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Zur dramatischen Interaktion


'Brenda Laurel Brenda Laurel

Kunst oder existenzieller Rekurs? Virtual Reality kann, gleich dem Drama, der menschlichen Erfahrung eine transformierende Linse vorschieben.

Vor vierzehn Jahren, als ich mit höheren Studien der Theaterwissenschaft beschäftigt war, erlebte ich eine Bekehrung. Ein Freund von mir arbeitete für einen großen Think Tank, wo er der Leiter einer neuen Abteilung für Computergrafik und Imaging war. Spät eines Abends fragte er mich, ob ich einen Computer sehen wolle. Wir gingen durch drei Sicherheitskontrollen, mit einem Aufzug hinauf und durch ein Labyrinth von Raumteilern zu einem Arbeitsplatz, wo auf einem kleinen Bildschirm Bilder Gestalt annahmen. Ich glaube, wir haben uns den Mars angesehen. Alles, woran ich mich heute erinnern kann, ist, daß ich das Tor zu einer neuen Welt sah, einer Million neuer Welten. Ich fiel auf die Knie und sagte, koste es, was es wolle, das muß ich lernen.

Seitdem ich begonnen habe, mich mit dem Medium zu beschäftigen, treibt mich eine ungeheuer reichhaltige Metapher an. Sie gleicht einem Fraktal, je genauer ich sie betrachte, desto mehr sehe ich.

Computer sind Theater.
Interaktive Technologie bietet ebenso wie das Drama eine Bühne für die Darstellung von kohärenten Wirklichkeiten, in denen die Agierenden Handlungen mit kognitiven, emotionalen und produktiven Eigenschaften setzen.

Neulingen springt diese Computer-als-Theater-Metapher oft ins Auge, wenn sie zum ersten Mal mit der virtuellen Welt eines Computerspiels in Berührung kommen. Designer nehmen Theaterjargon in ihren Prozeß auf – vom Computer geschaffene "Akteure" empfangen "Regieanweisungen"; Anwender "legen bereitwillig ihren Unglauben beiseite". Aber der Vergleich vegetiert dahin, wenn er einmal an der Oberfläche ausgebeutet ist. Die reichen Unterschichten von formalem und produktivem Wissen, die der Computer-als-Theater-Metapher ihre Kraft verleihen, bleiben unergründet. Und doch wurden Jahrtausende von dramatischer Theorie und Praxis auf ein Ziel verwandt, das der Gestaltung der Interaktion von Mensch und Computer in bemerkenswerter Weise ähnelt; nämlich künstliche Wirklichkeiten zu schaffen, in denen das Potential für Aktion auf kognitive, emotionale und ästhetische Weise gesteigert wird.

Die Gestaltung der Mensch-Computer-Interaktion wird nach wie vor von einem "wissenschaftlichen" Ansatz bestimmt. Wir zählen Tastenanschläge, messen die Augenbewegungen des Anwenders und analysieren Fehler, unter Zuhilfenahme von Disziplinen wie kognitiver Psychologie und Ergonomie. In jüngerer Zeit haben künstlerische Disziplinen wie grafisches Design und Storytelling widerwillig Annahme gefunden, aber die heutige Designpraxis sieht sie als etwas der Computerlandschaft grundlegend Fremdes. Kunst und Wissenschaft, Weichlinge und harte Männer, die Träumer und die, die den Code schreiben – sie bilden These und Antithese der Computerdialektik.

Aber Kunst hat Daseinsberechtigung.
Diese Sicht stellt die Dialektik auf den Kopf, Es ist kein Zufall, daß Aristoteles, der Begründer der Poetik, auch der Vorläufer der Westlichen Wissenschaft war. Wenn wir die Erfahrung Mensch Computer mit der selben Strenge und Logik untersuchen, können wir eine Reihe von Prinzipien ableiten – eine Poetik der interaktiven Form – die weit über die stückwerkhafte Wissenschaft, die momentan im Mittelpunkt der Gestaltung der Mensch-Computer-Interaktion steht, hinausgehen kann.

MIMESE
An der Wurzel der Ähnlichkeit zwischen computergestützten Umgebungen und Kunst ist der Begriff der Mimese: eine Darstellung, deren Gegenstand entweder real oder imaginär sein kam. Computer verleihen diesem Konzept eine dritte Dimension, indem sie die Interaktivität ins Spiel bringen – die Idee, daß Anwender zu Mitschaffenden werden, die in den tiefsten Schichten an der Gestaltung eines mimetischen Ganzen mitwirken.

Wir sind mit der Vorstellung vom Computer als einem Mediums-Emulator vertraut. Wir malen mit virtuellen Pinseln und machen Musik mit MacIntoshes. Wir wissen, daß Computer die konkreten Werkzeuge der Kunst nachahmen, expandieren und vergrößern können. Aber der zutiefst mimetischen Natur der Technologie sind wir uns weniger bewußt, die es uns ermöglicht, nicht nur existierende Medien nachzuahmen, sondern auch völlig neue zu schaffen. Und um das zu tun, müssen wir entscheiden, was wir schaffen wollen. Die meisten von uns beginnen damit, daß sie auf der Suche nach Antworten zur Technologie blicken. Da steht er, der Meister-Formveränderer. Was tun mit dieser glänzenden Masse grenzenlosen Potentials?
GROßE LDEEN
Meine erste Antwort auf diese Frage bekam ich von Alan Kay, als ich im Atari-Forschungslabor für ihn gearbeitet habe. Er sagte, wenn du wissen willst, wohin du unterwegs bist, dann entwickle die richtige Große Idee. Diese Große Idee muß machtvoll genug sein, um deine ganze Vorstellungskraft in Beschlag zu nehmen, gut genug, um dich völlig zu befriedigen, wenn du sie je erreichst. Es muß unmöglich sein, sie von dort zu erreichen, wo du jetzt bist. Wenn du die richtige Große Idee hast, dann wird alles worüber du nachdenkst, und alles, was du tust, wie von selbst damit in Einklang kommen, so wie magnetische Teilchen, und du wirst dir nie mehr darüber Gedanken machen müssen, ob das, was du tust, bedeutungslos ist.

In der Computerlandschaft finden sich wieder und wieder solche Großen Ideen, die Sogwirkung haben, magnetisierende Gedanken und Ausdrücke. Einige von ihnen sind ziemlich vertraut. Vor langer Zeit und weit entfernt im Land von Lochkarten und Stapelverarbeitung, gab es das Paradigma der "Conversationality". Es war riesig und unmöglich. Schließlich führte es zum command-line, "tit-for-tat" Interface, das uns heute so uninteressant scheint, das aber die Interaktivitäts-Erfahrung des Anwenders exponential ansteigen hat lassen.

Sketchpad und Smalltalk waren Wegweiser zu einer weiteren Großen Idee – der Darstellung von manipulierbaren Objekten. Das Objekt-Paradigma nimmt an, daß wir die physischen Eigenschaften von Dingen – Form und Masse und Behälterfunktion nachahmen und daß diese virtuellen Objekte einen machtvollen metaphorischen Zusammenhang bieten können, um Dinge mit Computern zu tun. Desktops, Icons, Dateien und Ordner wurden alle in diesem Magnetfeld realisiert.
"VIRTUAL REALITY"
Die Große Idee des Augenblicks ist zweifellos der Begriff der "Virtual Reality". Von den Grotten des wahnsinnigen Königs Ludwig über Disneyland zu Computerspielen, "virtual realities" dringen schon seit sehr langer Zeit in unsere Kultur ein. Jetzt, am Kreuzungspunkt von Phantasie (True Names von Vinge, Neuromancer von Gibson) und Technologie (das NASA VIEW System, Lamers Reality Built for Two), ist das Paradigma schließlich zusammengekommen. John Walker von Autodesk beschreibt es als ein Eintauchen durch den Bildschirm in die Welt im Inneren des Computers. Endlich keine ikonischen Darstellungen, keine metaphorischen Umwege mehr. Wir können mit der virtuellen Welt umgehen, als ob sie real wäre. Eine alternative Wirklichkeit im Kasten.

Also, was werden wir tun, wenn es soweit ist?
Im NASA-System kann man ein Modell der Space Shuttle durchwandern oder in einen Roboter hineinklettern. Das Autodesk-Team sieht CAD-Arbeiter vorher, die in ihren eigenen Entwürfen umhergehen. In Laniers Version können zwei Menschen virtuell denselben virtuellen Raum bewohnen und virtuellen Ball spielen. Die Unterhaltungsindustrie wird uns zweifellos unzählige Sportsimulationen und virtuelle Reisen anbieten. Aber ich sehe immer wieder ein Bild vor mir wie aus einem traurigen, surrealistischem Film ein paar Gestalten, die in einem einsamen Maskenzug umhergehen und gelegentlich einen Ball in die Luft werfen. Nach der ersten Techno-Euphorie wird man mit jemandem reden wollen. Und vielleicht nicht bloß mit jemandem, der auch an einem Terminal hängt. Einem virtuellen Jemand. Marilyn Monroe, Einstein, Captain James T. Kirk.

Ich sage voraus, daß wir, so wie bei den Computerspielen, das ganze Repertoire von Imitationen von Spielen und körperlichen Aktivitäten durcheilen werden, und so die Technologie verbessern und kleine Wegweiser der Konvention einpflanzen, und dann werden wir beginnen, nach komplexeren Interaktionen zu verlangen.
DAS PARADIGMA DER INTERAKTIVEN PHANTASIE
(If Paradigma)
Und hier fügt sich alles wieder ein in die Theater-Metapher. In seiner Poetik bemerkte Aristoteles, daß sich die Menschen mit großem Eifer aufs Lernen stürzen, es macht ihnen ungeheuren Spaß, und am liebsten tun sie es durch Nachahmung – etwas schauspielerisch darstellen. Das ist die Triebkraft sowohl hinter dem Theater als auch hinter Computerspielen. Die Große Idee ist die Vision von einer Erfahrung, wo ich eine Traumwelt schaffen kann und wo diese Welt automatisch reagiert. Es ist wie Indianerspielen oder wie Improvisation im Theater, nur besser – denn ich muß nicht die Hälfte meiner Gehirnleistung darauf verwenden, mir eine interessante Handlung einfallen zulassen. Ich kann einfach in dieser anderen Welt sein, in eigener Person, spiele mich selbst oder Captain Kirk oder jemand ganz anderen, und dann kann ich sehen, was geschehen würde, wenn.

Das Kernstück des Paradigmas der interaktiven Phantasie ist die Fähigkeit, durch Einsatz derselben formalen und strukturellen Dynamik, die in jedem guten Stück vorhanden ist, handfeste dramatische Interaktion zu schaffen. Das System würde sich weitgehend so verhalten wie ein menschlicher Bühnenautor, der mit einer bizarren Einschränkung arbeitet; eine seiner Gestalten ist ein Mensch aus Fleisch und Blut, der in deinem Studio umhergeht, Sätze einwirft und Dinge tut die du ins Drehbuch einarbeiten mußt. Wenn dramatische Richtlinien und Heuristik in ein System auf Computerbasis integriert werden, könnte dramatische Handlung in Realzeit formuliert werden, indem die Reaktionen der virtuellen Welt und deren Gestalten gemäß der Entscheidungen und Handlungen des Anwenders geformt werden.

Der Wunsch, eine "Interaktive Phantasie-Maschine" zu schaffen, ist nur die neueste Ausdrucksform des Jahrhunderte alten Wunsches. Unsere Phantasien greifbar zu machen – unseres unersättlichen Bedürfnisses, unsere Vorstellungskraft, unser Urteilsvermögen und unseren Geist auf Welten, Situationen und Personen anzuwenden, die sich von unserem alltäglichen Leben unterscheiden. Das vielleicht wichtigste Merkmal der menschlichen Intelligenz ist die Fähigkeit, den Prozeß des praktischen Ausprobierens zu verinnerlichen. Wenn sich jemand überlegt, wie man auf einen Baum steigt, dient die Vorstellungskraft als ein Labor für virtuelle Experimente in Physik, Biomechanik und Kinesiologie. In Fragen der Gerechtigkeit, Kunst oder Philosophie ist die Vorstellungskraft das Labor des Geistes.

Es genügt nicht, das Leben zu imitieren. Das Drama bietet eine Methodologie zum Entwerfen von Welten, die so angelegt sind, daß sie bedeutsame, fesselnde Arten von Handlungen möglich machen – wo die Personen Entscheidungen fällen, die zu ihren Ergebnissen in klarem kausalem Zusammenhang stehen, wo größere Kräfte wie Ethik, Schicksal oder "Serendipity" *) Bedeutungskonstellationen ergeben, wie sie die reale Welt nur selten bietet. Dramatisch konstruierte Welten sind gelenkte Experimente, bei denen das Nebensächliche weggestutzt und der Kern menschlicher Entscheidungen und Situationen durch bedeutsame Handlungen klar dargestellt wird. Die Anlagen solcher Welten sind in den Wesenszügen der in ihnen agierenden Personen und in der Palette der in ihrem Umfeld angesiedelten Situationen und Kräfte verkörpert. Wenn wir solche Welten interaktiv werden lassen können, sodaß die Entscheidungen und Handlungen eines Anwenders durch die dramatische Linse gehen können, dann ermöglichen wir einen Einsatz der Vorstellungskraft, des Intellekts und des Geistes von völlig neuen Dimensionen.

Copyright 1989 von Brenda Laurel. Teile dieses Essays werden in dem Buch von Brenda Laurel, Computers as Theatre, Addison-Wesley Publishing Co., in Bearbeitung (Februar 1991) erscheinen.

*) Anm.d.Ü.: Serendipity: die Gabe durch Zufall glückliche u. unerwartete Entdeckungen zu machen (geprägt von Horace Walpole in Anspielung auf die Erzählung "The Three Princes of Serendip")