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Ars Electronica 1990
Festival-Programm 1990
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Festival 1979-2007
 

 

Anmerkungen zum Dichtungsprogramm POE


'Franz Josef Czernin Franz Josef Czernin / 'Ferdinand Schmatz Ferdinand Schmatz

Schon vor einigen Jahren hatten wir, Franz Josef Czernin und Ferdinand Schmatz, die Idee, eine Poetik zu entwickeln, die ermöglichen sollte, unsere Vorgangsweise beim dichterischen Arbeiten methodisch genauer darzustellen.

Da wir in unseren – wenn auch im Endeffekt sehr unterschiedlichen – Dichtungen den Blick auf ihre theoretischen Bedingungen nie vernachlässigen wollten, uns stets eine Art Schwebezustand zwischen erstellter Methode und dichterischer Freiheit ideal erschien, lag es nahe, die historisch gleichsam außerhalb angesiedelten Methoden und Praktiken in der Poesie, wie sie in den diversen Poetiken vorliegen, innerhalb des eigentlichen dichterischen Vorgehens anzusiedeln und sie selber zum Konstituens der Dichtung werden zu lassen. Ohne einem akademischen oder wissenschaftlichen Duktus zu verfallen, wollten und wollen wir die inneren und äußeren Vorgänge des oder besser: während des Dichtens erforschen, um ein wenig mehr Klarheit und Verstehen über das zu gewinnen, was wir unter dem Begriff des Kreativen oder Schöpferischen während unserer Arbeiten an den Tag und in den literarischen Kontext einbringen.

Dieses Vorhaben einer näheren Bestimmung des Kreativen in der Dichtung nahm dann konkrete Formen an, als wir unabhängig voneinander mit Personal-Computern zu arbeiten begannen und uns nach einiger Zeit der Einarbeitung klar wurden, daß über die reine Textverarbeitung hinaus sprachgenerative Möglichkeiten hinter oder in dieser neuen Technologie liegen, die auch den Künstler und Dichter zu interessieren hätten, da er einerseits mit den sich stürmisch entwickelnden Systemen der diversen Medien Schritt halten wird können; andererseits oder eben deshalb, weil er in der Weise einer poetisch-individuellen Grundlagenforschung Mittel in die Hand bekommen wird, die ihm Einblicke in kommunikative Abläufe geben werden, die als individuelle Erfahrung Modelle für kollektiv umfassende, intersubjektive Prozesse abgeben könnten.

Neben dieser aktuellen systematischen Perspektive ist die historische anzuführen, die u.a. bis zu den Überlegungen Lichtenbergs zum Verhältnis von Sprache und Denken, den Tagebuchaufzeichnungen zur Mathematik und Dichtung von Novalis zurückreicht; und über Mallarmés "coup de dés", Valérys "cahiers", über die diversen Strömungen der Avantgarde – mit den syntaktischen und semantischen Auflösungen im Dadaismus, der Neuortung des Wortes und der ästhetischen Funktion im (russischen) Formalismus und Konstruktivismus – der über die theoretischen Notizen und Versuche Musils z.B. bis hin zu den Sprachexperimenten der Wiener Gruppe und der gegenwärtigen Language-Poetry in den USA führt.

Vor diesem literarhistorischen Hintergrund und seinen nur durch (passives) Lesen nachzuvollziehenden Leistungen (Texten), war für uns wesentlich, mit dem Dichtungs-Programm POE – Poetic Oriented Evaluations: in Anlehnung an E. A. Poes grundlegende Analysen über "Die Methode der Komposition" oder "Die Logik des Verses" etc.) eine praktisch ausgerichtete Dimension der Anwendung von dichterischen Verfahren zu erreichen und den Werkzeugcharakter von POE besonders zu betonen.

Dieser umspannt zwei Bereiche: den der dichterischen Produktion und den der wissenschaftlichen Analyse (von Dichtung). Anders gesagt kann die Anwendung des Programmes von POE in der dichterischen Praxis selbst erfolgen oder in der Wissenschaft der Germanistik, Linguistik oder (da es sich um ein syntaktisches Programm handelt) der vergleichenden Literaturwissenschaft.

Die Konzeption von POE erfolgte und erfolgt in von Franz Josef Czernin geleisteter Detailarbeit, die sich in ihrer ersten Stufe auf Buchstaben und Silben, wie sie in Wörtern vorkommen, bezieht. Das Programm ermöglicht aus einem gegebenen Text oder Wörterbuch jene Wörter auszusondern, die gewisse Ähnlichkeiten und Unterschiede die Struktur ihrer Buchstaben betreffend aufweisen. Diese an sich rein syntaktische Leistung ist jedoch in die Poetik transformierbar, in die bewußt gehandhabte dichterische Praxis der Moderne: von Mallarmés bis zur gegenwärtigen Anagramm-Poesie (die sich der Buchstabenumstellung innerhalb eines oder mehrerer Wörter bedient und sonst kein anderes Buchstaben-Material verwendet).

Wichtig scheint uns zu unterstreichen, daß es sich bei Texten, die unter Anwendung von POE entstehen, keinesfalls um Computer-Gedichte handelt – die eine Maschine von sich aus erstellt und ausdruckt: daß aber, setzt man die erarbeiteten Funktionen in konstruktiv angemessener Art um, durchaus neue Texte entstehen, die ohne POE kaum erzeugt hätten werden können. POE ist also nicht nur ein unterstützendes Hilfs-Programm, das Wege, die beim dichterischen Arbeiten vom Gehirn oder von der Hand geleistet werden, auf vollständigere oder schnellere Art und Weise gehen kann. Es hat auch "kreative" Potenz und läuft auf "schöpferischen" Bahnen – nachdem ihm diese in Form eines zu schreibenden Programms vom Dichter oder vom analysierenden Wissenschafter vorgegeben wurden.

POE, das ständig weiterentwickelt wird, arbeitet mit der Programmiersprache Turbo Pascal und ist durch ein benützerfreundliches Menue einfach und übersichtlich zu bedienen. Auch jene Befehle betreffend, die POE nicht nur auf Buchstaben, sondern auch auf Buchstaben oder Silben oder Wörter von Teilsätzen, auf Teilsätze, auf Sätze oder auf beliebig festsetzbare Texteinheiten anwendet.
POE überwindet somit den Charakter eines Lexikons, sind doch Befehle möglich, die nicht nur die Buchstabenstruktur einer jeweils gesuchten Texteinheit feststellen lassen, sondern die auch imstande sind, die Veränderung von Texteinheiten eines gegebenen Textes in Auftrag zu geben.

So bietet die (in der modernen Dichtung zwar oft angewendete, aber mühsam zu bewerkstelligende) Permutation der Wörter aller gegebenen Sätze eines Textes die Möglichkeit, Kombinationen von sinntragenden sprachlichen Elementen zu produzieren, auf die man sonst nicht (so leicht und umfassend) stoßen würde. POE erlaubt neben dieser "sinntragenden" Funktion die automatisierte und schnelle Abwicklung dieses an sich zeitraubenden Vorganges, mit dem Effekt, aus allen durchführbaren Permutationen die für den Text passendste herauszufiltern.

Weiters ermöglicht eine Art "Text-Sieb" den Blick auf den ganzen Text unter bestimmten Gesichtspunkten und Vernachlässigung von anderen. Es läßt zum Beispiel alle Konsonanten und Vokale außer dem Vokal "a" durch den Rost fallen und zeigt die Verteilung von "a" in einem Gedicht graphisch am Bildschirm.

Poe/Makedic, eine andere Sub-Funktion des Programmes, wandelt jede beliebige ASCII-Datei in ein Wörterbuch um, in dem jedes Wort nur einmal vorkommt und untereinander geschrieben wird. Dann steht es der weiteren Verwendung für POE zur Verfügung.

Der Generierung eines neuen Textes aus einem alten und der Analyse eines Textes nach dem Grad der Verteilung von Buchstaben, Silben, Wörtern und grammatikalischen Kategorien dient das statistische Programm von POE: Ihm liegt unsere praktische Erfahrung (die sich nicht nur auf die erzählende Literatur beruft) zugrunde, daß die sinntragenden Ebenen eines Gedichtes nicht nur von der Bedeutung der verwendeten Wörter abhängen, sondern auch von der Häufigkeit der Buchstaben- oder Wortverteilung am Blatt. Daß also der Materialcharakter der Sprache auch die sinnlich wahrnehmbare Seite der Herstellung und Rezeption betrifft. Dementsprechend ist POE in der Lage, zum Beispiel: die absolute und relative Häufigkeit von Buchstaben oder eines beliebigen Buchstabens und von Buchstabengruppen oder beliebigen Buchstabengruppen zu analysieren. Ebenso die absolute Häufigkeit der Wörter, die der jeweiligen Sprachebene zugeordnet sind.

Was POE statistisch analysieren kann, kann es auch synthetisieren – das heißt: es kann aus einem gegebenen Text statistischen Wünschen des Autors entsprechend, einen neuen Text herstellen, der jene statistischen Eigenschaften hat, die der Autor wünscht (etwa Buchstabenvorkommen, Wortlängen, prozentuelles Verhältnis der Vokale, grammatikalische Kategorien etc. betreffend).

Über die Buchstabenstruktur innerhalb von Silben oder Wörtern hinaus kann aber auch der Zugriff nach beliebig festsetzbaren Textabschnitten, Satzteilen oder Sätzen erfolgen (um zum Beispiel den ersten Satzteil eines Satzes mit dem dritten zu vertauschen etc.).

Eine wichtige, auch für die Phonetik und Linguistik nutzbringende Leistung wäre die Analyse der den Buchstaben zugeordneten Lautqualität nach Ort und Art ihrer Bildung als Vokale, Labiale, Spiranten, Dentale etc. Diese Kategorien – wie beliebig von den Autoren zu erstellende – können im "configuration-file" definiert werden; und POE greift dann auf die ebenfalls markierten Textbestandteile zu.

Dieser wichtige Schritt in der Entwicklung von POE ermöglichte die Hinwendung auf die sprachliche Ebene der Grammatik.

Das, was im normalen Umgang mit der Sprache "unbewußt" durchgeführt wird, nämlich eine Klassifikation von Nicht-Sprachlichem nach verschiedenen grammatikalischen Typen, kann in der Dichtung zum Gegenstand des Gedichts werden (denken wir an die Untersuchungen von Roman Jakobson zur "Grammatik der Poesie und der Poesie der Grammatik"). Für das Herstellen eines literarischen Textes ist bei Bedarf die Manipulation von grammatikalischen Kategorien genauso wichtig wie die Manipulation von Lauten oder Silben. POE ist einerseits ein Werkzeug dafür, jene Manipulationen zu erleichtern und andererseits eines dafür, in schon gegebenen Texten die Spuren jener Manipulation (wie sie Jakobson/Levy-Strauss in den "chats" von Baudelaire in aufwendiger Such- und Zählarbeit nachwiesen) verfolgen zu können. (Folgender Befehl zum Beispiel wäre durchführbar: Vertausche in jenen Sätzen Substantiva und Verben, in denen die Substantiva drei Silben haben, in welchen die Buchstaben A oder O vorkommen. Mit Hilfe der (oben erwähnten) Meta-Zeichen ("Marker") ist es möglich, die grammatikalischen Kategorien (Hauptwort, Zeitwort, Adjektiv, Adverb, Konjunktion etc.; Subjekt, Prädikat, Objekt, Attribut etc.) zu markieren. Dementsprechend kann dann jener Befehl ("Replace", "Permutation", "Insert" etc.) gegeben werden, welcher die grammatikalischen Kategorien der entsprechenden Wörter berücksichtigt.)

An Erweiterungen, die das statistische Programm von POE betreffen, sowie an einem POE/GRAPHIK-Programm, das die Tendenz der modernen Poesie berücksichtigt, die Seite, auf die ein Text geschrieben wird, als bildnerische Fläche zu nutzen, wird zur Zeit gearbeitet. Ebenso die Möglichkeit, daß POE nicht nur über ein Wörterbuch arbeitet, sondern mehrere Wörterbücher in seine Analyse miteinbeziehen kann und die jeweils entnommenen Teile in der Ausgabe kennzeichnet.

Unter den hier kurz und auszugsweise zusammengerafften Aspekten verstehen wir POE in erster Linie als poetische Innovation, die durch konstruktive Transparenz ermöglichen soll, dichterische Entscheidungsprozesse am Programm einsehbar und nachvollziehbar zu machen.

Franz Josef Czernin, Ferdinand Schmatz
Wien, Herbst 1990


POE ist im Vertrieb von SEGUE FOUNDATION, 303 East 8th Street New York, NY 10009, erhältlich.

Ausgegangen wurde von folgenden drei Gedichten:
Zunächst von einer Strophe Hölderlins, von der die Laut (Vokal)Struktur von POE ermittelt, von uns übernommen und beibehalten wurde; daraus entstanden die Gedichte "tag" und "nacht":

Wo aber sind die Freunde? Bellarmin
Mit dem Gefährten? Mancher
Trägt Scheue, an die Quelle zu gehn;
Es beginnet nämlich der Reichtum
Im Meere. Sie
Wie Maler, bringen zusammen
Das Schöne der Erd' und verschmähn
Den geflügelten Krieg nicht, und
Zu wohnen einsam, jahrlang, unter
Dem entlaubten Mast, wo die Nacht durchglänzen
Die Feiertage der Stadt,
Und Saitenspiel und eingeborener Tanz nicht.


(Hölderlin)

TAG
sog aber licht; die leuchten wellartig
lind dem gelände; blasses
wägt heuers fracht. die nebel brummen
fern: seichtes, ständig der preisung
wind; gegeben trieb
sie daher, sinne umfangen
das röhren; der seh; und gewährt
den ermüdeten die sicht und
luft; oder weitab, fanal unter
dem vertrauten lacht horn in die fahrt, umschwärzend
die weissverplankten, der schwank
und kaibetrieb. und scheinersonnener glanz sinnt.


(Schmatz)

NACHT
so aber sind, die streunen gestaltig;
mit dem, gewächsen, schatten
schwärzt streuen; acht, die schwelle zu drehn;
es bestimmen, tränig der reibung
in leeren. wie
die wangen sinken, zustande;
das hören. der quell und erkrähn
den erhügelten tief; schicht und
ruht zonen scheinbar. andrang unter
dem verschauten: schacht, so dicht die pracht
durchrändernd.
die schreien sagen: der schwankt
und laibe zielt und eingezogenen hang misst.


(Czernin)
Anmerkung: Vokalstruktur der Hölderlin-Strophe; ebenso der Gedichte "tag" und "nacht", von denen ausgegangen worden ist.
sog licht; leuchten
gelände; blasses
heuers fracht. nebel
seichtes, preisung
wind; trieb
sinne umfangen
röhren; seh;
ermüdeten sicht
luft; fanal
vertrauten horn fahrt,
weissverplankten. schwank
kaibetrieb. glanz
gewächsen, schatten
schwärzt acht schwelle drehn;
reibung
leeren.
wangen
hören. quell erkrähn
erhügelten schicht
zonen andrang
verschauten: schacht, pracht

schreien sagen:
laibe eingezogenen hang misst
Anmerkung: Variation der Ausgangsgedichte "tag" und "nacht"; Haupt- und/oder Zeitwörter beibehalten.

Anmerkung (rechte Seite):
Resultat (Anfang und Schluß) einer POE-Vermischung aller Haupt- und Zeitwörter der Ausgangsgedichte "tag" und "nacht" auf der Ebene einer durch Beistrich definierten Wortgruppe;
Markierungen H (= Hauptwort), Z (= Zeitwort); HZ (= sowohl H als auch Z);
dieser Text stellt eine Zwischenstufe dar.
sogHZ – umschwärzendZ
leuchtenHZ – streuenZ;
wägtz – weissverplanktenHZ. streuenZ;
brununenZ – sinntz.
streuenZ;
gegebenZ – sinntZ.
sinneHZ – streuenZ;
röhrenHZ; – sogHZ
sehHZ;
gewährtZ
vertrautenHZ
umschwärzendZ
weissverplanktenHZ.
sinntZ.
sinntZ.
sogHZ
leuchtenHZ
wägtz
brummenZ – leuchtenHZ
– wägtz
gegebenZ
sinneHZ – und gegebenZ zieltZ und eingezogenenZH hangH misstZ.
röhrenHZ;
sehHZ; – und sinn e H Z ziel tZ und eingezogenen ZH hangH misstZ.
gewährtZ
– und röhrenHZ; zieltZ und eingezogenenZH hangH misstZ.
vertrautenHZ
umschwärzendZ – und sehHZ; zieltZ und eingezogenenZH hangH misstZ.
weissverplanktenHZ. – und gewährtZ
sinntZ. – zieltZ und eingezogenenZH hangH misstZ.
sinntZ. – und vertrautenHZ zieltZ und eingezogenen ZH hangH
– misstz.
sogHZ streuenZ;
leuchtenHZ streuenZ; – und umschwärzendZ
wägtZ streuenZ; – zieltZ und eingezogenen ZH hangH misstZ.
brummenZ
streuenZ; – und weissverplanktenHZ. zieltZ und eingezogenen ZH
gegebenZ streuenZ; – hangH misstZ.
sinneHZ streuenZ;
röhrenHZ; streuenZ; – und sinntZ.
sehHZ; streuenZ; – zieltZ und eingezogenenZH hangH misstZ.
gewährtZ
streuenZ; – und sinntZ.
vertrautenHZ streuenZ; – zieltZ und eingezogenen ZH hangH misstZ.

DÄMMERUNG
sog leuchten,
vertrautumschwärzend
brummen, streuen:
die zu drehn wägt
tränig der seh;
gegeben
die sinne,
die röhren;
die weissverplankten
sinken,
gewährt
der vertrauten;
erkrähn
tief sog und
leuchten wägt
umschwärzend
und ruht seh,
ruht scheinbar.
umschwärzend
weissverplankten unter
sinnt
unter
dem gegeben
sog leuchten,
wägt,
so dicht die gewährt,
so dicht die sinnt.
die vertrauten
dieumschwärzend
sagen:
die weissverplankten:
und sog zielt,
eingezogenen hang misst und sinnt.
Anmerkung: Endfassung; bearbeitete Zwischenfassung – wobei einige der von POE produzierten Vermischungen der Ausgangsgedichte beibehalten wurden. Es wurden ausschließlich die von POE erzeugten Wörter verwendet.