www.aec.at  
Ars Electronica 1990
Festival-Programm 1990
Back to:
Festival 1979-2007
 

 

Die heranwachsende Technologie des Cyberspace


'Randal Walser Randal Walser

*Die folgenden Ansichten stellen die Meinung des Autors dar und reflektieren in keiner Weise die derzeitigen Produkte, Unternehmenspolitik oder Pläne von Autodesk Inc., über welche Firma der Autor erreichbar ist.

** Anmerkung des Übersetzers: In den meisten Sprachen wird zwischen dem Darsteller und dem Dargestellten unterschieden (actor, character im Englischen, attore, personaggio im Italienischen usw.). Das Deutsche kennt für die handelnden Personen eines Stücks keinen Begriff ("Die Personen und ihre Darsteller", wie es im Film heißt ... ). Ich bin – um eine Doppelbesetzung des Begriffs "Person" zu vermeiden – im vorliegenden Artikel beim (auch nicht unproblematischen, weil bereits besetzten) Begriff "Charakter" geblieben.
Cyberspace ist ein neues Medium, das seinen Befürwortern recht stark das Gefühl gibt, in eine virtuelle Realität eingebunden zu sein (im Gegensatz zum Film beispielsweise, der zwar eine virtuelle Realität effektiv porträtieren kann, aber ohne dabei seinen Zusehern so zwingend das Gefühl zu vermitteln, tatsächlich inmitten dieser Realität zu sein). Obwohl der Cyberspace das wichtigste neue Medium seit dem Fernsehen sein kann, weist die dahinterstehende Technologie nichts radikal Neues auf. Die grundlegenden Komponenten sind alle leicht zu haben, einfach bei den Herstellern der verschiedenen Komponenten der heutigen PC-Technologie zu kaufen. Die essentiellen Bestandteile der Cyberspace-Technologie waren eigentlich schon seit den 60er Jahren zu haben, und viele Cyberspaces wurden auch schon von Leuten geschaffen, die sich solche perfektionierte Simulationssysteme leisten konnten. Heute stimulieren drei Faktoren ein breites Interesse am Cyberspace: 1) Eine schnelle ununterbrochene Leistungsverbesserung der Personal Computer, 2) die Verfügbarkeit von relativ billigen und dennoch mächtigen 3d-Rendering-Geräten und 3) eine Neukonzeption der Beziehung zwischen Mensch und Computer (siehe Haupttext).

Grundsätzlich ist ein Cyberspace eine Art interaktiver Simulation, auch kybernetische Simulation genannt, die menschliche Wesen als notwendige Bestandteile einschließt. Natürlich können alle interaktiven Simulationen ex definitione den Menschen einbinden, aber Einbindung ist nicht dasselbe wie Einschließen. Man kann eine interaktive Simulation stoßen und treten und von ihr Information zurückerhalten, ohne Teil von ihr zu sein. Eine kybernetische Simulation hingegen ist ein dynamisches Modell einer Welt, gefüllt mit Objekten, die einen größeren oder geringeren Grad von Intelligenz aufweisen. Bestimmte Objekte, Puppen genannt, werden von den Handlungen von Menschen (Patrons) gesteuert, deren Bewegungen über ein System von Sensoren aufgezeichnet werden. Generell gesprochen bewegt sich eine" Puppe" im virtuellen Raum in direktem Zusammenhang mit einem Patron im physikalischen Raum. Die Grundaufgabe der Cyberspace-Technologie – neben der Simulation einer Welt – ist es, eine enge Feedbackschleife zu errichten zwischen dem Patron und der Puppe, so daß der Patron die Illusion hat, er oder sie werde im wahrsten Sinne des Wortes durch die Puppe verkörpert (d.h. die Puppe gibt dem Patron einen virtuellen Körper, und der Patron der Puppe eine Persönlichkeit).

Die Beziehung zwischen Patron und Puppe ist in Abb. 1 dargestellt. Die Puppe überwacht die physikalische Welt über ein Sortiment von Sensoren, und agiert auf sie durch verschiedene Effektgeräte. Die Sensoren umfassen unter anderem 6D-Tracker (d.s. Geräte, die Position und Ausrichtung eines Objekts im Raum erfassen), Keyboards, Joysticks, Steuerräder, Geschwindigkeitsmeßgeräte, Druckmesser, Mäuse und Stimmerkennungsgeräte. Die Effektoren umfassen verschiedenste Graphik- und Video-Displays, Tongeneratoren, Widerstandsregler, Bewegungsplattformen, Kraft-Feedback-Geräte und so weiter.

Die Paradigmenverschiebung, die dem Auftreten des Cyberspace zugrundeliegt (siehe Haupttext), findet sich implizit in der Verwendung der Begriffe "Sensor" und "Effector" in Abb. 1. Nach der alten Ansicht wurden Computersysteme extrinsisch konstruiert, vom Standpunkt menschlicher "Benutzer" aus, die außerhalb des Systems stehen und "Eingabegeräte" zur Eingabe und "Ausgabegeräte" zur Ausgabe von Informationen verwendeten. Ein Cyberspace-System ist hingegen intrinsisch konzipiert, vom Gesichtspunkt von Puppen aus, die einen Intellekt (menschlich oder künstlich) im virtuellen Raum verkörpern. Deshalb bezieht sich der Begriff "Sensor" in Abb. 1 auf ein Gerät, durch das die Puppe Kenntnis von Ereignissen im physikalischen Raum erlangt. Dasselbe Gerät, etwa ein Keyboard, würde nach der alten Terminologie "Eingabegerät" genannt werden. So sind auch die "Effectors" einer Puppe die "Ausgabegeräte" nach alter Ansicht. Generell gesprochen beeinflußt der Patron den virtuellen Raum durch die Sensoren der Puppe und erfährt von den Ereignissen im virtuellen Raum durch die Effektoren der Puppe. Dies klingt sehr verwirrend, bis man seinen Standpunkt hin zu jener intrinsischen Betrachtungsweise verschiebt und feststellt, daß die Diskussion immer auf einen Standpunkt innerhalb des virtuellen Raums ausgerichtet ist (der Begriff "Patron" soll ja auch so etwas wie den tatsächlichen Besucher eines Ortes, etwa eines Museums, andeuten).

In William Gibsons Geschichten, beginnend beim "Neuromancer", verwenden die Leute ein Instrument namens "Deck", um in den Cyberspace zu "jacken". Das Instrument, das Gibson beschreibt, ist klein genug, in eine Schublade zu passen und stimuliert direkt das menschliche Nervensystem. Obwohl Gibsons Vision außerhalb der Reichweite der heutigen Technologie liegt, so ist es heute dennoch möglich, viele der Effekte zu erzielen, auf die Gibson anspielt. Eine Anzahl von Firmen und Organisationen entwickeln aktiv die essentiellen Elemente eines Cyberspace-Decks (obwohl nicht alle den Begriff "Deck" verwenden). Diese Gruppen umfassen auch die NASA, University of North Carolina, University of Washington, Artificial Reality Corporation, VPL Research und Autodesk, zusammen mit vielen anderen, die neue Forschungs- und Entwicklungs-Programme starten.

Bei Autodesk ist seit etwa einem Jahr der Prototyp eines Decks in Entwicklung. Die Architektur des Decks basiert auf der Feedback-Schleife aus Abb. 1. Zentrale Komponente ist ein objekt-orientiertes Simulationssystern aus kleinen schnellen Kernels (im wesentlichen eine Library von C++-Klassen), zusammen mit einer Shell, die es den Programmierern erlaubt, direkt mit Datenstrukturen und virtuellen Objekten zu interagieren. Ein "Cyberspace" in der Implementation ist dann eine kybernetische Simulation, bestehend aus einer Sammlung virtueller Objekte, die alle – bei jedem Simulationszyklus – die Möglichkeit haben, einen Beitrag welcher Art immer zur Konstruktion des nächsten Simulations-Frames zu liefern (wobei "Frame" ein Zustandsbeschreibungsmodell des Raums zu einem bestimmten Zeitpunkt in virtueller Zeit ist). Dies gibt den Cyberspace-Entwicklern große Flexibilität und Macht, weil das System überhaupt nichts hinsichtlich des Charakters spezieller Räume vorschreibt. Was in einem Raum geschieht ist ausschließlich vom Verhalten der virtuellen Objekte abhängig, und deren Verhalten wird entweder von Entwicklern vorprogrammiert oder spontan durch von Patrons gesteuerte Puppen ausgedrückt. Das Kernel enthält bestimmte fundamentale Objektklassen, wie mechanische Körper, die zu Mehrkörper-Systemen verbunden werden können, Sensor Handlers, und Display-Treiber. Drittentwickler können diese fundamentalen Klassen überspringen oder sie spezialisieren, um ihre eigenen Cyberspace-Decks zu entwickeln.

Neben dem Simulationssystem, das auf einem gewöhnlichen PC läuft (derzeit nur auf IBM und kompatiblen unter DOS), besteht das prototypische Deck aus sechs weiteren Komponenten: 1) Sensoren, 2) Effektoren, 3) Einem physikalischen Raumvolumen, dem Kontrollraum, in dem die Bewegungen der Patrons verfolgt werden, 4) Requisiten, wie Fahrrädern, Sesseln oder Geländern, die physische Analoga zu virtuellen Objekten darstellen, 5) einem Interface zu einem lokalen Netzwerk (derzeit Ethernet), und 6) eine Umgebung für das ganze Equipment (derzeit ein einfaches Büro). Eine typische Konfiguration ist in Abb. 2 dargestellt. Diese Konfiguration, die eine Tretmühle verwendet, würde es einer Person ermöglichen, in einer virtuellen Welt herumzulaufen, auf Objekte zu zeigen oder sie zu ergreifen, und gesprochene Kommandos auszugeben. Eine ähnliche Konfiguration, unter Verwendung eines Fahrrades (dessen virtuelles Gegenstück fliegen kann, wenn man nur schnell genug tritt), war bei der Siggraph 89 zu sehen (und bei Ars Electronica 89).

Bemerkenswert ist noch, daß ein Deck – zumindest bei Antodesks Ansatz – aus einer Sammlung lose gekoppelter Prozessoren besteht, darunter ganze Computer. Die Alternative dazu – die zumeist von den Erzeugern von High-End Simulationssystemen angewandt wird – ist die Verpackung von allem Notwendigen in eine einzelne Box, wobei alle Programme in einem geteilten Speicherraum ablaufen. Der Vorteil des lose gekoppelten Ansatzes liegt darin, daß Decks stückweise aufgebaut werden können, von billigen Decks mit beschränkter Leistungsfähigkeit, bestehend aus einem gewöhnlichen PC, bis hin zu Hochleistungsdecks aus mehreren PCs oder einer Hochleistungsmaschine zusammen mit einer exotischen Ansammlung von feinsten Sensoren und Effektoren.

In der nächsten Organisationsebene (Abb. 3 und 4) werden Decks in Netzwerke eingebunden, die es ermöglichen, daß mehrere Personen an einem Ort gleichzeitig teilnehmen. Bis heute ist sehr wenig im Sektor der Mehrpersonen-Anwendungen geschehen, aber VPL Research hat sein "Reality Built for Two"-System vor fast einem Jahr vorgestellt, und macht ständige Verbesserungen daran. Autodesk hat erst angefangen, mehrpersonen-fähige Systeme zu entwickeln, wird dieses Arbeitsfeld aber bald verstärken.

Mehrpersonenräume sind besonders aufregend und wichtig, weil sie versprechen, wesentlich lebhafter zu sein als Räume, in denen man nur mit einem Computer interagiert. In einem Mehrpersonen-Raum wird es immer (zumindest bei Autodesks Ansatz) die Möglichkeit geben, daß die virtuellen Objekte, denen man begegnet, von einem Menschen gesteuert sind, oder von einem Computer, oder überhaupt ungesteuert bleiben (unbelebt). Manchmal wird man wissen, was von wem (oder was) bewohnt ist, aber manchmal besteht die Überraschung darin, herauszufinden, daß Objekte wie Bäume oder Kühlschränke, die man immer für unintelligent gehalten hat, in Wirklichkeit voller ausgeklügelter Fähigkeiten stecken. Dies wird den Cyberspace beleben und ihm eine magische und erfreuliche (wenn auch spukhafte) Qualität verleihen.