalste Interface für den Entwurf virtueller Welten. Alle anderen Maschinen, an die sich der Mensch derzeitig anschließen kann, spiegeln hauptsächlich ihre eigene Funktionalität zurück oder lassen den gelangweilten Geist in raffinierte Rückkopplungsschleifen eintreten: Brainmachines. Sie erscheinen als blasse Abbilder eines phantasmagorischen Lesens.

Auf der Oberfläche der imaginären Bibliothek sind einige ausgewählte Exemplare besonders ungewöhnlicher, abwegiger Bücher, die in der herkömmlichen linearen papierenen Buchform nicht lesbar waren, als hypertextuelles Programm realisiert.

Trotz zahlreicher Hilfen, Reiseerleichterungen und Führungen durch das Labyrinth der Bibliothek wird der Benutzer, den wir den Reisenden nennen möchten, ohne ein Minimum an Phantasie, Leselust oder Expeditionsdrang nicht weit kommen.

Lesen und Denken kann sich in diesem mehrdimensionalen Raum der imaginären Bibliothek in verschiedene Richtungen entfalten: Von jeder Stelle der verzweigten Bibliothek kann man in die unteren oder oberen Stockwerke gelangen, sich horizontal oder vertikal fortbewegen. Im Verlauf dieses gezielten Umherschweifens ist ein Verirren des Lesers nicht ausgeschlossen, teilweise sogar erwünscht.

Die imaginäre Bibliothek ist kein Fundus katalogisierter Bücher. Sie bietet dem reisenden Leser eine Topographie interessanter Lesepfade, unterstützt ihn bei waghalsigen Exkursionen, kartographiert die erbeuteten Fundstücke. Ermattete Reisende werden animiert, durch Interviews und poetische Sprachspiele unterhalten.

Über eine spezielle Leitung ist eine Interaktion mit den "Agenten" der Bücher möglich: Ein imaginäres Erinnerungstheater, in dem die Reisenden mit antiken und modernen Autoren kommunizieren. Dieser wechselseitige Dialog gewinnt die Qualität einer mündlichen Rede.

Die Autoren der Bücher sind dabei weniger als Autoritäten oder Markenzeichen wichtig. Sie sind vielmehr als Etiketten vorzustellen, als geschriebene oder gedruckte Zettel, die an bestimmte Aussagen und Sätze geheftet sind. Mit dem Eintritt in die imaginäre Bibliothek wird der Bereich des geschützten Copyrights verlassen.

Die imaginäre Bibliothek präsentiert sich als virtuelle Lesemaschine, die – wenn sie nicht in einen Dialog mit dem Leser verwickelt ist – in ein kombinatorisches Dauerreden verfällt:

Plato: "Wer den unbeseelten Computer zum Lesen benutzt, in dessen Seele wird zugleich viel Vergeßlichkeit kommen, denn er wird das Gedächtnis vernachlässigen. Im Vertrauen auf die künstlichen Speicher werden sich die Menschen von nun an anhand von fremden, ihnen äußerlichen Zeichen und nicht mehr aus sich selbst erinnern …"

Schnell betätige ich einen Schalter, um das Dauerreden der Bibliothek gegen die Technologisierung des Wortes zu unterbrechen. Über eine Suchfunktion lande ich auf dem Index "Bibliotheksphantasie".

Foucault: "Etwas Wunderbares entsteht auf dem virtuellen Schirm, auf dem ein Schwarm vergessener Wörter sich mit lichtenen Lettern wie Viren ausbreiten … das Imaginäre haust zwischen dem Schirm und dem wachsamen Ausspähen des Lesers …"

Das soll in den Zwischenspeicher, ins Kurzzeitgedächtnis kopiert werden. Dort ist noch der Satz eines früheren Lesers abgelegt:

"Die Bibliotheken werden endlich Städte werden … ich habe die Fahrt nach einem Buch angetreten; vielleicht war es der Katalog der Kataloge; jetzt können meine Augen kaum entziffern, was ich schreibe …"
Bevor ich anfange zu schreiben, lasse ich mir noch ein Fragment zu "Index der Orte – Index der Gemeinplätze" auf den Monitor projizieren.

Ausgehend von einer Grafik mit sehr seltsamen magischen Zeichen rollt ein längerer Text vor meinen Augen ab, der – immer wieder mit kleinen Symbolen und Erinnerungbildern geschmückt – die Gestalt einer animierten Sequenz annimmt, die mich so fasziniert, daß ich immer wieder die Wiederholungsfunktion aktiviere. Aus heiterem Himmel meldet sich in einem kleinen Fenster unten links der maxwellsche Dämon: "Sie haben sich offensichtlich in einer Endlos-Schleife verfangen! Wünschen Sie eine Lesehilfe oder eine Zusammenfassung des Überflogenen? Möchten Sie vielleicht mit mir spielen?"

Über "Zusammenfassung" komme ich zu der Darstellung eines Theaters, das in verschiedene Gänge mit Bücherregalen zu verzweigen scheint. Ich erfahre, daß in der Renaissance jeder Intellektuelle bereits über einen Gedächtnispalast zum Aufbewahren von Reden und Textbausteinen verfügte: Eine frühe Vorform der imaginären Bibliothek?

Simonides: "Als Erinnerungsorte werden solche ausgewählt, die möglichst geräumig, abwechslungsreich und einprägsam sind, so daß unser Denken ohne Zaudern und Stocken alle Teile durchlaufen kann. Dann faßt man das, was geschrieben oder in Gedanken ausgearbeitet wurde, in einen Begriff zusammen und kennzeichnet diesen mit einem Merkmal, das zur Anregung des Gedächtnisses dienen soll …"

Aus dem Index der imaginären Bibliothek:
Abschriften/Arche Noah/Archive/Ars Combinatoria/Bibliotheksphantasterei/Buch der Natur/Buch im Buch/Buchobjekte/Buchrolle/Druckfehler/Emblematik/Gedächtnisarchitektur/Labyrinth/Landkarte einer Erzählung/Listen/Memory Theater/Robinson/Paradiesbuch/Pattern Poetry/Plagiate/Speicher/Topographie des Zufalls/Unendliches Buch/Universalbibliothek/Verzeichnis aller verlorenen Bücher/Zettelkasten/Zitieren/Zwischenraum der Texte