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Ars Electronica 1990
Festival-Programm 1990
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Festival 1979-2007
 

 

VR Everywhere
Bekenntnisse eines Propagandisten der Virtuellen Realität

'Morgan Russell Morgan Russell

(Achtung! Sie betreten nun eine realitätsfreie Zone!)

"Es ist von zentraler Bedeutung, daß man die wahre Welt abschafft. Sie ist der größte Erzeuger von Zweifeln und ein Abwerter der Welt, die wir sind: Sie war unser bisher gefährlichster Versuch, das Leben zu ermorden. Krieg allen Vorurteilen auf deren Basis man eine wirkliche Welt ermordet hat!"

F. W. Nietzsche (Der Wille zur Macht)


VR EVERYWHERE!

"Es sollte möglich sein, auf einen Bildschirm das Abbild eines jeden Objektes zu projizieren, das man sich ausdenken kann. Ein solcher Fortschritt würde alle menschlichen Beziehungen revolutionieren. Ich bin überzeugt, daß dieses Wunder kommen wird, irgendwann in der Zukunft: und ich kann hinzufügen, daß ich viele Gedanken auf die Lösung dieses Problems verwendet habe"

Nikola Tesla (Meine Erfindungen, 1919)
Ost-Berlin war ja nicht gerade der Ort, wo ich erwartet hatte, der VR zu begegnen. Ich war zum Kommunikationskongreß des Chaos Computer Clubs im Februar 1990 gefahren, um jene "Outlaws" unter den Computer-Hackern zu treffen, die das Fehlen von Gesetzen gegen das Computerhacken ausnützen, um sich sorgenfrei zu versammeln. Ich habe Hacker von Weltklasse gefunden, aber am interessantesten waren die Ostdeutschen und ihre Reaktionen auf die technischen Präsentationen, besonders jene über VR von Berndt von Brincken. Sie haben jede Information begeistert in sich aufgesogen, aber als undifferenzierte Masse – bessere Telefone UND den Data Glove. VR war für sie nur einfach eine weitere westliche Anwendung.

Diese fehlende Scheu und der fehlende Respekt vor dem Höchsten, was High-Tech zu bieten hat, waren wirklich erfrischend. Die verehrungsvolle Distanz, die viele zwischen sich und die Hochtechnologie bringen, die war einfach nicht da. Den Ostdeutschen war es möglich, sofort konkret über diese ätherische neue Realität nachzudenken. Und keine Zeit wurde in solchen Sackgassen vertan, wie etwa einer endlosen Diskussion, ob diese Technologie nun gut oder böse sei. VR wurde einfach akzeptiert.

VR, wie die Physik, hat sowohl theoretische wie angewandte Zweige. Es gibt nur sehr wenige, die VR-Hardware und Software derzeit zur Verfügung haben; selbst die technologisch Fortschrittlichsten müssen sich derzeit mit dem theoretischen Reich begnügen. Es gibt keinen Grund, warum ein solides Nachdenken über VR nicht in Osteuropa stattfinden sollte, wenn die Leute nur zeitgemäß Informationen und die Möglichkeit haben, es tatsächlich auszuprobieren.

Es war mehr als nur ein perverser Sinn für Humor, der mich veranlaßt hat, vielen Mittel- und Osteuropäern intensive Briefings über VR zu geben. Es ist das nur eine Erweiterung meiner lang andauernden Kampagne, Philosophen, Musiker, Ästhetiker, Psychologen, Mystiker, Wissenschafter aller Art usw. in den VR-Dialog einzuladen, um das Gebiet zu beleben, zu verbreitern und zu bereichern, hybride Kräfte freizusetzen und neuartige Anwendungen zu identifizieren. Die interessantesten dieser atypischen VR-Be- und Erkenner habe ich eingeladen, in die "VR EVERYWHERE"-Gruppe – wildäugige Pamphletisten aus Ungarn, Österreich, Deutschland, den Niederlanden, Japan, Rumänien, der UdSSR, Großbritannien und – jawohl – den USA.

VR ist derzeit das heiße Thema bei der ungarischen Intelligenzia. Schröter Szilvia und Peternak Miklos (Autor des brillanten Essays "Hin zum Mißverständnis der Virtuellen Realität") mit der Unterstützung der ungarischen Akademie der Wissenschaften haben ebenso wie der Ausstellungspalast "Mücsarnok" Vorbereitungen getroffen, im Herbst 1990 VR-Equipment nach Budapest zu bringen. Schon plant die ungarische Akademie der Wissenschaften eine Vortragsserie über VR. Und es ist nicht nur das geistig befruchtende Potential, das mich dazu veranlaßt hat, "VR Everywhere" in Budapest zu stationieren – die Ungarn stellen auch das stärkste Kontingent in dieser kunterbunten Organisation.

Wenn Du, lieber Leser, kurze aber brillante Betrachtungen über VR hast, die Du gnadenlos herausgegeben und in vielen Sprachen und seltsamen Weltgegenden verbreitet sehen willst, oder aber außergewöhnliche sprachliche Fähigkeiten aufweist und bereit bist, tadellose Übersetzungen für nicht einmal ein Dankeschön zu machen, dann kontaktiere "VR Everywhere", Mücsarnok, Dòsza György Utca 37, P.0. Box 35, Budapest 1406, Ungarn. Antworten erfolgen innerhalb von zehn Jahren. (Diese unbezahlte Anzeige wurde durch schamlosen Mißbrauch von Autorität ermöglicht.)
VERHALTENS-BONSAI: SELBSTKULTIVIERUNG UND DER HECKENSCHNITT DER PERSÖNLICHKEIT.

" Ich möchte jene Idee lehren, die vielen das Recht gibt, sich selbst auszulöschen – die große Idee der Kultivierung."
Friedrich Nietzsche (Der Wille zur Macht, Aphorismus 1056)

"Die Welt ist meine Darstellung."
"Diese Wahrheit, die jedem sehr ernst und würdig, wenn nicht gar schrecklich erscheinen muß, ist, daß ein Mensch auch sagen kann und muß: 'Die Welt ist mein Wille'."

Arthur Schopenhauer (Die Welt als Wille und Vorstellung)
Wenn wir menschlichen allzu menschlichen Wesen anfangen, viel Zeit in VR zu verbringen, werden wir neue Geschöpfe werden. In dem Maße, in dem wir die Welt um uns mehr und mehr formen, werden wir uns auch selbst formen auf eine Art, die wir vielleicht gar nicht merken, bis wir schon etwas ganz anderes geworden sind, als was wir jetzt sind.
DAS "PRINZIP DER VIRTUELLEN REALITÄT"
Beim Aufbau unserer neuen Welten werden wir sie wohl zuerst mit den gewohnten Gegenständen unserer gegenwärtigen Realität einrichten: Gebäude im üblichen terrestrischen Architekturdesign usw. ... Wenn wir dann aber mehr Erfahrung in der Gestaltung unserer eigenen Realitäten haben, besonders auch in ihrer schnellen Erschaffung, werden wir immer weniger strikt mimetisch werden und mehr und mehr aus dem Unterbewußtsein zehren. Warum haben wir diese Formen für unsere VR gewählt und nicht eine andere?

Ich kann mir vorstellen, daß man auch mit seinem Psychoanalytiker in die VR geht (und wahrscheinlich eine Rechnung weit jenseits alles Irdischen erhält) und "Welt-Assoziation" spielt indem man Welten schnell und spontan erschafft. Transferenz-Neurose könnte wesentlich schneller behandelt werden, wenn der Therapeut tatsächlich etwa die Form unserer Eltern annimmt. Es gäbe keine Konsequenzen in der "wirklichen Welt", wenn man seinen ödipalen oder sonstigen Drang einfach auslebt. Die Ermordung des Vaters und die Vergewaltigung der Mutter könnten noch viel populärer werden und dennoch weniger Gerede bei den Nachbarn hervorrufen. Die abwegigsten und blutrünstigsten Triebe könnten ohne echtes Blutvergießen ausgelebt werden. Ob nun solche Triebe sicher entsorgt, oder "durchgearbeitet" oder nur intensiviert würden durch ein Ausleben in der VR – das bleibt noch zu sehen. Das wissen wir erst, wenn Jack the Virtual Ripper seine Eyephones abnimmt und seine glitzernden Augen auf sehen Analytiker richtet ...
"SKINNER SPACE"
Ich habe auch die Vision einer operationalen Konditionierung für die Selbstveränderung des Verhaltens. Konsequenzen des eigenen Verhaltens würden in die Struktur der eigenen Realität selbst eingebaut, um selektiv Annäherungen an gewünschtes Verhaltensmuster zu verstärken. Totale Kontrolle über die Umwelt in der Hand (und im Körper) einer Person würde ihr erlauben, sich selbst zu formen.

Bei der SIGGRAPH-Konferenz 1989 in Besten war ich in der sogenannten "Cyberspace-Suite", wo Randy Walser von Autodesk sein "Hicycle" vorführte, ein Trainingsfahrrad, das man in der VR fahren kann. Da ich nahe bei B.F. Skinners Heimat Cambridge wohne und VR-Equipment bei der Hand habe, habe ich Skinner angerufen und ihm über VR erzählt, und ihn zum Ausprobieren eingeladen. Ich habe VR beschrieben und was ich mir als eine Anwendung für "Skinner Space" vorstelle und dann habe ich William Bricken, den Forschungsdirektor von Autodesks Cyberspace Initiative dazugeschaltet, um zusätzlichen wissenschaftlichen Background zu vermitteln. Zu meinem großen Amüsement hat der sonnengebräunte sanfte William im Hawaii-Hemd überhaupt nichts über solche Sachen wie "diskriminative Stimuli" gesagt, sondern ist eingestiegen mit der Meldung: "Viele Leute berichten, daß ihre Träume lebhafter geworden sind." Und: "Man kann fliegen wie Superman!"

Ich hatte die Vision eines ältlichen Skinner, der mit arthritischen Fingern seine Schreibtischschublade aufreißt und die Beruhigungsmittelflasche entstöpselt. Offenbar sprach er da gerade mit gefährlichen Irren, und wenn diese Cyberpsychopathen schon einmal seine private Telefonnummer hatten, dann war er in seinem eigenen Haus ja auch nicht mehr sicher ...
"All I need is a good flux."
Morgan Russell

"Endloses Werden, endloser Fluß, gehört zur Enthüllung der essentiellen Natur des Willens."
Arthur Schopenhauer (Die Welt als Wille und Vorstellung)

"... Diese Welt muß immer von neuem und auf neue Arten transfiguriert werden."
F. Nietzsche (Der Wille zur Macht)

"Die Vergänglichkeit könnte als eine Vergnügung der produktiven und der destruktiven Kraft interpretiert werden, als eine kontinuierliche Schöpfung."
F. Nietzsche (Der Wille zur Macht)

!... im dionysischen Zustande ... wird das gesamte emotionale System aufgeschreckt und intensiviert, so daß es all seine Kräfte zur Repräsentation, Imitation, Transfiguration, Transmutation, alle Arten von Mimikry und Schauspiel gleichzeitig entlädt. Das Essentielle bleibt die Fähigkeit zur Metamorphose ... Der dionysische Mensch ... besitzt die Kunst der Kommunikation im höchsten Maße. Er dringt in jede Haut, in jede Emotion, er transformiert sich kontinuierlich."
F.W. Nietzsche (Der Wille zur Macht)

"Das Wort 'dionysisch' bedeutet: den Drang nach Einheit, ein Hinauslangen jenseits der Persönlichkeit, über den Abgrund der Vergänglichkeit hinweg: Ein leidenschaftlich schmerzvolles Überfließen in dunklere, vollere, schwebendere Zustände: eine ekstatische Bestätigung des totalen Charakters des Lebens als das, was gleich bleibt, ebenso kraftvoll, ebenso freudig, durch alle Veränderungen hindurch: das große pantheistische Teilen von Freude und Trauer, das selbst die schrecklichsten und fragwürdigsten Qualitäten des Lebens heiligt und gut nennt: der ewige Wille zur Fortschöpfung, zur Fruchtbarkeit, zur Rekursivität: Das Gefühl der notwendigen Einheit von Schöpfung und Zerstörung"
F.W. Nietzsche (Götzendämmerung)
Eine der Hauptcharakteristiken der VR ist ihre Formbarkeit. Die Formen der Welt und von einem selbst können nach Belieben verändert werden. Es gibt einfach keinen notwendigen "Heimatbahnhof". Ich glaube, daß die Verschiebung der Perspektive und die Schaffung immer neuer Formen, die das bereits Geschaffene notwendigerweise ersetzen, uns von einer statischen Ansicht unserer selbst befreien werden. Der Begriff des "Selbst" als solcher kann seiner Bedeutung beraubt werden. Wir werden wie Shiva im Cyberspace tanzen! (jedenfalls bis uns das Elektrizitätswerk den Strom abdreht oder der elektromagnetische Puls uns, die wir an selbstgeschaffene Galaxien und gestylte Planeten gewohnt sind, wimmernd in einer Ecke unserer Mansardenwohnung zurückläßt – gestrandete Götter in irisierendem Trikot...)