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Moderne Primitive


'Andrea Juno Andrea Juno

Die Virtuelle Realität wie sie die meist abtrünnigen Wissenschafter und Cyberpunk-Schreiber erdacht haben, ist ein aufregendes und berauschendes neues Ziel. Aber während wir in diese neue Welt eintreten, begleitet uns immer noch der lange Schatten unserer von der rechten Gehirnhälfte männlich-dominierten wissenschaftlichen Vergangenheit. Wir müssen uns immer noch mit dem Begriff des Körpers abmühen, während wir diesen Körper durch Reisen in unserem virtuellen Körper/Geist neu erfinden. In den vergangenen Jahrhunderten haben wir gesehen, wie eine gespaltene Welt das Schisma Körper gegen Geist, Erdenkörper gegen Industrie geschaffen hat. Mit zunehmender Arroganz und Gier des industriellen, intellektuellen Netzes wurde dieser Konflikt immer größer und selbstmörderischer. Die Spaltung zwischen Geist und Körper erzeugt immer mehr Psychosen und Ablehnung – man sehe sich die Reaktion an, die die wissenschaftliche/industrielle Welt mit der Ozonschicht, der Abholzung der Regenwälder, Atommüllagerung, etc. hatte. Was als allererste Priorität übrigbleibt, ist, mit unseren Körpern und unserem Erdenkörper zurande zu kommen.

Damit wir in virtuelle Körper springen können, müssen wir den Ursprung kennen – unsere eigenen Körper. Mein Partner, V. Vale, und ich haben ein Buch mit dem Titel "Moderne Primitive" herausgegeben, das sich mit den Manipulationen des Körpers zur Erzielung eskatischer und illuminativer Zustände durch Durchstechung, Tätowierung und Skarifizierung beschäftigt. Das Thema: eine moderne Synthese alter Stammesriten mit dem modernen urbanen Set auf der Suche nach einer neuen Integration innerhalb einer äußerst entfremdeten Welt. Einige der in unserem Buch betrachteten Praktiken können auch als Vorbereitungen für den Körper zum Sprung in virtuelle Zustände gesehen werden. Ich glaube, wir brauchen eine umfassende Sicht der Elastizität, Flexibilität und Sexualität des Körpers, bevor wir den potentiellen Gefahren der virtuellen Welt begegnen Gefahren von Sucht, noch mehr Spaltung und Entfremdung als wir sie jetzt schon haben. Man denke sich die süchtig machende, lähmende Wirkung des Fernsehens durch das Verbringen von Zeit auf einem Spielplatz der Virtuellen Realität verzwanzigfacht.

Es folgt die Einleitung für unser Buch "Moderne Primitive", 1989 von Andrea Juno und V. Vale geschrieben:
MODERNE PRIMITIVE untersucht ein lebendiges Rätsel unserer Zeit: das zunehmende Wiederaufleben deutlich sichtbarer (und manchmal schockierender)"primitiver" Körpermanipulationspraktiken – Tätowierungen, Mehrfachdurchstechungen und Skarifizierung. Vielleicht hat Nietzsche eine Erklärung: "Eines der Dinge, die Denker zur Verzweiflung treiben können, ist die Erkenntnis der Tatsache, daß das Unlogische für den Menschen notwendig ist, und daß aus dem Unlogischen vieles kommt, das gut ist. Es ist so tief in den Leidenschaften, der Sprache, Kunst, Religion und allgemein in allem verwurzelt, das dem Leben einen Wert gibt, daß es nicht entzogen werden kann, ohne dadurch alle diese schönen Dinge zu verletzen. Nur der Allzu-Naive kann glauben, daß die Natur des Menschen in eine rein logische verwandelt werden kann."

Die Zivilisation mit ihrer Betonung der Logik mag wohl erstickend und dem Leben entgegenwirkend sein, aber eine falsche von Klischees geprägte Vorstellung dessen, was "primitiv" ist, bietet keine Lösung für das Problem: Wie erreichen wir eine Integration der poetischen und der wissenschaftlichen Vorstellungskraft in unserem Leben? Es gibt Fallgruben auf beiden Seiten, und was absolut nicht beabsichtigt ist, ist eine Romantisierung der "Natur" oder der "primitiven Gesellschaft". Schließlich und endlich wurden durch die Fortschritte von Wissenschaft und Technologie viele geisttötende, sich wiederholende Arbeiten ausgeschaltet, und Erfindungen wie der preiswerte Mikrocomputer haben nie dagewesene Möglichkeiten für den künstlerischen Ausdruck des Einzelnen eröffnet.

Es ist offensichtlich, daß es unmöglich ist, zu einer authentischen "primitiven" Gesellschaft zurückzukehren. Jene der Tasaday auf den Philippinen und der Dayaks auf Borneo sind unwiderruflich verdorben. Nicht nur, daß sie von vornherein in zweifelhafter Art und Weise idealisiert und nur teilweise verstanden wurden, zeigen sich bei vielen "primitiven" Gesellschaften bei näherer genauer Betrachtung Formen von Repression und Zwang (wie zum Beispiel bei den Yanoamo, die einander rituellerweise die Schädel einschlagen, und afrikanischen Gruppierungen, bei denen die Klitoridektomie – die Entfernung der Klitoris – praktiziert wird), die für heutige emanzipierte Individuen unerträglich wären. Worauf das Wiederaufleben von "modernen primitiven" Aktivitäten hinausläuft, ist der Wunsch nach und Traum von einer idealeren Gesellschaft.

Inmitten eines fast universellen Gefühls der Machtlosigkeit, des "die-Welt-nicht-ändern-Könnens", verändern Einzelne, worüber sie Macht haben: ihre eigenen Körper. Diese Schattenzone zwischen dem Physischen und Psychischen wird nach allem erforscht, was an Einsicht und Freiheit herausgeholt werden kann. Indem sie unbekannten Wünschen und latenten Obsessionen, die an die Oberfläche drängen, körperlichen Ausdruck verleihen, können Einzelne Veränderungen – wie unerklärbar diese auch sein mögen – in der äußeren Welt des Sozialen provozieren, und darüber hinaus einen kreativen Teil ihrer selbst freisetzen; einen Teil ihres Wesens. (Ein verallgemeinerter Proselytismus ist hier jedoch fehl am Platz – manche Leute sollten sich eindeutig nicht tätowieren lassen. Eine Durchstechung ist keineswegs ein unfehlbares Anzeichen für fortgeschrittenes Bewußtsein; um es mit Anton LaVey zu sagen: "Ich kenne eine Menge Leute, die Tätowierungen und alle möglichen Modifikationen an ihrem Körper haben – und die mehr als verdreht sind!")

Die Kunst hat immer den Zeitgeist einer Epoche widergespiegelt. Jetzt in der Postmoderne, in der bereits die gesamte Kunst der Vergangenheit assimiliert, konsumiert, bekanntgemacht und nachgebildet ist, bleibt als letztes künstlerisches Territorium, das der Kooptierung und Kommodifizierung durch Museen und Galerien widersteht, der menschliche Körper. Denn eine Tätowierung ist mehr als ein Gemälde auf der Haut; ihre Bedeutung und Rückwirkungen können ohne Kenntnis der Geschichte und Mythologie ihres Trägers nicht verstanden werden. Somit ist sie eine echte poetische Schöpfung und immer mehr als sie zu sein scheint. Da die Grundlage einer Tätowierung die lebende Haut ist, emoviert ihr Wesen eine Heftigkeit, die einzigartig für die sterbliche Beschaffenheit des Menschen ist. So können auch keine zwei Durchstechungen identisch sein, da keine zwei Gesichter, Körper oder Genitalien gleich sind.

Gleich wie die Kunst erfüllen diese Körpermodifikationen eine wesentliche Funktion: sie "stimulieren die Leidenschaft in echter Weise und stammen direkt von den ursprünglichen Quellen der Emotionen, und sind nicht etwas vom kulturellen Reservoir Abgezapftes" (Roger Cardinal). Hier lebt unverwechselbar die vernachlässigte Funktion der Kunst: den Geist zu stimulieren. Und alle diese Modifizierungen legen Zeugnis für einen persönlich ertragenen Schmerz ab, der nicht simuliert werden kann. Obwohl ... Die Kooptierungsmaschinerie der Gesellschaft bewegt sich immer schneller: eine der jüngsten Ausgaben von New York Woman berichtet über den Vertrieb von nicht gestochenen Brustringen von 26,50 bis 10.000 Dollar! Zweifellos werden weitere Kommerzialisierungsversuche nicht lange auf sich warten lassen ...

In diesem Buch wird ein breites Spektrum von Prinzipien vorgestellt, angefangen beim Funktionalen ("Ein Ampallang macht Sex viel besser!") bis hin zum extravagant Poetischen und Metaphysischen. Die Urformen wurden untersucht; trotzdem sind viele, die Körpermodifizierungen praktizieren, nicht erwähnt – es war einfach nicht möglich, jeden von Bedeutung zu interviewen. Viele hatten ihre Experimente als Kinder begonnen: schon bevor er 12 war, hatte Ed Hardy angefangen, "Tätowierungen" auf seine Spielkameraden zu malen. Fakir Musafar spielte verschiedene primitive Rituale, die er aus dem National Geographic hatte, schon im Alter von 14 Jahren durch. Allen gemeinsam ist ein kreativer Imperativ, dem sie sich alle in einer Art letzter Verpflichtung unterworfen haben: Sie haben ihre eigenen Körper als künstlerisches Ausdrucksmittel zur Verfügung gestellt.

Die Notwendigkeit, dem Selbst die Authentizität des einzigartigen, durch und durch privaten Erlebens zu beweisen, wird zu einer immer schwieriger zu überwindenden Schwelle. Heutzutage ist etwas so Grundlegendes wie der Sex unentwirrbar mit einer Flut fremder Bilder und Stichworte verwoben, die von der Medienprogrammierung und der Werbung implantiert wurden. Aber eines bleibt ziemlich sicher: Schmerz ist ein einzigartiges persönliches Erlebnis; er bleibt mit einem greifbaren Schockwert beladen. Die extremsten Praktikanten des SM sondieren das psychische Gelände des Schmerzes auf der Suche nach einem "letzten" mystischen Beweis, daß in ihrer Beziehung (zwischen dem "S" und dem "M") die Bedeutung von "Vertrauen" bis an seine letzten Grenzen erforscht wurde, und machen erst kurz vor der Beibringung bzw. Erfahrung des Todes selbst halt.

Die zentrale Veränderung in der Welt des 20. Jahrhunderts – die pauschale Ent-Individualisierung von Mensch und Gesellschaft – wurde durch eine Überschwemmung mit Millionen von massenproduzierten Bildern bewerkstelligt, die, wenn sie auf Menschen einwirken, jede "logische" Widerstandsbarriere umgehen und die Gedächtniszellen jedes rezeptiven Betrachters in Reichweite kolonisieren. Fast unbemerkt wurden das "Erleben" aus erster Hand und unbefangene kreative Tätigkeiten (Hobbys wie z.B. Schnitzen oder die Herstellung von Quilts) zugunsten einer passiven Aufnahme von Bildern zur Seite geschoben, die das Gehirn "angenehm" oder "entspannend" findet: Fernsehen. Ergebnis: In der ganzen Welt haben Leute eine gemeinsame Bilderdatenbank bestehend aus Pseudoerinnerungen und -erlebnissen, Gesten und Rollenmodellen – sogar von Nuancen verschiedener Sprachstile, von Peewee Herman über JFK bis hin zum neuesten Werbespot.

Unser Geist wird durch Bilder kolonisiert. Bilder sind ein Virus. Wie wirkt ein Virus? "Viren sind keine Zellen; sie bestehen nur aus genetischem Material – DNS oder RNS. Aber sowie sich der Virus in einer Wirtszelle befindet, schleicht er sich selbst in den Nachbildungsprozeß der Zelle ein, indem er sich an ihre DNS oder RNS anhängt und die Zelle durch diesen Trick dazu bringt, mit denselben Mechanismen, die sie zum Kopieren ihrer eigenen Gene verwendet, weitere Viren zu produzieren. Ist sie einmal so sabotiert, kann die Zelle nicht nur ihre vorgesehene Funktion nicht mehr ausüben, sondern ist auch noch gezwungen, dem Feind bei der Vermehrung zu helfen." (Robin M. Henig, Vogue, März 1988). Wenn man kein echtes einzigartiges Erleben aus erster Hand in seinen RNS-kodierten Gedächtniszellen hat, – wie kann man da seiner eigenen grundlegenden "Identität" sicher sein? Und weiter: Wie kann man, wenn einem einzigartige Erlebnisse abgehen, etwas echt Exzentrisches schaffen? Praktisch jedes in der heutigen Welt mögliche Erlebnis – von einer Tour durch Disneyland bis zur Photosafari in Afrika – ist bereits aus einem Kinofilm oder dem Fernseh-Programm (welch passendes Wort) – im Gehirn registriert. (Wir sind programmiert, doch wofür? Wo enden die Bilder und wo beginnt die Wirklichkeit?) Zynisch betrachtet, paßt es, daß das Wort "faux" (ein populäres Korrelat des akademischen Bedeutungsträgers "Simulation") sich so fest im Arbeitsvokabular der 80er-Jahre eingebürgert hat.

Alle "modernen primitiven" Praktiken, die heute wieder aufleben – die sogenannten "Dauer"tätowierungen, Durchstechung und Skarifizierung – unterstreichen die Erkenntnis, daß man selbst dem Tod, dem Sensenmann, ohne zurückzuschrecken gerade ins Auge blicken muß, als Teil unserer dauernden Bemühungen, uns aus unseren Komplexen zu befreien, unsere versteckten Instinkte kennenzulernen, unerklärliche Aggressionen abzuarbeiten und abwegige Triebe zu befriedigen. Der Tod bleibt das Maß, an dem die Authentizität und Tiefe aller Aktivitäten gemessen werden können. Und eine (komplexe) Erotik war immer schon der große unerbittliche Feind des Todes. Es ist notwendig, die Masse an unterdrückten Begierden, die im Unbewußten liegen, zu enthüllen, so daß eine neue Erotik, die die gemeinsame Identität von Schmerz und Genuß, Delirium und Vernunft umfaßt und sich auf der völligen Kenntnis des Bösen und der Perversion begründet, entstehen kann, um radikal verbesserte soziale Beziehungen anzuregen.

Alles sinnliche Erleben dient dazu, uns von "normalen" gesellschaftlichen Beschränkungen zu befreien, unsere abgestumpften Körper zum Leben zu erwecken. Alle Aktivitäten dieser Art sind auf ein Ziel ausgerichtet: die Schaffung des "ganzheitlichen" oder "integrierten" Menschen; auf dem Weg dahin sind wir immer noch Gefangene, die einen imaginären Tunnel in die Freiheit graben. Unser unbezahlbarstes Hilfsmittel, die unbehinderte Vorstellungskraft, stützt sich auch weiterhin auf den einzigen wirklich wertvollen Besitz, den wir jemals haben und kennen können, und mit dem wir tun können, was wir wollen: den menschlichen Körper.