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Ars Electronica 1990
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Der virtuelle Vampir


'Doro Franck Doro Franck

Virtuell ist der größte Teil dessen, was unser Leben bestimmt: Erinnerungen, Erwartungen, Träume, Visualisierungen, Phantasien, mit- oder nacherlebte Fiktion: die Vergangenheit, die Zukunft und parallele, vorgestellte Welten. In Zukunft sollen auf technische Weise virtuelle Erlebnissphären vervielfacht und intersubjektiv zugänglich gemacht werden. Wenn ich einen Roman lese oder einer Erzählung zuhöre, bin ich natürlich auch in einer künstlichen virtuellen Welt. Nur produziere ich da alle Bilder und Sinneseindrücke mit meinem Vorstellungsvermögen. Die Intersubjektivität dieser virtuellen Welten ist an die Vermittelbarkeit von sprachlichen Inhalten gebunden und mit diesen begrenzt. Bei der technischen Produktion virtueller Welten hingegen wird die Herstellung der Vorstellung externalisiert und die Erfahrung damit objektiviert: sie kommt von außen. Realität wird nicht mehr evoziert sondern simuliert. Die Entwickler dieser Technologien sind insbesondere stolz darauf, daß der Konsument dabei nicht passiv zu bleiben braucht wie bisher in den virtuellen Welten der Medien, sondern aktiv steuernd und gestaltend eingreifen kann. Die Balance zwischen aktiver und passiver Teilnahme bleibt aber im Vergleich zu sprachlich übermittelten Vorstellungen gleich, als bei letzteren die Vorstellungen selbst "gemacht" werden – soweit man hier von einem aktiven Machen reden kann –, während bei der technischen Simulation der Ablauf der äußeren Bilder gesteuert wird, die Rezeption jedoch passiv bleiben kann.

Bisher blieb die Simulation beschränkt auf auditive und visuelle Reize. Diese beiden Sinnesdimensionen eignen sich besonders zur Herstellung von Illusion, bzw. die Unterscheidung zwischen virtuellen Welten und der aktuellen Wirklichkeit, zwischen Fiktion und Wahrheit scheint da begrifflich klar, wiewohl im Einzelfall Täuschungen gut möglich sind. Sobald wir diese Unterscheidung auch auf die anderen Sinnesorgane ausdehnen, wird klar, wie problematisch sie ist. Wenn ich Tannenduft rieche beim Waldspaziergang oder – synthetisch – im Badeschaum, treffen ja beidemal vielleicht die gleichen Duftstoffe auf meine Nasenschleimhaut. Der Mandelkuchen ohne Mandeln, den ich esse, ist er etwa virtuell?

Virtuell ist also nicht die Eigenschaft der Sinneseindrücke – auch die Schallwellen und Photonen der Simulationswelten sind ja reell –, virtuell ist ein Attribut der aus diesen Reizen konstruierten Welten, wenn wir sie als eingebettet in die wirkliche Welt erfahren. Das Erkennen der Simulation als Simulation ist vorläufig noch kein Problem. Aufgrund der Flachheit der Wiedergabe, insbesondere durch das Auslassen mehrerer Sinnesdimensionen (Tastsinn, Geruch, Geschmack), dringt genug Information durch die Ritzen dieser Welten, die uns in der Wirklichkeit verankert bzw. immer wieder in sie zurückfinden läßt.

Technisch gesehen sind die inneren virtuellen Welten, insbesondere der Traum, den technischen überlegen, weil wir da vergessen, daß wir träumen (oder halluzinieren). Erst wenn wir aufwachen und uns an den Traum erinnern, erklären wir das Erlebte – retrospektiv – zum Traum, zur Illusion. Was virtuell ist, bestimmt also vor allem das Wissen, aus welcher Quelle die Erfahrung stammt. Das Urteil geschieht von der Warte des wachen Normalbewußtseins aus, worin die Ausflüge ins Virtuelle immer verankert bleiben. Bei den künstlichen virtuellen Welten sind wir uns ja während der Erfahrung bewußt, daß wir uns im Illusionsbereich befinden. Wir befinden uns dann in zwei oder mehreren Welten gleichzeitig. Auch in Träumen können wir bisweilen diese Luzidität bewahren. Allerdings können wir uns dabei auch täuschen und die Welten verwechseln, z.B. in verschachtelten Träumen, wenn wir meinen bzw. träumen, eben aus einem Traum erwacht zu sein, uns jedoch nur in einem nächsten Traum befinden, was wir erst merken, wenn wir auch aus diesem wieder erwacht sind. Diese Erfahrung muß uns natürlich bedenklich stimmen, was unser Urteil über das Wirkliche betrifft. Ist unser waches Alltagsbewußtsein wirklich imstande, die letztendliche Wirklichkeit von permanenter Illusion zu unterscheiden? Hat unsere Welt einen festen Boden? Es hält sich ja hartnäckig das uralte Gerücht, daß wir auch aus dieser Wirklichkeit einmal aufwachen könnten in eine noch wirklichere ...

Virtuell ist nicht das gleiche wie fiktiv. Alles was uns nicht unmittelbar gewärtig ist im Hier und Jetzt, einschließlich unserer eigenen Geschichte und aller Teile der Welt, von denen wir nur wissen ohne sie wahrzunehmen, sind ja virtuell zu nennen. Auch im alltäglichsten Bewußtsein laufen Prozesse sozusagen auf mehreren Spuren zugleich ab. Neben der Wahrnehmung der unmittelbaren Umgebung, meiner eigenen Bewegungen und innerkörperlicher Vorgänge ist ein Teil meines Bewußtseins ja meistens in Vorstellungen, Erinnerungen, Erwartungen, Tagträumen oder in anderer Weise "abwesend". Wer ist – wie östliche Mystiker – schon immer "ganz da"? Unser Bewußtsein ist offensichtlich auf diese Mehrspurigkeit angelegt, deren sich die Welt der Bücher, der Medien und der elektronischen Simulation bedient. Durch das wachsende Angebot der Medien und die artifiziellen virtuellen Welten, die die Elektronikindustrie fürs kommende Jahrzehnt verspricht, wird diese Gespaltenheit natürlich noch verstärkt; als eine Art elektronischer Tourismus werden sie uns immer mehr aus der Gegenwart in virtuelle Fernen locken.

Interessant ist zu sehen, daß die Entwicklung der elektronischen Unterhaltungsindustrie in genau die entgegengesetzte Richtung marschiert als die Kunst unseres Jahrhunderts. Die Errungenschaft der modernen Kunst besteht ja gerade darin, daß die Ebene der Darstellung als Illusion bzw. Simulation verlassen wurde. Ein Bild ist nicht mehr primär eine Repräsentation eines imaginären Gegenstandes, sondern ein Gegenstand neben anderen Gegenständen in der wirklichen Welt; wenn er eine besondere Ausstrahlung hat, so verdankt er sie nicht einem virtuell dargestellten Gegenstand, sondern seiner eigenen Präsenz und Wirkung im Hier-und-Jetzt.

Die Wahl zwischen den Welten, in denen ich meine Zeit verbringen will, können wir auffassen als eine Wahl zwischen Quantität und Qualität, die ja im Bereich der Substitution und Simulation fast zu erwarten ist.
Die Dichte und Tiefe der virtuellen Welt, d.h. ihre "Wiedergabequalität" wird gegenüber der Wirklichkeit immer zu wünschen übriglassen. Auch können wir nie mit ungeteilter Aufmerksamkeit auf sie eingehen, weil ein Teil unseres Bewußtseins ja in der aktuellen Welt verbannt. Andererseits erleben wir letztere nur allzu oft, im halbwachen Zustand der Gewohnheit, als flache, schale Alltagswelt; wir nutzen das Potential der Wirklichkeit, wenn nichts Besonderes unsere Aufmerksamkeit intensiviert, nur zu einem Bruchteil. Im virtuellen Bereich wird jede Menge Besonderes angeboten, wir können dort, scheint es, "mehr erleben". Wie tief eine Erfahrung auf uns einwirkt, hängt schließlich nicht nur von der (technischen /materiellen) Dichte und Tiefe der erfahrenen Welt, sondern gleichermaßen vom Grad unserer Offenheit und Aufmerksamkeit ab. Ich erlebe nur so tief wie ich selber tief bin.

Als fortschrittsskeptischer (und abergläubischer) Mensch gebe ich aber zu bedenken: Wir können zwar die virtuellen Räume, in denen wir uns aufhalten, vervielfältigen; "mehr erleben" (als in der Wirklichkeit bei voller Aufmerksamkeit) können wir nicht, ganz einfach weil wir unsere Lebenszeit nicht gleicherweise vervielfältigen können. Die Parzen oder Nornen, oder wer immer unsere Lebenszeit bemißt, lassen sich von virtuellen Welten nicht irreführen. Sobald wir uns auf das Gebiet der Simulation begeben, opfern wir Lebenszeit für ein Erleben, das letztlich flacher bleiben muß und in dem die Möglichkeiten folgenreichen Handelns beschränkt sind. Die virtuelle Spur des Bewußtseins ist immer von der aktuellen abgezweigt. Nicht nur unsere Lebenszeit, auch die Fassungskraft unseres Bewußtseins ist nicht einfach zu verdoppeln. Wir können uns mit möglichen Welten nur auf Kosten der wirklichen befassen. Das Virtuelle ist parasitär zur Wirklichkeit; es kann zum Vampir werden, der – durchaus vergnüglich auch für das Opfer – uns das Blut der Lebenszeit raubt.