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Ars Electronica 1990
Festival-Programm 1990
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Festival 1979-2007
 

 

At least not by me


'Willem de Ridder Willem de Ridder

Über die Augen weiß man noch recht wenig, ich zumindest. Vielleicht sind andere Leute zufrieden damit, wie sie Dinge sehen, – ich hatte schon immer das Gefühl, daß ich nicht genug sehe. Ich habe das Sehen jetzt schon lange Zeit studiert, aber ich verstehe immer weniger davon. Als Knabe kam ich dahinter, daß irgend etwas eigenartig war mit meinen Augen. Um mehr über sie herauszufinden, begann ich mit ihnen zu experimentieren. Ich erinnere mich noch deutlich an den ersten aus einer langen Reihe von Versuchen. Ich setzte mich vor einen hohen Baum und versuchte ihn zu sehen. Über eine Stunde lange betrachtete ich ihn gespannt, weil ich mir vorstellte, daß man ihn schließlich zur Gänze sehen könnte, wenn man lange genug hinschaut. Je länger ich aber schaute, desto mehr verschwamm das Bild. Der Baum schien sich die ganze Zeit zu verändern. Nach einer Weile bemerkte ich, wie sich meine Gedanken einmischten. Sie lenkten die Augen anscheinend ab und hinderten mich daran, den Baum vor mir wirklich zu sehen.

Später verbrachte ich vor dem Spiegel sitzend lange Stunden damit, mein Gesicht zu betrachten, – was ich sah, wurde aber immer weniger. Mein Spiegelbild veränderte sich dauernd, bisweilen jagte es mir sogar einen Schrecken ein. Ich versuchte, mit dem Denken aufzuhören, das machte aber alles nur schlimmer. Die Gedanken tauchten nun mit doppelter Geschwindigkeit auf. Ich wußte nun, daß irgend etwas in mir mich darin hinderte, Natur so zu sehen, wie sie ist. Vielleicht war irgend etwas nicht richtig mit meinen Augen, oder vielleicht mußte ich sie erst trainieren. Mehr als ein Jahr lang mußte ich damals – täglich 20 Minuten lang – in eine andere Stadt und zurück fahren. jeden Morgen stieg ich in den Zug, setzte mich ans Fenster und schaute gespannt auf die immer gleiche vorbeiziehende Landschaft. Jeden Tag sah ich etwas anderes. Es war zum Verrücktwerden.

Ich fing an zu malen. Noch ehe die Sonne aufging war ich schon in meiner Lieblingsgegend und malte sie. Ich machte zahllose Bilder von exakt der gleichen Landschaft, aber alle waren sie unterschiedlich. Nie konnte ich wirklich sehen, was dort war. Das Bild in mir blieb unbeständig. Dann hörte ich von einer chemischen Substanz, die mit der Wahrnehmung komische Sachen anstellte. Eine gute Freundin erzählte mir, daß sie, wenn sie LSD genommen hatte, die Welt, so wie sie wirklich ist, sehen könnte. Ich hatte ihr nie von meinen Forschungen erzählt, umso mehr lösten ihre Bemerkungen ungeheures Interesse bei mir aus. Ich begab mich in die Gegend, die ich so oft gemalt hatte, setzte mich hin und schluckte das LSD. Natürlich kannte ich jedes Detail der landschaftlichen Szene vor mir. Sobald die Droge auf mich zu wirken anfing, verschob sich das Bild mehr als sonst. Verzweifelt versuchte ich, mich darauf zu konzentrieren, je mehr ich aber an dem, was ich zu sehen meinte, festzuhalten versuchte, desto mehr begann es sich zu verändern. Schließlich verwandelte es sich – zu meiner großen Bestürzung – vollkommen!

Alle Bäume waren weg. Ich sah eine weite offene Ebene und in der Ferne Berge. Eine fette Schlange wand sich zu meinen Füßen – ich dachte der Teufel holt mich jetzt. Mit aller Kraft versuchte ich mich zu konzentrieren, aber jetzt war ich in einem üppigen Dschungel, voller wilder Tiere. Ich spürte, wie der Boden unter meinen Füßen weich wurde, ich sank ein. Ich war in den Sümpfen und der Schlamm stand mir bis zum Hals. Steif vor Angst ertrank ich in einem Bombardement von strahlend farbigen Sphären. Ich trieb zwischen ihnen umher, aber sie verfehlten mich alle. Nun fühlte ich mich sicher und Friede kehrte bei mir ein. Ich muß dort wohl Stunden verbracht haben und mir alles – nur nicht die Landschaft vor mir – angeschaut haben.

Diese Erfahrung veränderte die Art meiner Forschung. Obwohl es mir zu glauben schwer fiel, dämmerte es mir allmählich, daß es da draußen am Ende gar nichts zu sehen gab. Vielleicht war ich bloß von einer 360 Grad Leinwand umgeben, auf die ich meinen Lieblingsfilm projizierte. Wahrscheinlich waren meine Augen nur Linsen und der Projektor war in meinem Kopf. Selbst wenn ich die Augen schloß ging die Projektion weiter. Meine Träume sind mir schon immer sehr wirklich vorgekommen (jedenfalls während ich schlief). Sobald ich aufgewacht war, wußte ich natürlich, daß ich geträumt hatte. Aber wer sagt, daß ich überhaupt wach war? Vielleicht träumte ich – Tag und Nacht! Wann werde ich schließlich aufwachen und feststellen, daß ich geträumt habe? Wenn ich sterbe?

Ich begann über die wissenschaftliche Forschung auf diesem Gebiet zu lesen. Speziell seit man Computer will, die sehen können, gibt es eine Menge Forschung über Wahrnehmung, Augen, Gehirne etc. Bald schon merkte ich, daß die meisten von uns keine Vorstellung davon haben, was Sehen alles beinhaltet. Wir halten es für selbstverständlich (ich kann nie mit jemandem über meine eigenen Nachforschungen reden, ohne daß mich die Leute nicht sofort komisch ansehen) – aber es ist eines der großen Rätsel. Wir wissen, daß in jeder Sekunde etwa 300 Mio. Impulse unsere Augen bombardieren und nur etwa 1 Mio. wird davon aufgenommen. Wer oder was trifft für mich die Auswahl? Nur ein Bruchteil von dieser ausgewählten Million erreicht das Gehirn. Lediglich einige wenige tausend passieren die Schranke, damit sie schließlich ihre Bestimmung erfüllen, dafür verwendet zu werden, um unser Bild von der Realität "da draußen" zu schaffen. Wer ist der Zensor? Was würde zu sehen sein, wenn alle 300 Millionen Impulse eingelassen würden?

Ich entschloß mich, das Malen überhaupt aufzuhören. Ich nahm das Papier von der Staffelei und zerknüllte es zu einer Kugel. Die zerknüllten weißen Papierkugeln nannte ich "Papierkonstellationen" und stellte sie aus. Die Betrachter konnten ihren Film in diese amorphen Formen hineinprojizieren. Wie beim Anstarren einer Wandtapete. Ich wurde mit Erfolg Zeitungsverleger und begann mit der Wahrnehmung meiner Leser zu spielen. Mir wurde bald klar, daß die sogenannte Realität bloß ein Haufen Übereinkünfte war, welche wir schlossen. Geschichten, die wir glaubten.

Sehen muß erst gelernt werden. Als Kind sehen wir nicht viel. Wahrscheinlich sehen wir Farbflecken oder -felder. Allmählich fangen wir an, Gegenstände zu erkennen. Dann werden alle diese Formen bezeichnet. Unsere Eltern geben uns die entsprechenden Worte. Wir übernehmen das Übereinkommen. Je mehr Worte wir erlernen, desto deutlicher fangen wir zu sehen an. Sobald wir etwas 100prozentig glauben, beginnen wir es zu "sehen". Meine Zeitung war ein großartiges Vehikel dafür, die Leser an allerlei Vorstellungen, die ich ihnen machte, glauben zu machen. Die Effekte waren wunderbar. Aus der Zeitung wurde eine Bewegung. Eine Art, die Dinge zu sehen.

Ich begann mit Filmen, TV und anderen visuellen Medien zu experimentieren, mit der Absicht, die allgemeingültige Wahrnehmung zu manipulieren. Ich stellte fest, daß zwei Drittel unseres Gehirns auf die Aufnahme visueller Eindrücke eingestellt ist. Das ist eine dominierende Funktion. Zwei Drittel unserer Sensoren erzeugen Bilder. Wir haben gelernt, sie zu bezeichnen. Die Bezeichnung ist eine Übereinkunft mit anderen in unserer Kultur. Ohne sie könnten wir nicht kommunizieren und wir würden von den anderen getrennt sein, was totale Panik auslösen würde. Wir tun alles, um uns an diese Kultur anzupassen. Sie ist ein Gefängnis, das wir uns selbst errichtet haben. Den Schlüssel dazu haben wir beim Fenster hinausgeworfen.

Ich fühlte mich in einem Psychogespinst verfangen. Ich wollte einen anderen Film auf der Leinwand rund um mich. Einen anderen Traum als den, den ich zu träumen trainiert war. Ich ging nach Hollywood, der Stadt, in der die meisten Träume der westlichen Welt produziert und affirmiert werden. Dort wohnte ich im Hause des ersten Filmstars, der je seinen Mund auf der Silberleinwand weit geöffnet hatte und gehört wurde. Al Jolson, ein Weißer, der sein Gesicht anmalte, damit er aussähe wie ein Schwarzer. Der erste Tonfilm war das Ende einer stummen Ära, in der die Kinos Geschichtenerzähler anstellen mußten, die dem Publikum erklärten, was es sah.

Visuelle Arbeiten hatte ich überhaupt aufgegeben. Ich fand es lächerlich, das Gehirn mit Bildern zu bombardieren, wie TV und Film das machten. Das Gehirn war vollkommen in der Lage bessere zu erzeugen, als je ein Film (oder Gemälde) das könnte.

Film und Fernsehen in Hollywood hatten einen ebenso einfachen wie tödlichen Trick erfunden, mit dem sie ihr Publikum vor dem Bildschirm festleimten. Die durchschnittliche Aufmerksamkeitszeitspanne wurde gemessen und dann hielt man sich an dieses Limit. Alle Aufnahmen mußten kurz geschnitten werden, damit sie innerhalb dieses Rahmens blieben, sonst würden die Zuseher sich langweilen und das Gerät abschalten. Wie Schoßhündchen glotzten wir so auf diese Lawine von Bildern. Nicht daß sie besonders interessant gewesen wären. Nein, lediglich ein physikalischer Prozeß hielt unsere Aufmerksamkeit aufrecht. Nach Jahren fader Filme im Schnellauf gewöhnt sich das Publikum natürlich an so etwas. Eine ganze Nation lernt schneller zu sehen. Die Aufmerksamkeitsspanne schrumpft und Hollywoods Antwort darauf ist, die Filme noch kürzer zu schneiden. Heutzutage sind die Filme schon so schnell, daß wir sie kaum noch sehen können. Videoclips und Werbefilme sind selbstverständlich im Vorfeld des Schnellschnitts.

Viel schneller geht nicht mehr, dann wäre alles nur noch verwischt. All diese Augenblickbilder müssen natürlich augenblicklich erkannt werden. Wir müssen uns mit dem Ersten Eindruck begnügen. Mehr und mehr gewöhnen wir uns an sehr straffe Übereinkommen. Die Kultur verengt sich. Das Gefängnis wird immer kleiner. Jeder, der ein Fernsehgerät hat, weiß das schon längst: Es ist wie das Zuschauen beim Ringelspiel. Das selbe Holzpferd zieht immer und immer wieder vorbei. Es ist wie meine Experimente mit dem Baum und dem Spiegel.

Wenn zwei Drittel unseres Gehirns auf die Erzeugung von Bildformen ausgerichtet sind, dann ist es natürlich lächerlich, mit zusätzlichem Bildmaterial zu arbeiten. Das Gehirn wird auf diese Weise träge und vergißt, wie sich das gute Zeug selbst herstellen läßt. Jeder weiß, daß man Backgroundmusik in Filmen nicht hört. Sie ist zwar laut genug, aber der Ton wird von den visuellen Stimuli überwältigt, so daß man ihn nicht mehr "hört".

Seit es Fernsehen gibt, ist Radio ein zweitrangiges Medium geworden. Geschichtenerzähler sind verschwunden. Die Aufmerksamkeitsspanne wird immer kleiner, jeder in der Medienbranche weiß, wie schwer es heutzutage ist, die Leute dazu zu bringen, sich etwas wirklich anzusehen. Filme sind so ungeheuer teuer geworden, weil immer aufwendigere und bessere Effekte notwendig sind, um beim Publikum hinreichend Aufmerksamkeit zu erregen.

Deshalb konzentrierte ich mich aufs Radio und Geschichtenerzählen. Der dieser Entscheidung zugrundeliegende Gedankengang war sehr einfach. Wenn ein hundertprozentiger Glaube Realität erzeugt, dann ist Geschichtenerzählen wie lügen. Jeder weiß, wie sehr wir uns vom anderen wünschen, daß er unsere Lügen glaubt. Wir tun alles um zu verhindern, daß wir als Lügner aufgedeckt werden. Also lügen wir so, als würden wir es selbst glauben. Man muß dabei wirklich geschickt vorgehen, aber die meisten Menschen wissen, wie man so etwas richtig dreht. Wir wissen also alles darüber, wie man für sich und andere die Wirklichkeit verändert. Es ist eine Art Geschichten zu erzählen. Die alten Hörspiele brauchten keine Beleuchtung, Bühnenbild, Kostüme und andere visuelle Tricks. Die Bilder entstanden in der Imaginationsabteilung der Zuhörergehirne. Bessere Bilder, als sich je ein Regisseur für dich erträumen kann. Jeder Leser hat seinen eigenen Don Corleone im Kopf, nachdem er den "Paten" gelesen hat. Seit dem Film ist er für alle "Fatso" Marlon Brando. Zurück in den Knast!

In Al Jolsons Haus begann ich für das Holländische National Radio Rundfunkshows zu machen. Ich sprach nur zu einem einzigen Zuhörer: zu dir! Ich versuchte, so nahe wie nur möglich an dich ranzukommen. Aber bald wurde mir klar, daß ich mich selbst manipulieren mußte, um dich manipulieren zu können. Wenn ich etwas wirklich fühlte, dann tat es der Zuhörer automatisch auch. Ich durfte mir da selbst nichts vormachen. Ich mußte etwas als wirklich empfinden, um beim Zuhörer ein ebensolches Gefühl von Wirklichkeit auszulösen. Das Ergebnis war verblüffend.

Einmal machte ich eine Sendung, in der ich die Hörer bat, sich mit mir auszuziehen, Ich begann mit den Zuhörern zu vögeln. Ich war sehr erregt und zittrig zugleich. Ich mußte mich da hineinreden. Ich bat sie sich mit mir zusammen auszuziehen, sich in die Kissen zu kuscheln und mit mir zu masturbieren, wobei wir versuchten, zur selben Zeit zu kommen. Die Sendung kam so gut an, daß sie zweimal gebracht wurde. Viele der Hörer hatten starke Erlebnisse, selbst wenn sie nur passiv zuhörten. Nie zuvor hatten sie so etwas erlebt, alle hatten sie sehr starke visuelle Flashes. Der nächste Schritt war naheliegend. Bisher waren die Zuhörer passiv gewesen. Die meisten Medien verlangen diese totale Passivität. Der Film braucht sogar völlige Dunkelheit und das Fernsehen hat ganze Nationen hervorgebracht, die in die flimmernden Röhren in der Ecke ihrer Wohnzimmer glotzen. Es klingt wie Science Fiction. Ich schuf eine Sendung, die um ein Uhr nachts begann. Ich sagte den Hörern, daß sie erstmals wählen konnten, passiv zu bleiben wie sonst, oder aber auch aktiv zuzuhören. Wenn ihr aktiv zuhört, werdet ihr ein Abenteuer erleben, das ihr euer Leben lang nicht mehr vergeßt. Ihr werdet die Hauptdarsteller in einem echten Life Movie sein, der euch ins Uferlose führen wird. Steht bitte auf und holt euch eine Pflanze. Und zwar eine grüne. Sucht euch ein weiches Kissen, nehmt eure Kamera – ihr braucht eine Gabel und einen weißen Papierzettel. Schreibt das Wort "Gott" darauf und geht zu eurem Auto. Dreht dort das Autoradio auf, macht es euch bequem und wartet auf weitere Instruktionen. Wenn ihr kein Auto habt, geht zum nächsten Freeway, heftet euch den Papierzettel an den Mantel und versucht per Anhalter weiterzukommen. Wenn ein Auto mit dem Wort "Gott" in der Windschutzscheibe vorbeikommt, muß es anhalten und euch mitnehmen.

30.000 Hörer folgten den Anweisungen. Ab dem Moment wurde die Radio Show zum Soundtrack für den wirklichen Life-Film, den sie projizierten. Durch einen Wechsel in der Geschichte änderten sich auch ihre Projektionen. Eine neue Wirklichkeit war geschaffen. Allerlei Zwischenfälle und Zufälle wurden in die Show eingebaut, um den Projektionen der Zuhörer zu mehr Dramatik zu verhelfen. Tags darauf berichteten die meisten Zeitungen darüber wie über etwas Wirkliches.

In Hollywood begann ich mit einer anderen Form der Projektion von Wirklichkeit zu experimentieren. Menschliche Versuchskaninchen bekamen einen tragbaren Kassettenrecorder samt Kopfhörer verpaßt. Sie mußten sich auf einen Stuhl setzen und warten, bis ich den Raum verlassen hatte. Dann mußten sie ihre Geräte einschalten. Sie hörten meine Stimme, die sie in einer anderen Wirklichkeit begrüßte.

Einfache Anweisungen wurden erteilt wie aufstehen, den Raum verlassen, die erste Straße links etc. Der Proband hörte einer Stimme zu, die alles "sah" was er sah. Solange er den Instruktionen der Stimme folgte, war er zur Gänze in Übereinstimmung mit der Wirklichkeit rundherum. Dann begann die Stimme Geschichten zu erzählen. Sie fing an, die Wirklichkeit zu ändern. Sie erzählte einfach andere Geschichten. Der erstaunliche Effekt war, daß sich der Proband allmählich – bereits nach 10 Minuten – mit der Stimme identifizierte, so, als ob es seine eigene gewesen wäre. Sobald die Informationen über die kulturelle Übereinkunft, der wir alle anhängen, hinausführte, begann die Wahrnehmung sich zu verändern. Nachdem – viele Jahre später – der "Walkman" erfunden war, wurden solche "Spaziergänge" in großem Umfang eingeführt. Einige dieser von der "Kassette geführten" Reisen dauerten drei Tage lang, inklusive zweier Nächte im Hotel. Die Leute im Hotel wußten, daß die Probanden mit den Kopfhörern in einer anderen Welt mit anderen Gesetzen lebten, sie waren angewiesen, dieses Spiel mitzuspielen. Entlang der Spielroute ging es in diverse Restaurants, Banken, Privatparties, Geschäfte und Tankstellen. Die Besitzer waren eingeweiht, eine bestimmte Rolle zu spielen, die den auf diese Weise erzeugten Traum erweitern und bekräftigen half. Vielen der Probanden war ganz klar, daß da ein anderer Film in ihren Wirklichkeitsprojektor eingelegt worden war, aber auch sie konnten sich dem nicht widersetzen, daß sie die ihnen vertraute Wirklichkeit ganz anders erlebten. Viele Leute ließen es zu, daß ihre Sichtweise beeinflußt wurde. Eine Menge Anstrengungen sind schon gemacht worden, um eine künstliche Wirklichkeit zu erzeugen. Von den großen Dioramen im vorigen Jahrhundert, die auf das illusionäre Theater des italienischen Barocks zurückgehen, zum Cinemascope, 3-D-Filmen, den Theme Parks bis zur heutigen Flugsimulation und der Virtual Reality. Ein ungeheurer Aufwand an Hard- und Software ist notwendig, um Gemälde herstellen zu können, die sich bewegen, die atmen, fühlen und sprechen. Diese Schöpfungen kommen alle aus der Vergangenheit, von dem, was wir bereits kennen – wichtiger als das noch – was wir wiedererkennen und wir können nur das wiedererkennen, was wir gelernt haben, womit wir übereinstimmen. Wenn diese Übereinkünfte nicht mehr funktionieren, dann brechen Chaos und Panik aus.

Bei einem wissenschaftlichen Versuch mußten sich zehn Testpersonen zwei Karten anschauen. Auf einer Karte war ein zwei Zentimeter langer Strich. Auf der anderen drei unterschiedlich lange Linien. Eine davon 3 cm, eine 2 cm und eine mit 1 cm. Die Frage war, welche der 3 Linien der auf der ersten Karte entsprach. Ein langweiliger Test. Also, die erste Person zeigte auf eine der drei Linien, die zweite Person, die dritte ... ihrer Sache sicher zeigten alle auf die gleiche Linie. Außer der zehnten Person. Die ist ein Nervenbündel, schwitzt, ist sichtlich panisch und zeigt auf eine andere Linie. Dieser Test beweist, wie wichtig es für uns ist, daß wir hinsichtlich der Wirklichkeit übereinstimmen. Infolgedessen ist eigentlich nur die zehnte eine wirkliche Testperson. Alle anderen gehören mit zum wissenschaftlichen Komplott. Sie zeigen alle sehr sicher auf die längste Linie. Wenn sich die erste Person irrt, fühlt sich die zehnte Testperson immer recht sicher. Wenn die zweite auf die selbe falsche Linie deutet, fängt sie schon an sich zu zweifeln an. Wenn die dritte auf die selbe Linie zeigt, zweifelt sie schon zu 36,6 Prozent an sich. Wenn sie schließlich selbst an der Reihe ist, ist sie bereits ein Nervenbündel.

Nachdem ich von den Experimenten mit elektronischen und virtuellen Wirklichkeiten gehört hatte, habe ich meine Art virtueller Wirklichkeit eingeführt. Ich lud Leute zu einer gefährlichen Ausstellung ein. Am Eingang erhielten sie alle einen Walkman und Kopfhörer. Die Stimme vom Band sagte ihnen, daß sie die Türen öffnen und achtsam sein sollten. Während sie in einen schmalen Gang eintraten, wurde das Licht weggefadet und auf einmal schloß sich die Tür. Nicht lange, dann war es vollkommen finster und die Stimme befahl, die nächste Tür zu öffnen. Während sie nun die dunkle Ausstellung betraten, machte sie die Stimme auf die Gefahren in diesem Raum (tiefe Löcher und scharfe, spitze Gegenstände) aufmerksam und auf die Notwendigkeit, den einfachen Instruktionen sehr genau zu folgen. Zwei Drittel des Gehirns fängt sofort an zu projizieren und das Erlebnis ist so überwältigend, daß jeder hinterher eine andere Geschichte erzählt. An die Bilder erinnert man sich noch lange danach.

Und das ist das uralte Geheimnis des Geschichtenerzählens. Es stimuliert das Gedächtnis in einer Art, der nichts gleichkommt. An Geschichten erinnert man sich ganz genau. Ganz kleine Kinder können schon auf die Abweichungen in einer Geschichte hinweisen, wenn sie ihnen ein zweites Mal erzählt wird. Sie wollen die Geschichte ganz genau so wiederhören, wie sie sie in Erinnerung haben. Zeit und Raum verschwinden völlig. Nur wenn sich der Geschichtenerzähler selbst vergißt, kann sich der Zuhörer selbst vergessen. Ich erzähle Geschichten, die bis zu sechs Stunden dauern vor ausverkauftem Haus und die Leute vergessen sich dabei selbst. Sie können alles ganz deutlich sehen und erinnern sich zuerst an die Bilder, die Worte folgen von selbst nach. Kein anderes Medium hat je die Kraft, Wirkung und Anregung der mündlichen Überlieferung erreicht. Kinder glauben alle Geschichten hundertprozentig und das formt ihre Wirklichkeit. Selbst jetzt ist unsere Realität das unmittelbare Ergebnis von dem, was wir möchten, was wir ganz glauben. Folglich: wenn wir etwas anderes glauben (nur ein 100prozentiger Glaube funktioniert), verändert sich unsere Wirklichkeit. Es gibt also keine Opfer in diesem Universum, nur Freiwillige.