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Die Zukunft von Cyberspace - Wildes Grenzland gegen hyperrealen Grundbesitz (1)


'Bruce Sterling Bruce Sterling

"Cyberspace" ist heute ohnehin ein nebuloses Konzept, und wird durch die verschiedenen Versuche, Copyright-Ansprüche oder Musterschutz für den Terminus zu erreichen, noch weiter verwirrt "Cyberspace" im allerweitesten Sinne ist ein recht brauchbarer Begriff um ein technisches Grenzland zu kennzeichnen, das gerade verscherbelt wird – wobei der Begriff "Grenzland" auch wieder definiert werden müßte. Cyberspace ist sicherlich kein unerforschter natürlicher Raum, sondern ein höchst unnatürlicher Raum, ausgekocht im Nichts: Ein gigantisches Ödland aus Spiegeln, die die innere Mentalität der Pioniere reflektieren.

In dem Maße, in dem der "Cyberspace" besiedelt und entwickelt wird, werden die erfolgreichen Gebiete in seinem inneren den Status der Standard-Medien erhalten. (2) Folgt man den wachsenden Gruppen von Population, Geld und Macht, so kann man sich eine "Wissenschaftliche Visualisierung" als frühes und fruchtbares Gebiet vorstellen, begleitet vielleicht von dreidimensionalem computergestütztem Design, Spielen mit künstlicher Realität, die verschiedenen Unterprovinzen der Telepräsenz, der 3-D-Hypermedien und der Groupware.

Das heißt: Man kann solche Entwicklungen vorhersagen, wenn man das rein technische Potential im Medium "Cyberspace" untersucht. Anzunehmen, daß Cyberspace aber sein grundsätzliches technisches Potential ausnützen wird, ist naiv. Es liegt nicht in der Natur einer kapitalistischen Gesellschaft, ihre Medien zu endgültigen Formen zu führen; sie werden vielmehr zu Profitzwecken optimiert, während Versuche zu revolutionären Durchbrüchen zurückgehalten oder abgewendet werden. Wie Marvin Minsky einst so weise sagte: "Stellen Sie sich vor, das Fernsehen wäre wirklich gut. Es wäre das Ende von allem, was wir wissen."

Auch ein funktionierender Gibson'scher Cyberspace würde das Ende von allem bedeuten, was wir wissen. Versuche, das zu beenden, waren nicht selten – und es fallen einem Kambodscha und der Iran ein – sind noch selten gut ausgegangen. Die Zukunft des Cyberspace liegt heute in den Händen zweier rivalisierender Lager, die man grob als das technophil/utopische und das kapitalistisch/pragmatische umschreiben kann. Ihre Philosophen ließen sich jeweils zusammenfassen als "Schnell billig und außer Kontrolle" beziehungsweise "Flächenwidmungsplan für hyperreale Grundflächen". Um nun schon bei der Grenzland-Metapher zu bleiben, die Utopier könnten als Holzfäller, Bergfexe und Fallensteller – oder als glücklose Eingeborenenstämme betrachtet werden. Das rivalisierende Lager, das sich selbst als "Die Zivilisation" betrachtet, hat formelle Wegerechte, die Legislative, die Armee und die Eisenbahnen.

Die "Schnell billig und außer Kontrolle"-Mannschaft hat drei Vorteile: Geschwindigkeit, rücksichtslosen Mut und die Fähigkeit, sich mit wenig Geld dahinzufretten, also "aus dem eigenen Garten" zu leben. Ihre Fähigkeit, den Cyberspace zu regieren, ist auf lange Sicht gesehen praktisch gleich Null; wie andere Pioniere werden die meisten von ihnen ausgehungert, eingekauft oder von den Konsequenzen ihres eigenen Erfolges überwältigt werden, oder einfach auf die Weide getrieben. Derzeit allerdings können sie die heranwachsende Form des Cyberspace noch stark beeinflussen- und damit die Form seiner zukünftigen Bürokratie mitbestimmen – indem sie die Gesellschaft mit einer Serie technischer "Faits accomplis" konfrontieren. Sie ähneln daher recht wohl den amerikanischen Freibeutern, oder den französischen Afrikaforschern, die durch ihre aggressiven, wagemutigen und manchmal illegalen Expeditionen die kaiserliche (3) Autorität in die Wildnis gelockt haben. Die Techno-Utopier können Adam Smith's unsichtbare Hand in den cyber-räumlichen Data-Glove stopfen und den Markt dazu zwingen, sich mit dem bisher Undenkbaren durch Handschlag zu einigen.

Die Vorteile der kapitalistischen Pragmatiker sind jedoch vielfältig und weit: Sie beherrschen das Geldbörsel, und die Hebel der Macht die Unternehmungen kommerzieller, staatlicher oder wissenschaftlicher Art soziale Legitimität verleihen. " Cyberspace" bietet ein Fenster mit Aussicht auf radikale technische Veränderung, aber das Fenster wird nicht ewig offen bleiben. Es wird sorgfältig mit Läden versehen, damit ja kein frischer Wind die zahlenden Kunden verschreckt. Wie radikale Hollywood-Filme, ein Ritt in Disneyland, so werden echte paradigmen-ändernde Ansätze im Cyberspace rar sein. Und es ist nicht unmöglich, daß der Cyberspace überhaupt für ungesetzlich erklärt wird, wie Lysergsäure, besonders wenn er von einer technophilen Rhethorik getragen wird, die eine Revolution im Zustand der Menschen proklamiert.

Der erste funktionierende und weitverbreitete Cyberspace wird wahrscheinlich der "virtuelle Unternehmens-Arbeitsraum" sein. Dies ist oder wird ein simulierter 3-D-Raum sein, im Besitz einer Gesellschaft zum Zweck, ihren Geschäftsinteressen außerhalb den Beschränkungen von normaler Zeit und Raum nachgehen zu können. Es wird ziemlich wahrscheinlich auch möglichst aussehen, wie die Geschäftsräumlichkeiten eines erfolgreichen multinationalen Unternehmens: Hallen, Tore, Aufzüge, Fenster, Konferenzräume, Datenzentren und so weiter. Stellen Sie sich ein Flughafenhotel vor, mit noch etwas weniger Charakter, zusammengesetzt aus lauter verwaschen-farbigen Polygonen. (An diesem Punkt ist es hilfreich, sich daran zu erinnern, daß die ersten pferdelosen Wagen häufig falsche Pferdeköpfe an der Motorhaube befestigt trugen, damit Tiere und Passanten nicht in Panik verfallen.) Dieser Unternehmens-Betriebsraum wird höchst langweilig und eben "businesslike" sein, aus denselben Gründen der Designphilosophie, aus denen auch die Personal Computer beigefarbige Kisten bleiben müssen. PCs könnten in ihrer Vielfalt ja auch aussehen wie Sportwagen oder Designer-Handtaschen, oder gar wie Pinguine oder Einhörner; aber die Tatsache, daß dies technisch möglich wäre, heißt überhaupt nichts im Angesicht des kulturellen Widerstandes.

Spielzeug-Caberspaces könnten den virtuellen Arbeitsplatz am Markt natürlich schlagen, aber allein weil sie Spielzeug sind, werden sie etwa denselben kulturellen Effekt haben, den der hübsche, aber fast verachtete Atari Spielcomputer im Vergleich zum häßlichen, aber mächtigen IBM-PC hatte.

Die Personal Spiel-Cyberspaces werden allerdings die Faszination von dedizierten Mainframe-Cyberspace-Vergnügungsparks nicht in den Schatten stellen können. Der kommerzielle Vergnügungspark – mit dem ertragsbringenden Umfeld aus Souvenir-Shops, Zuckerlläden, kuscheligen Schlümpfen oder was gerade vermarktet wird, und einer intensiven, wenn auch unauffälligen Sicherheitsüberwachung – ist ohnehin – wie Jean Baudrillard bemerkt hat, – schon jetzt das Reich des Hyperrealen. Und Vergnügungsparkbetreiber sind deswegen allein schon bestens prädestiniert, die neuen Cyberspace-Technologien auszunutzen, nicht bis auf den Grund, aber in optimaler kommerzieller Weise. Die ersten Schritte in dieser Richtung kann man ja schon in Japan sehen.

Der dritte wahrscheinliche Cyberspace-Bereich wird die Kampfesarena um den Konsumenten sein. Versuche, Konsumgüter und Dienstleistungen über Bildschirm zu verkaufen, sind großartig gescheitert; aber es wird starke Bemühungen geben, die "Cyberspace Shopping Mall" zu erschaffen, indem die wohlbekannten Techniken von sogenannten "Anker-Geschäften" für Grundbedürfnisse mit "angehängten" Boutiquen und so weiter in einem virtuellen 3-D-Reich repliziert werden. Wenn schon die "Shopping Mall" selbst die Apotheose der Konsumgesellschaft ist – überwacht, abstrakt, auswechselbar, steril, optimal geplant um Kapitalfluß anzuziehen und zu leiten – so könnte ein ordentlich gestylter "Cyberspace" die Apotheose der "Shopping Mall" sein. Hybride Mischungen aus simulierter Einkaufszentren-Architektur, kombiniert mit "Telepräsentations"-Techniken zur Darstellung der tatsächlichen Güter könnten eine potente Mixtur sein.

Hier angekommen – und als Schluß – ist es angebracht, einige Lehren aus der Geschichte zu ziehen. Die Antwort Europas im 19. Jahrhundert auf die Frage nach der Künstlichen Realität war das "Panorama", eine Rundum-Leinwand, bemalt, mit allen Tricks aus Licht und Schatten, die dem Betrachter das Gefühl gaben, mitten in einem simulierten Reich zu stehen. Manche waren 15 Meter hoch, 100 Meter lang und wogen bis zu sechs Tonnen und wurden in speziell dafür konstruierten Gebäuden gezeigt, in Paris, Leipzig, München, Hamburg, Köln und vielen anderen Städten. Der österreichische Rundblick über Innsbruck (im Raiffeisen-Reisebüro Tirol) ist eines von vielleicht zwanzig überlebenden Panoramas dieser Art.

Große Teams von Malern und Graphikern wurden im Panorama-Gewerbe eingesetzt, und das Publikum dieses frühindustriellen Mediums ging in die Millionen; aber heute ist das "Panorama" eine Kuriosität, überstrahlt von anderen verfeinerten Medien, weniger grandios, aber leichter handhabbar. Viele der Bemühungen in und um den "Cyberspace" werden keinen, oder vielleicht nur beschränkten Erfolg haben, oder – wie die Panoramas – enormen Erfolg und Aufregung mit sich bringen, aber eben nur für bestimmte Zeit. Man kann überhaupt nicht sagen, was funktionieren wird, oder wie lange; was vom Goldfinger des unsichtbaren König Midas des Marktes berührt werden wird, und was bald so verstaubt sein wird wie die Laterna Magica. Je nach ihrer philosophischen Position im Cyberspace-Camp ist diese Tatsache entweder sehr bedauerlich, oder in der Tat recht glücklich.

(1)
Im Englischen spielt.der Autor mit den Begriffen "Real Estate" = "Grundbesitz" und "Hyperreal" – jenseits des Realen. Das Wortspiel ist leider unübersetzbar (A.d.Ü.)zurück

(2)
Wieder ein Wortspiel: "States-of-media" aus "State-of-art" – derzeitiger Standard und "Media" eben anstelle der Kunst (A.d.Ü.)zurück

(3)
"Imperial" heißt nicht nur" kaiserlich", sondern natürlich auch "herrschend" im Sinne des Imperialismus (A.d.Ü.)zurück