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Ars Electronica 1989
Festival-Programm 1989
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Festival 1979-2007
 

 

Polylog
Für eine interaktive Kunst

'Gerhard Johann Lischka Gerhard Johann Lischka / 'Peter Weibel Peter Weibel

UMWELT
Lischka:
Das erste, was uns bedingt, um das wir in keiner Weise herumkommen, was uns auch formt, ist die Umwelt. Nur das Problem bei dem Wort Umwelt ist, was ist denn die Umwelt, wenn diese heute großteils aus Immaterialien besteht, die uns bewußtseinsmäßig (was natürlich auch das Unbewußte einschließt) fest im Griff haben. Diese Immaterialien sind, anders ausgedrückt, der Prozeß der Mediatisierung, der in unaufhörlicher Selbsterneuerung, rund um die Uhr, als globaler Informationsfluß uns beherrscht.

Weibel:
Auch ich gehe davon aus, daß wir zuerst einmal vom Biotop als primärer Umwelt reden müssen. Die moderne Topologie lehrt uns aber, daß der Raum nicht ohne Körper und der Körper nicht ohne Raum existiert. Sie nennt dies das Prinzip der Konnektivität. Auch in der organischen Lebewelt ist bereits eine idealistische Trennung der Monaden nicht möglich, sondern herrscht eine Ganzheit, die natürlich nur aus Teilen gedacht werden kann. Wegen dieser Konnektivität ist ja eine Trennung zwischen Innen und Außen, zwischen Organismus und Umwelt, wenn überhaupt, nur flexibel möglich. Wenn das Auge, wie Goethe sagt, sonnenhaft ist, dann bedeutet das, daß das Innere der Organismen strukturell die äußere Umwelt nachbildet. Rend Thorn, der Begründer der Katastrophentheorie, geht sogar so weit, zu behaupten, daß auch die abstrakten Formalismen der Mathematik biologischen Prozessen entsprechen. Deswegen sagt er: "Die Stimme der Realität ist im Sinn des Symbols." Es gibt eine fast isomorphe Wechselwirkung zwischen System und Umwelt, sozusagen zwischen innerer Umwelt (Organismus) und äußerer (Umwelt). Technologie als Exteriorisation, als Umwandlung von naturgemacht in menschengemacht, entsteht aus dieser Isomorphie. Daher existieren alle Kameraformen, die wir kennen, auch schon im Tierreich, sogar das Spiegelteleskop. Die Grenze zwischen Innen (dem Organismus) und Außen (der Umwelt) ist schwer zu ziehen, zumindest zu jedem Zeitpunkt anders. Die Erklärungen der Kunst zur "Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt" (Peter Handke) in den 60er Jahren haben ihre Grenzen (der Umwelt und der Systeme) als Zeitform dargestellt. Wie z.B. auch die Installation "Null Stadt" mit riesigen, wassergefüllten optischen Linsen von Henry Jesionka (N.Y. 1988), welche die Außenwelt räumlich sequentiell in die Innenwelt spiegelten. Auch der Farbkontrast lehrt, daß Farbe (als Element, als System, als Organismus) nicht isoliert, unabhängig existiert, sondern von der Umgebung beeinflußt wird, also ihre Wirkung mit der Umwelt variiert, interagiert.

There is no clear definition of the system's boundaries to its environment; the boundaries are fluid.
This statement is valid for many living beings, too. Namely, it is not at all possible to define when the food a living being eats becomes a part of it. The logical range reaches from perceiving the food by the sense-organs (or even by the brain) until the digested products are absorbed into the blood circulation. Within these two extremes a definition can only be constructed arbitrarily.

It is appropriate to assume that the boundaries of a system are just as fluid as the boundaries of magnetical fields in physics. However, it should be added that these boundaries are floating in the course of time, so that – metaphorically – a system is flowing alternately now one way, now another, changing its boundaries continually like an amoeba, palpating its environment for the resources it tries to exploit. (…) In the field of natural science, the same phenomenon can be found.. the DNA flourishes only in the energetically enriched inner milieu of a cell; the cells of higher organisms, only in the energetical whole of the organism. The spontaneous rise of self-reproducing molecules some billion years ago prestones an accidental formation of energetical potential-fields. (Today, the problem of "abiogenesis" has already largely been solved by physics; cf. Eigen 1971).
Volker D. Vesper, On the Internal Structure of Open Systems: A Model of Shells. in: General System, Volume SIX, 1974, S. 209.

Lischka:
Entweder stehen wir zum Begriff der Ganzheit und akzeptieren damit ein holistisches Weltbild, dann treten wir auch für ein sich selbst bestimmendes Individuum ein, das einen Universalismus vertritt, womit Macht potentiell verunmöglicht wird und Kraft (die Poesie) sich entfalten kann. Universalismus ist natürlich nur möglich bei Akzeptanz des Splitterhaften, da jeder Moment erlebnismäßig ein anderer ist.

Weibel:
Ich möchte den Begriff des Holismus etwas unterscheiden von seiner geschichtlichen Fassung, indem ich ihn gegen den Begriff des Partikulären ausspiele. Das Allgemeine und das Besondere, wie es klassisch heißt, bedingen ja einander. Ich persönlich spreche mich mehr für den Partikularismus als Philosophie aus, der aber nur im Horizont der Ganzheit sinnvoll gedacht werden kann. Damit ist aber die Frage des sich selbst bestimmenden Individuums gar nicht berührt, sondern vielmehr das Individuelle als Besonderes auf dem Hintergrund der Geschichte und der Evolution gesehen. Als Oszillation zwischen Splitter und Ganzheit, zwischen Vielfalt und Einheit, zwischen Heteromorphie und Isomorphie. Der Zoologe S. Jay Gold hat daher die Wichtigkeit der Variabilität und des Ausnahmefalls für das Überleben der Spezies betont. Von Denkern wie Lyotard bis Bernard Williams, von Mathematikern wie René Thom bis Wissenschaftstheoretikern wie David Hull (Science as Progress, Chicago 1988) hat ein Primat des Partikulären und der Singularitäten gegenüber den allgemeinen Prinzipien eingesetzt. Schon die Aristotelische Biologie kannte dieses Problem der Diaphora (wie Daumen und Hand).

Lischka:
Selbstverständlich ist mit dem Universalen das Mögliche gemeint, das uns die Kraft gibt, im Leben einen Sinn zu sehen, und nicht, daß wir als einzelne die ganze Welt darstellen, sondern gerade umgekehrt, wir werden durch den Universalitätsanspruch fähig, uns als gemeinschaftliches Wesen, als zoon politikon, zu fühlen und uns mit etwas nicht nur zufriedenzugeben, sondern sogar zu behaupten, daß Alles immer der reine Machtanspruch ist. Somit ist also Etwas immer mehr oder weniger als Alles, eine poetische Lebenshaltung, die gerade unter der Vorherrschaft des Immateriellen wiederum Umwelt als konkrete konstruieren kann, somit Körperiichkeit kreiert. Unversalismus als einzige sinnvolle Definition des Individuums.

Weibel:
Das ist ja gerade die Konnektivität. Wie die Umwelt das Lebewesen zu seiner Definition braucht, so das Lebewesen die Umwelt. Die Möglichkeiten des einen stecken auch immer im anderen. Ego ist Alter und Alter ist Ego. Die Umwelt kreiert mit ihren Möglichkeiten das Lebewesen, das Lebewesen transformiert gleichermaßen die Umwelt. So entsteht im Realen selbst das Symbolische, der immaterialisierende Zeichenprozeß. Als Folge davon ist Umwelt nicht mehr Natur allein, das was vorgefunden wird und wurde, bevor der Mensch geschaffen war, sondern zur Umwelt zählt natürlich heute auch das vom Menschen geschaffene Environment. So können natürlich nicht nur die materiellen Komponenten der Zivilisation, wie eine Stadt, die Umwelt für einen Organismus, für eine Person bilden, sondern natürlich bilden auch die immateriellen Komponenten der Zivilisation, dazu gehören auch Personen, wiederum eine "Umwelt" für andere Personen. Jeder kann Umwelt für jeden sein, so wie alles Organismen für alles darstellen kann. Das Problem entsteht nur, wenn die Umwelt als Quelle (source) zur bloßen Ressource wird, zu einer Adresse der Ausbeutung, zu einem bloßen Kanal des Zugriffs, zu einem vermeintlichen Instrument des Menschen. Dadurch geht ja gerade die beschriebene Interdependenz verloren. Der Dialog zwischen Mensch und Umwelt, der zivilisatorische Prozeß, schafft erst jene Krise der Umwelt, schafft erst den Abgrund, aus dem wir nach der Umwelt fragen.

A hard definition of a system: it is a portion of the world which at a given time can be characterized by a given state, together with a set of rules that permit the deduction of the state from partial information. The state of a system (in its hard sense) is a set values of certain variable quantities at the moment of time in question.

The definition can be best elucidated by examples. If a quantity of gas is confined in a container mechanically and thermally isolated from its environment, then eventually the temperature and pressure inside the container will become uniform. The gas will constitute a system in equilibrium, that is, a system persisting in a single state. The state of this system, is completely described by three quantities: volume, pressure, and temperature. (…)

A dynamic theory permits the determination of the succession of states, once the initial state of the system is known.

The theory of the solar system is a good example of a dynamic system theory.

"Soft"-Systems Theory

According to a "soft" definition, a system is a portion of the world that is perceived as a unit and that is able to maintain its "identity" in spite of changes going on in it. (…)

An example of system par excellence is a living organism. The material in it is constantly changing through metabolism, yet the organism maintains its identity throughout its life time.

Anatol Rapaport, Modern Systems Theory – An Outlook for Coping with Change, in: General Systems, Yearbook of the Society for General Systems Research, Vol. XV 1970, S. 17 + 22.

Lischka:
Wir müssen heute beim Gedanken an Umwelt primär an Katastrophen denken, denn die natürliche Umwelt wurde durch ein falsches Verständnis von Fortschritt an den Punkt des Kollapses geführt. Wenn wir wissen, daß die natürliche Umwelt sich schon aus logischen Schritten konstruiert hat, die durch Zufall und Notwendigkeit auch den Menschen hervorgebracht hat, so können wir sehen, daß Erkennen schon im Begriff Umwelt impliziert ist und zuviel Erkenntnis (in Form der Hybris des Menschen) daher logischerweise zum Zusammenbruch der Umwelt führen kann. Als Hinweis können wir die Mikrobiologie anführen, die uns gelehrt hat, daß ein Molekül ein anderes gleichartiges Molekül stereospezifisch erkennt.

Die Steuerung der Tätigkeit, die Sicherung der funktionalen Kohärenz und der Aufbau der chemischen Maschine werden also durch Proteine besorgt. Alle diese teleonomischen Leistungen der Proteine beruhen in letzter Instanz auf ihren sogenannten "stereospezifischen" Eigenschaften, d.h. auf ihrer Fähigkeit, andere Moleküle (darunter auch andere Proteine) an ihrer Form zu "erkennen", so wie sie durch ihre molekulare Struktur festgelegt ist. Es handelt sich buchstäblich um eine mikroskopische Unterscheidungs-, wenn nicht sogar 'Erkennungs'fähigkeit. (…)

Die vollendete Struktur war nirgendwo als solche präformiert. Aber der Strukturplan war schon in seinen Bestandteilen vorhanden. Die Struktur kann sich daher autonom und spontan verwirklichen ohne äußeren Eingriff, ohne Eingabe neuer Information. Die Information war – jedoch unausgedrückt – in den Bestandteilen schon vorhanden. Der epigenetische Aufbau einer Struktur ist nicht eine Schöpfung, er ist eine Offenbarung.
Jacques Monod, Zufall und Notwendigkeit, Philosophische Fragen der modernen Biologie, München 1971, S, 62, S. 111.

Weibel:
Wir können auch sehen, daß im Umweltbegriff der Systembegriff schon vorgezeichnet ist, als Interaktion von Komponenten des Systems, wo eben bei absoluter Dominanz einer Komponente das System zusammenbrechen kann. Intervention in Evolution

The unfolding of the evolutionary process in the three great realms of matter, life, and society raises a crucial question. It is this: are the highly complex systems that emerge in each realm truly enduring? As we have seen, evolution produces comparative simplicity as it moves to a higher level of organization, but in time simplicity gives way to complexity as third-state systems pursue their careers in interaction with a changing environment. On each level of organization, systems reach some functional limit of complexity beyond which further complexification would bring instability.
Ervin Laszlo, Evolution – The Grand Synthesis, New Science Library, 1987, S. 127.

Weibel:
Auf ein Biotop baut also die Evolution selbst schon das Sematop. Auf das Reich der Materie folgt evolutionär das Reich der Zeichen. Unsere Umwelt ist also nicht mehr natürlich, sondern schon evolutionär vorbedingt, auch synthetisch. Das heißt, die Umwelt ist von Symbolisierungen, von Immaterialisationsprozessen nicht nur durchschossen, sondern in weiten Teilen auch gewebt.

Lischka:
Durch diesen Immaterialisierungsprozeß der Umwelt sind wir gezwungen, den Separationsprozeß zwischen Subjekt und Objekt (wie er im Spiegel-Stadium von Lacan beschrieben worden ist) um einen Faktor zu erweitern, oben um die Immaterialisierung, und dieses Stadium nenne ich das Monitor-Stadium. Der Monitor schluckt die Umwelt und wirft sie uns als immaterialisierte zurück, doch oben nicht als Spiegelbild, sondern als Klon. Das Heimtückische beim Klon ist nur, daß wir ihn vordergründig als Umwelt interpretieren, doch er kann bereits schon reine Simulation sein, und durch diese Realitätsfalle ergibt sich fatalerweise auch die Problematik, daß wir kaum mehr wissen können, was ein Zeichen ist.

Weibel:
Die Differenz zwischen Zeichen und Gegenstand ist in der Tat gesunken, wenn nicht sogar in vielen Fällen geschmolzen, nämlich in diesem Monitor-Stadium der Welt, wo durch den zivilisatoii sehen Fortschritt die universale Mediatisierung der Umwelt naht und schließlich zwischen Objekt und Spiegelbild, zwischen Gegenstand und Zeichen, zwischen Lebewesen und Klon nicht mehr unterschieden werden kann, so daß aus der Konfusion von geklonter Umwelt als Produkt und Umwelt als Quelle eine universale Katastrophe entstehen kann. Gerade das lehrt uns ja der Mythos des Daidalos, die Suche nach dem juste milieu, die Suche nach der richtigen Balance zwischen Mensch und Umwelt. Daidalos ist ja der antike Mythos des idealen Künstlers, des Stifters von und Suchers nach der harmonischen Konnektivität. Er findet ihn mit Hilfe der listigen Intelligenz der Frauen (die eben nicht als schweigsame/stumme Natur in diesem Mythos hingestellt werden) und wird daher unsterblich, was eben so viel bedeutet wie Primat und Triumph des Lebendigen. Ikarus hingegen steigt zu tief oder zu hoch, d.h. konstruiert ein gestörtes Verhältnis zwischen Mensch und Umwelt, und verliert daher das Leben.

Der Fall abgeschlossener Systeme, die mit ihrer Umgebung weder Energie noch Materie austauschen können, verdient besondere Erwähnung. Ein abgeschlossenes System kann im Gleichgewicht per definitionem nicht mit seiner Umgebung identifiziert werden. Trotzdem läßt sich ein großer Teil der oben angeführten Argumente auch für ein abgeschlossenes System nutzbar machen, da ja jeder Teil desselben einer Umgebung ausgesetzt ist, die von den restlichen Teilen gebildet wird. Als Folge davon werden die verschiedenen Teile des Systems im Gleichgewicht ununterscheidbar.
G. Nicolis, L Prigogine, Die Erforschung des Komplexen, Piper 1987.

Lischka:
Milieu heißt Lebensumwelt, in der wir uns bewegen, Milieu auf heute gedacht ist das Medium. Das Medium ist zum immateriellen Milieu geworden, aber nicht zu einer Mitte, die einen sinnvollen Umweltbezug gestatten würde. Somit müssen wir uns fragen, was intelligenter ist, die Schlauheit des Odysseus oder ein hoher Intelligenzquotient. Wie Julian Jaynes nachweisen konnte, waren die Götter reine bikamerale Halluzinationen. Auch die Mediatisierung (das Medium TV) ist das Halluzinierte, eine Halluzination, die die meisten nicht mehr durchschauen.

Die bikamerale Psyche ist eine Form von sozialer Kontrolle – diejenige Form der sozialen Kontrolle, die den Übergang der Menschheit von Jäger- und Sammler-Kleingruppen zu ackerbauenden Gemeinschaften möglich machte. Die bikamerale Psyche mit ihren göttlichen Kontrollinstanzen bildet das Endstadium der Evolution der Sprache. Und in dieser Entwicklung liegt der Ursprung der Kultur. (…)

Vielmehr steckte im Leib jedes einzelnen ein Nervensystem, das in einem Teil "göttlich" organisiert war, und dieser Teil kommandierte den Menschen herum, als sei er ein x-beliebiger Sklave; die Stimme(n), in der oder denen er in Erscheinung trat, waren zu ihrer Zeit das, was wir heute das Wollen nennen: Sie formulierten nicht nur Direktiven, sondern bildeten zugleich die energetisierende Komponente; die halluzinierten Stimmen aller einzelnen standen untereinander im Zusammenhang eines differenzierten hierarchischen Systems.
Julian Jaynes, Der Ursprung des Bewußtseins durch den Zusammenbruch der Psyche, Reinbek 1988, S. 159, S. 248

Weibel:
Umwelt – Milieu – Medium bilden also ein Tripel, ein Dreieck, welches die vielfältigen Beziehungen, Konnektive, eines komplexen Umweltbegriffs darstellen. Umwelt heute beschreibt ja nicht mehr allein die Beziehung des Menschen zur Natur, sondern auch die Beziehung des Menschen (als zoon politikon) zu anderen Menschen (Milieu bedeutet ja auch die Umwelt der Personen, in der man lebt), und drittens auch die Beziehung des Menschen sowohl zur Natur wie zum Menschen, wie sie ihm von den Medien transmutiert, codiert und historisch überliefert wird. Diese Mediatisierung, dieses Monitorstadium der Geschichte und der Sozietät, bildet die entscheidende Kante, an der sich – wie schon gesagt – der Abgrund, die Umweltkatastrophe, bildet, aber auch der Ansatz zur Brücke und zum Sprung. Nur von daher (vom Milieu, vom Medium) kann die Umweltproblematik heute richtig bedacht werden. Nur Daidalos (als Sinnbild eines juste milieu, einer mediatisierten Umwelt) kann verhindern, daß unser Haus, nämlich Oikos (Oekologie: die Umwelt als Haus, in dem wir leben), nicht in die Luft gesprengt wird, einstürzt oder zur Ruine wird.

In this paper we have attempted to outline an approach to the study of social interaction which focuses upon the behavior of interaction systems, rather than upon the behavior of individual participants. We have indicated that the study of actor sequences may be handled in this way and that such sequences may play apart, however modest, in developing a broader theory of social systems. The behavior of interaction systems is a product of organized complexity.
B.H. Mayhew, L.N. Gray, M.L. Mayhew, The Behavior of Interaction Systems, in: General Systems, Vol. XVI, 1971, S. 27.
SYSTEME
Lischka:
Umwelt – Milieu – Medium, diese drei Faktoren ergeben eine unglaubliche Komplexität. Diese Komplexität können wir nur durch eine entsprechende Organisation bewältigen. Wir müssen uns also organisieren, was soviel heißt, wir müssen Strukturen bilden, auf die wir uns verlassen können, wir brauchen Systeme. Systeme sind eine strukturierte Form von einer gewissen Beständigkeit und Ganzheit, Sie sind als Antwort auf die Komplexität der Umwelt (Milieu – Medium) selber komplex, daher spezialisiert. Doch je selbstreferentieller ein System wird, um so offener ist es auch, denn es schließt den Zufall mit ein. Somit eröffnet es eine weitere Differenzierungsmöglichkeit des Systems selbst. Nur rein hierarchische Systeme sind geschlossene Systeme, somit monolithisch, und stellen letzten Endes nichts anderes dar als Macht. Dieses Machtsystem hat uns an den vorher angesprochenen Abgrund geführt.

It is a commonplace that systems, i.e., sets of interacting elements, are either open or closed. Some open systems, however, have a noteworthy feature. They increase their degree of complexity over time. Thus they show a development that is generally called "evolution". These systems are called "selforganizing systems" (v. Foerster 1960). The teleological goal-directiveness of the evolutionary process seemed to be a problem for a long time in epistemology (cf. the vitalismus-dispute in biology). However, since J. von Neumann developed his mathematical theory of self-reproducing automata which show evolutionary behavior, it is positive knowledge that teleology and evolution can be explained in deductive-nomological ways without mystic categories (v. Neumann 1951; cf. also Myhill 1964).
Volker D. Vesper, On the Internal Structure of Open Systems: A Model of Shells, in: General Systems, Volume XIX, 1974, S. 209.

Weibel:
Systeme können wir holistisch definieren als ein Ganzes, als Netz, als Organisation von Beziehungen zwischen Elementen (Konstituenten). Ein System ist aber auch eine Verteilung von Elementen in einem dimensionalen Bereich. Die klarsten dimensionalen Mannigfaltigkeiten sind dabei Raum und Zeit, die für lange Zeit die principia individuationis bildeten. Wir können nur von zwei Gegenständen sprechen, wenn sie zwei verschiedene Raumpunkte bzw. Zeitpunkte besetzen. Die Komplexität, Multiplizität und Hybridität der Objekte im evolutionären Monitor-Stadium verlangten aber nach anderen Mannigfaltigkeiten als die historischen Raum- und Zeitformen, z.B. fraktale Dimensionen, Kreislauf, Homöostase, Rückkoppelung, Selbststeuerung, Selbstorganisation, Autopoiesis sind einige der Begriffe, die in der Neuzeit eingeführt wurden, um eine komplexere Dimensionalität der Systeme analysieren und erklären zu können.

Let me begin with some general statements. Any system is composed of a number of different elements, united by connections and functioning as a whole. Complex systems differ from simple ones in that they not only transform energy, but process information as well. (…)

Where there is no vision, the people perish. Not only are we subject to despair but also to withdraw in the face of despair – which is why that naughty fellow, James Thurber, added "And where there is television, the people also perish."
Menial W. Amosov, Simulation of Thinking Processes, in: Purposive Systems, Sparten Books, New York 1968, S. 35 + S. 172.

Die eben gestellte Frage läuft also darauf hinaus festzustellen, ob es Objekte gibt, deren Dimensionen zwischen der eines Punktes und einer Linie, einer Linie und einer Fläche oder sogar zwischen der einer Fläche und eines Volumens liegt. Falls es solche Objekte überhaupt gibt, wird es sich dabei weder um Punkte noch um Kurven oder Flächen handeln oder, allgemeiner, nicht um "topologische Mannigfaltigkeiten". Der französische Mathematiker Benoit Mandelbrot prägte dafür den Ausdruck "Fraktale".
G. Nicolis, I. Prigogine, Die Erforschung des Komplexen, Piper 1987, S. 161.

Lischka:
Die Autopoiesis ist meines Erachtens ein Beweis für die Universalität des Individuums und somit für das offene System, das jedes Individuum darstellt, sobald es sich innerhalb der Mediatisierung zurechtfindet, Das heißt, man wird ins Monitor-Stadium geboren, muß es überwinden (die Grenzen des Systems sprengen), um selber die Umwelt zu überwachen oder bewachen zu können, statt nur das Opfer des überwachenden Systems zu sein, das auch die Umwelt zerstört.

W: Ist das System gleich Macht? Wir gebrauchen den Begriff System als Synonym für Macht. Wir sprechen von "systemsprengend" bzw. "-zersetzend", Subversion unterliefe die Macht des Systems etc. Der Große Bruder als universaler Monitor. Das Problem liegt wahrscheinlich darin, daß im Bereich der "sozialen Systeme" (N. Luhman) noch zuviel vom biologischen Systembegriff herumspukt. In der Biologie, wo das Immunsystem als Modell für die Erhaltung des Organismus (zu Recht) eine zentrale Rolle spielt, hat natürlich der Systembegriff als Grenze eines Organismus eine andere Funktion als in der Soziologie, wo aber die Grenze eines Staates, eines Volkes, z.B. im Faschismus ebenfalls durch immunologische Metaphern gewährleistet werden sollte, nämlich durch Volksfeinde, Schädlinge des Volkskörpers, Parasiten etc. In sozialen Systemen geht es hingegen darum, wie kann ich als Individuum in das soziale System eingreifen, d.h. die soziale Umwelt nach meinen Bedürfnissen und Vorstellungen (mit)gestalten. Das sind dann die berühmten Freiheitsgrade einer Gesellschaft. Haben soziale Systeme wie alle geschlossenen Systeme eine Tendenz zur Entropie – d.h. zu ihrer eigenen Destruktion –, so besteht eben die Rolle der intelligenten Individuen darin, nicht das System zu sprengen, sondern – da sie selbst offene Systeme darstellen – geschlossene soziale Systeme zu durchlöchern und zu öffnen, die Dummheit der Bürokratie, …

Lischka:
… denn nichts ist so stark wie der Schwachsinn …

Weibel:
… sozusagen die Entropie der sozialen Systeme, zu vermindern. Hier sehen wir also, daß das Individuum durch intelligente Eingriffe in die Dynamik der sozialen Umwelt diese sowohl stört, aber auch stabilisiert, natürlich nur Stabilität als transitorischer Zustand. In der Biologie sind Systemschwächungen oft tödlich, in der Soziologie hingegen stellen Systemschwächungen (in diesem Sinne) gerade das Gegenteil dar, nämlich Erhaltung des Lebens. Ohne die Störungen, Differenzierungen, Alternierungen des Systems durch die Eingriffe und Transformationen des partikulären Individuums würde das Ganze des Systems (in seiner Machtfülle) sterben.

Über die Entropieverminderung in einem thermodynamischen System bei Eingriffen intelligenter Wesen.

Es wird untersucht, durch welche Umstände es bedingt ist, daß man scheinbar ein Perpetuum mobile zweiter Art konstruieren kann, wenn man ein Intellekt besitzendes Wesen Eingriffe an einem thermodynamischen System vornehmen läßt. Indem solche Wesen Messungen vornehmen, erzeugen sie ein Verhalten des Systems, welches es deutlich von einem sich selbst überlassenen mechanischen System unterscheidet. Wir zeigen, daß bereits eine Art Erinnerungsvermögen, welches ein System, in dem sich Messungen ereignen, auszeichnet, Anlaß zu einer dauernden Entropieverminderung bieten kann und so zu einem Verstoß gegen den zweiten Hauptsatz führen würde, wenn nicht die Messungen selbst ihrerseits notwendig unter Entropieerzeugung vor sich gehen würden.
L. Szillard (1928), Collected Works, Part II: Published Papers in Physics (1925–1939), S. 103.

Lischka:
Was mir an Luhmanns Systembegriff gefällt, ist, daß er einen großen Spielraum zuläßt, was denn ein System sein kann. So spricht er auch vom Menschen als psychischem System. Man könnte meinen, das bedeute eine Deshumanisierung, doch gerade das Gegenteil ist der Fall. Statt einer zwanghaften Definition dessen, was ein Mensch zu sein hat, eröffnet sich durch eine sinnvolle Strukturierung des Systems Mensch das Mögliche und vor allem die Neu-Definition dessen, was ein Mensch sein kann dadurch, daß eben nicht ein abgestandenes und machtorientiertes Bild des "Menschen" suggeriert wird. Somit können wir das System als "Wahngebilde" (irgendwo dort/nirgendwo – Utopie) umwandeln und auf den Menschen als sich selber in einer Umwelt situierendes, als offenes System zurückführen, ohne den Zwang, immer nur von "dem System" abhängig zu sein. Das Schreckgespenst System (der Staat) wird zu einem offenen System, das vom Individuum herkommt, das sich selber interpretiert.

Weibel:
Das System, das sich selber als Umwelt interpretiert (statt als bloßes Produkt der Umwelt), und zwar mit einem Totalitätsanspruch, nämlich sowohl als natürliche Umwelt wie auch soziale, statt sich als bloßes System aus partikulären Konstituenten zu verstehen, ist das tödliche Gespenst der bürgerlichen Gesellschaft, ist die Pathographie der Zivilisation. Dabei käme es darauf an, weder die Welt zu verändern noch sie anders zu interpretieren, sondern sich selber und die Umwelt als System offenzuhalten, …

Lischka:
… was ein ganzheitliches offenes System ist.

Weibel:
Vom perzeptuellen System, über den Menschen als System, bis zur Gesellschaft als System, vielleicht sogar bis zum Universum als System, haben wir es also mit einem universalen Systembegriff zu tun, der (nicht nur wegen einer tendenziellen Geschlossenheit) als Bedrohung erscheint. Wir müssen daher die Frage stellen, inwieweit sind Freiheit und Individuation im System möglich, als Zufall in der Notwendigkeit oder Chaos in der Ordnung? Freiheit außerhalb eines deterministischen Systems, in einem vollkommen chaotischen Universum, kann nicht gedacht werden. Wenn wir unsere eigenen Aktivitäten selbst voraussagen können, also eine gewisse Unabhängigkeit von Umwelteinflüssen besitzen, dann sprechen wir von Freiheit. Wir brauchen also Freiheit notwendigerweise zur Definition deterministischer Systeme. Durch Freiheit wird Chaos zu Kosmos (und Kosmos zu Chaos). Freiheit heißt, eine eigene Spur durch die Terrasse der variablen Phänomene ziehen zu können. Inwieweit ist System kein geschlossener Block, unveränderbar für das Subjekt? Die Antwort könnte sein: ein Systembegriff, wo System eben ein beweglicher, dynamischer Prozeß ist aus freien Variablen, ein System, das sich ständig verändert, transformiert, als loses offenes Netz, wo jeder Input eines Elements nicht nur die Beziehung zu den anderen Elementen verändert, sondern sogar den Input der anderen Elemente. Das ist es aber, was man Kommunikation nennt. Kommunikation wäre also das eigentliche Modell, der Kernbegriff des lebendigen Systems.

We will say that a dynamical regime is chaotic if its power spectrum contains a continuous part – a broad band – regardless of the possible presence of peaks. Or else we may use the criterion that the autocorrelation function of the time signal has finite support, i.e. that it goes to zero in a finite time. In either case, the same concept is involved: the loss of memory of the signal with respect to itself. Consequently, knowledge of the state of the system for an arbitrarily long time does not enable us to predict its later evolution. Essentially, this means that we are making unpredictability the quality which defines chaos.
P. Bergé, Y. Pomean, Ch. Vidal, Order within Chaos, J. Wiley & Sons. N.Y. 1986, S. 103.
KOMMUNIKATIONSNETZ
Lischka:
Kommunikation kann nicht als reine Kommunikation gedacht worden, denn es braucht zur Definition von Kommunikation immer ein gewisses Maß an Redundanz, also Überfluß. Deshalb spricht man eigentlich am besten beim Wort Kommunikation von einem Kommunikationsnetz. Üblicherweise wird nämlich Kommunikation linear gedacht, d.h. von einem Sender zu einem Empfänger. Das ist aber eine überholte Vorstellung von Kommunikation. Sie entspricht einem geschlossenen System. Das offene Kommunikationsnetz hingegen besteht, wie das Wort Netz auch sagt, aus kreuz und quer. Dieses 'kreuz und quer' ergibt eine verschiedene Dichte eines Netzes, ein Verbundsystem.

Networks or sub-systems consist of variables and channels that have a purpose or goal. Networks, unlike variables and channels, are abstractions primarily conceived of or defined by the social scientist. All the variables/channels of a network may not always be operationalized at a given time. (…)

The variables and channels of any given network may be in multiple networks at one time or at different times. This is because networks are analytically defined for particular purposes and they are a function of the kind/intensity of the information input to the system.

Hierarchies consist of network interrelations. They are abstract and seldom fixed, static, or permanent. They are differentiated by the complexity and the intensity/kind of information flowing in specific networks. Hierarchies are established through time as the result of various networks combining and/or integrating with other networks to form more complex patterns.
William E. Reynolds, The Analysis Of Complex Behavior. A Qualitative Systems Approach, in: General Systems, Volume XIX, 1974, S. 73.

Weibel:
Dieses Kreuz und Quer bezeichnet die Wechselbeziehungen zwischen Elementen eines Systems, wodurch temporär unabhängige Netzwerke entstehen. Nun können verschiedene Fragen an diese Wechselbeziehungen gestellt werden. Sind es (organische oder künstliche) Kanäle, sind es Konversationen, sind es Synapsen und ihre Dendriten, oder sind es "immaterielle Ströme/Energien"? Man kann fragen, sind das Wesentliche an der Kommunikation die Elemente und die Beziehung zwischen den Elementen die Beziehung selbst, d.h. der Kanal, oder das, was in dieser Beziehung selbst gar nicht vorkommt und von ihr unabhängig ist, sozusagen die Botschaft? Man kann darauf antworten, der Kanal selbst ist der Code, bzw. das Medium ist die Botschaft, oder man kann andererseits die Botschaft verabsolutieren. Im systemtheoretischen Kommunikationsbegriff stellt es sich aber so dar, daß in einer rekursiven Schleife, in einer Art Doppel-Helix-Spirale, der Sender zum Empfänger und der Empfänger zum Sender werden kann und daß Kanal, Code und Botschaft nicht unabhängig voneinander gedacht werden können, aber in ihren Beziehungen zueinander "frei wählbar", variabel sind. Das, was in der Kommunikation zählt, ist also nicht das Netz, sondern die Veränderbarkeit des Netzes; nicht das materielle Gebilde, sondern die Energiezustände (Gedanken) dominieren. Solche Wechselspiele in der Ornamentik (z.B. islamische Mosaike) machen tote Muster (scheinbar) lebendig. Es erscheint also die Frage nach der Codierung für die Kommunikation erheblich zentraler zu sein als die Frage nach der Kanalkapazität innerhalb des Netzwerkes der Kommunikation. Das Brechen und Öffnen des Systems gelingt durch den Code. Wer den Code kennt, ist der Meister des Lebens.

Lischka:
Den Code zu entziffern ist aber nicht nur eine Meisterschaft, sondern auch im selben Maße eine Meisterinnenschaft, denn wenn wir die Geschichte des Netzes anschauen, dort wo der Code noch sichtbar war und nicht wie heute unsichtbar, dann müssen wir feststellen, daß die Frauen die Erfinderinnen des Netzes waren. Nehmen wir z.B. die berühmte Venus von Willendorf und schauen uns die Kopfpartie an. Sie besteht aus neun übereinander gelegten Verknüpfungssystemen, die ein Netz ergeben, und das Netz ist, wie uns Marie König gelehrt hat, das Zeichen für matriarchale "Herrschaft". Im Vergleich dazu figurierte im Patriarchat die Krone. Wenn die Frau also das Netz erfunden hat, so ist sie auch die Erfinderin der Webkunst, und wir wissen, daß die ersten Teppiche als Motive Gartenlandschaften bzw. das Paradies darstellten, das somit in die eigenen vier Wände kam. Ein direkter Bezug System–Umwelt, so etwas, wie es in der Dichtung "Teppich des Lebens" genannt wird (z.B. Stefan George etc.), Wir sehen, wir müssen also das "gesichtslose" Statuettchen Venus von Willendorf decodieren können, damit wir den Sinn dieses bedeutenden Kunstwerkes eruieren können.

Weibel:
Wenn wir in unserem Titel vom Netz der Systeme sprechen, meinen wir also offensichtlich eine doppelte Gefangenschaft, nämlich wie ein Fisch in einem Netz und einem System gefangen zu zappeln. Ich möchte also an die Frage des Netzes anders herangehen als du und vom realen alltäglichen Gebrauch des Netzes ausgehen, wie z.B. beim Fischen. Dieses Netz besteht ja aus Vertikalen und Horizontalen, mit so kleinen Öffnungen, daß Fische nicht entschwinden können. Morphologisch gesprochen dient dieses Netz schlichtweg dazu, Raum- und Zeitpunkte zu fangen, die wir Gott sei Dank auch essen können. Wie du also richtig einwirfst, handelt es sich bei diesem Netz um ein Gitter von Raum und Zeit, und ich nehme an, daß aus dieser Erfahrung das berühmteste Netz des Abendlandes entstanden ist, nämlich das cartesianische Koordinatensystem, das ja auch die Funktion hat, Raumpunkte dimensional zu lokalisieren. Wir sehen bei den Fraktalen, wie extrem dynamische Systeme Probleme mit der klassischen Dimensionalität haben. Im Augenblick interessiert uns aber das cartesianische Gitter als Modell für ein Raum- und Zeitnetz, als Modell des Gefängnisses von Raum und Zeit, in dem das Theater der menschlichen Morphologie sich abspielt. Der Raum ist dabei der Leib der Zeit. Dieses Netz von Koordinaten bildet Knoten. Diese Knoten sind aber verschiebbar, da das Netz als Ganzes mathematisch transformierbar ist. Wir kennen hier die wunderbaren Experimente von D'Arcy Thompson ("On Growth and Form"), die uns zeigen, wie das Wachstum der Lebewesen den Transformationen bzw. Deformationen cartesianischer Koordinaten gehorcht. Als cartesianischen Traum des Abendlandes könnten wir daher die Unterwerfung alles Lebendigen unter so ein mathematisches Netz bezeichnen, auch noch in den offensten und chaotischsten Systemen eines Thom und Prigogine, auch wenn deren Netz immer löchriger und damit lebendiger wird. Meine Vorstellung eines Netzes hingegen wäre, damit es ein wirklich offenes und dynamisches System ist, daß die Knoten sich ständig woanders bilden und damit die Verbindungslinien sich stets zwischen verschiedenen Elementen ziehen und somit neue (größere, bizarrere) Lücken entstehen, wo die gefangenen Raum- und Zeitpunkte hindurch entschlüpfen können. Ein Netz besteht ja nicht nur aus Knoten, sondern auch aus Löchern. Ich setze meine Hoffnungen auf die berühmten "Löcher" im System, die flexibler, variabler gemacht werden müssen. In der Biologie brauchen wir sicherlich strukturelle Stabilität, aber in der Gesellschaft brauchen wir mehr als dissipative Systeme. Wir brauchen kein durchlässiges System, sondern wir brauchen durchlässige dissipative Codes; mit deren Hilfe entkommen wir dem Netz der Systeme.

The understanding comes from the concept of "dissipative structures" advanced by scientists working in irreversible thermodynamics (Prigogine, Katchalsky, Onsager, De Groot, et al.), and from the conclusions drawn by Jacob Bronowski.

Dissipative structures are systems which dissipate energy in the course of their self-maintenance and self-organization.(…)

The "basic image" I wish to discuss is this: an economy is a web of transformations of products and services among economic agents. Over time, "technological evolution" generates new products and services which must mesh together "coherently" to jointly fulfill a set of "needed" tasks. It is this web of needed tasks which affords economic opportunity to agents to sell, hence earn a living, and thus obtain the capacity in money or other form to maintain demand for those very goods and services. Like living systems bootstrapping their own evolution, an economic system bootstraps its own evolution.
Ervin Laszlo. A General Systems: View of Evolution and Invariance, in: General Systems, Vol. XIX, 1974, S. 38.
KNOTEN
Lischka:
Mir geht es jetzt aber mehr um die Verknüpfung, um die Verknotung des Netzes, eben um diejenigen Punkte, wo Kommunikation zu Handlung und zu tatsächlicher Information wird. Natürlich als Beziehung von Knoten zu Knoten mit dem jeweils notwendigen Abstand (Proxemik). Kommunikation, wie wir sie heute erleben, ist nicht Information, sondern Imperativ. Durch eine an Macht orientierte Kommunikation sind wir beim Kommunikationsprozeß üblicherweise nur noch Befehlen ausgesetzt, d.h. der Strang, der notwendige Strang, zwischen Knoten und Knoten ist so kurz, daß das Netz so dicht wird, daß wir gefesselt sind, und zwar nicht nur gegenseitig, sondern auch in/mit uns selbst. Der Knoten muß also so locker geknüpft sein und noch so viel Schnur zum nächsten Knoten haben, daß eine Beziehung durch Offenheit überhaupt möglich wird, also Milieu und Medium (Mitte) entstehen können. Es darf nicht so viele Knoten geben, daß kein Mensch mehr atmen kann. Diese Offenheit möchte ich gerne mit Bateson als Muster bezeichnen. Das Netz, der Teppich des Lebens, bekommt also ein Muster, das die vielfältigsten Formen annehmen kann.

Wir sind dazu erzogen worden, alle Muster, mit Ausnahme der musikalischen, als etwas Festes aufzufassen. Das ist zwar sehr einfach und bequem, aber natürlich vollkommener Unsinn. In Wahrheit ist die richtige Weise anzufangen, über das Muster, das verbindet, nachzudenken, es primär (was immer das bedeuten mag) als einen Tanz ineinandergreifender Teile aufzufassen, und erst sekundär als festgelegt durch verschiedenartige physikalische Grenzen und durch diejenigen Einschränkungen, die Organismen typischerweise durchsetzen.
Gregory Bateson, Geist und Natur, Eine notwendige Einheit, Frankfurt 1984, S. 22.

The coupled web of economic activities, the production and sale of goods and services, has obviously increased in complexity over time.

Stuart A. Kaeman, The Evolution of Economic Webs, in: The Economy as an Evolving Complex System, Hrsg. Anderson, Arrow, Pines, Addison Wesley Publ., 1988, S. 125–126.

Weibel:
Genau das ist das Problem: die Hierarchie im Informationssystem durch die Macht, welche eben den freien Fluß der Information verhindert. Statt Dissipation haben wir Obstipation (Verstopfung). Man muß klarerweise die Verknotung von der Verstopfung (des Kanals) trennen. Ohne Knoten gibt es kein Netz, insofern ist der Knoten strukturaler Bestandteil des Netzes. Hingegen ist die Informations-Verstopfung eine Deformation und eine Störung, die nicht strukturell zum System der Information und der Kommunikation gehört. Ein gelockerter Knoten kann daher nicht mit einem rauschfreien Informationskanal verglichen werden, genausowenig wie ein fester Knoten mit einem blockierten Kanal. Wir sind Gefesselte des Netzes, eines solchen Informations-Begriffes, der von der Macht organisiert wird. Nach Regeln, die mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln verteidigt werden. Es ist ja erstaunlich, wie auch in der Kunst Information gerade durch ihre Großveranstaltungen wie "Bilderstreit" oder "documenta" unterdrückt wird. Hier werden ja gar keine neuen Knoten geknüpft, …

Lischka:
… sondern es werden bereits etablierte Vorstellungen von Kunst einzementiert. Alte Knoten nochmals verknotet. Das zeigt z. B. auch die Ausstellung "Les magiciens de la terre" (Centre Pompidou/Parc de la Villette, Paris 1989), in der 50 etablierte Künstler der Ersten Welt mit 50 unbekannten "Magiern"der Dritten Welt konfrontiert werden. Auf erschreckende Weise geradezu wird uns in der Ausstellung klar, daß die Erstweltkünstler keine Kommunikation mehr wollen, keine befreiende oder befreite Kunst, sondern die endlose Repetition innerhalb der Kunst des l'art pour l'art. Die Magier aus der Dritten Welt aber sprühen zum Teil vor Lebensfreude, indem sie in ihren Werken ein offenes Bezugssystem in seiner gesellschaftlichen Formation intendieren. Diese Kunst ist Kommunikation, ist wirkliche Kommunikation. Von einem tatsächlichen Lebensbezug wird Kunst sich in Zukunft nähren müssen, damit sie als offenes System glaubwürdig bleibt.

Weibel:
Systemtheoretisch gesprochen muß Kunst wieder Quelle werden, nicht nur Transmission. Sie müßte dazu beitragen, ein System lockerer Knoten bzw. dissipativer Codes zu erwirken. Lockere Knoten als Bild dissipativer Codes bedeutet, daß die Knoten – eben weil sie locker sind – immer wieder woanders geknüpft werden können. Nicht der Knoten wird also gelöscht, sondern nur seine stabile Fixierung. Indem der Knoten immer und überall gebildet werden kann, werden immer wieder neue Beziehungen im System möglich und nicht nur innerhalb des Systems, sondern auch außerhalb des Systems zur Umwelt. Die Interaktion knüpft und löst Knoten: Das bedeutet "lockere Knoten". Gerade dadurch werden Information und Mitteilung, Kommunikation und Handhabung erst möglich.

Lischka:
Wir sprechen gerne vom Knüpfen zwischenmenschlicher Bande, das sind die Beziehungen, die wir aufnehmen. Um uns an etwas zu erinnern, machen wir einen Knoten ins Taschentuch.

Weibel:
Knoten gehören ja auch zur Archäologie der Orientierung in der Schiffahrt, …

Lischka:
… und Knoten waren das erste Zählungssystem und wahrscheinlich die erste Schrift. Doch wenn ein Knoten so dicht geknüpft ist, daß ihn niemand mehr öffnen kann, dann haben wir den Gordischen Knoten, und der ist nur mehr durch einen Schwerthieb von der Macht lösbar.

Weibel:
Der Gordische Knoten als Sinnbild einer schier unauflösbaren Starre.

Lischka:
Diese Starre wird heute gerne als Black Box bezeichnet, und Laing spricht von ihr als Knoten (Nexus). Diesen Knoten zu öffnen ist ein schwieriges Unterfangen …

Die Einheit des Nexus liegt im Inneren einer jeden Synthese. Jeder solche Akt von Synthese ist durch die reziproke Interiorität mit jeder anderen Synthese des selben Nexus verbunden, insofern dies auch die Interiorität jeder anderen Synthese ist. Die Einheit des Nexus liegt in der Vereinigung, hergestellt durch jedermann aus der Vielheit der Synthesen. Die Sozialstruktur des vollendeten Nexus ist Unitas als Ubiquitas. Es ist eine Ubiquität des hier, während die Reihe der anderen immer anderswo, immer dort ist.

Der Nexus existiert nur, insoweit jede Person den Nexus inkarniert. Der Nexus ist überall in jeder Person, und er ist nirgendwo als nur in ihr. Der Nexus ist das Gegenteil des "sie" – jeder anerkennt seine Zugehörigkeit zu ihm, betrachtet den anderen als gleichwertig mit sich und erwartet, daß der andere ihn auch als sich gleichwertig betrachtet.
Ronald D. Laing, Phänomenologie der Erfahrung. Frankfurt 1971, S.78.

Weibel:
… und wäre Aufgabe der Therapie und auch der Kunst. Wegen dieser Bedeutung der Verknotung in der Codierung psychischer Prozesse und wegen der Notwendigkeit, sie zu lockern – die Knoten sind gleichsam die Schwerkraft der Kommunikation, das Senkblei der Seele –, spielt in der Psychiatrie die Knotentheorie als Visualisierung seelischer Prozesse, als Morphologie psychischer Vorgänge eine große Rolle. Auch Jacques Lacan hat sich in den letzten Jahren seiner Lehre intensiv mit der Knotentheorie beschäftigt, von der anglo-sächsischen Knotenkunst bis zum mathematischen Lehrbuch "Knotentheorie" (1932, Reprint 1974, Springer Verlag) von K. Reidemeister. Lineare Kausalität …

Lischka:
… und eine rigide Verknotung …

Weibel:
… führen zu "fatalen Systemen" (Baudrillard). Wir setzen dagegen variable Netzwerke, selbstverständlich auch auf digitaler Basis, z. B. das internationale Networking mittels Computer, wir setzen dagegen Kreislaufprozesse, Informationsfluß und Interaktion, alles wesentliche Elemente eines offenen Kommunikationssystems, wie sie eben die Eigenschaften komplexer Gebilde ausmachen.

Lischka:
Wir haben schon gesagt, daß Kommunikation nur in einem Kommunikationsnetz möglich ist, d.h., es gibt mehr oder weniger flexible bzw. feste Knoten und Schnüre als Verbindungen. Diese Verbindung bezeichnet man heute am besten als Interface, Interaction … Das Inter ist eben das Dazwischen, der nötige Abstand, um überhaupt von Kommunikation sprechen zu können. Die Gefahr in einer heutigen globalen Kommunikationssituation ist, daß dieses Inter immer mehr verwischt wird, so daß es eigentlich keinen Zwischenraum und vor allem in der Chronokratie keine Zwischenzeit mehr gibt. Deshalb muß man unbedingt auf eine Theorie des Momentes zu sprechen kommen, die uns erst wieder über Zeit zu räsonieren gestattet. Der erste, der eine solche Theorie des Momentes für die Postmoderne entwickelt hat, ist Lefèbvre, die dann auch zum wichtigsten Ausgangspunkt der Situation für die Internationalen Situationisten geworden ist. Die Situationisten haben Ende der 50er Jahre als erste darauf hingewiesen, daß man in der Mediatisierung, im Zeitalter des Spektakels, die urbanen Räume spielerisch erobern muß, um nicht nur von den Medien fasziniert, geblendet zu sein.

Das Moment ist eine höhere Form der Wiederholung des Neubeginns, des erneuten Auftauchens, des Wiedererkennens gewisser bestimmbarer Beziehungen zum Anderen (oder zum Nächsten) und zu sich selbst. Gemessen an dieser relativ privilegierten Form sind die anderen Wiederholungsformen nur Werkstoff oder Material: die Abfolge der Augenblicke, die Gesten und Verhaltensweisen, die nach Unterbrechung oder Einschüben wieder hervortretenden stabilen Zustände, die Objekte und Werke und schließlich die Symbole und affektiven Stereotypen.
Henri Lefèbvre: Kritik des Alltagslebens, Band 3, München 1975, S. 180.
Partizipation

Weibel:
Ich würde überhaupt davon ausgehen, daß die wesentliche moderne Kunst seit 1945 sich um das Problem der Differenz, des Dazwischen, des Inter, zentriert. Beginnen wir mit Robert Rauschenbergs Maxime seines Schaffens: "Die Malerei bezieht sich auf beides, auf die Kunst und das Leben … Ich versuche, in dieser Kluft zwischen beiden zu handeln."

Wenn sie wünschen, können die aussteller hier ihre eigenen "gesichtspunkte" anfügen und mit schwarzer emaille und pinsel, wie angezeigt, auf die blanken kartons schreiben, die noch in dieser kiste stecken. so wird sich die kiste durch hinzufügungen ebenso verändern wie das environment durch interpretation und wechsel.
Allen Kaprow, Vor und zurück. Eine Möbelkomödie für Hans Hofmann (1963), in: L. Glozer, Westkunst, DuMont, 1981, S. 256.

Anstatt sich auf die Kunst zu konzentrieren, auf ihre Probleme und auf ihre Bedürfnisse, spricht der Künstler dem Publikum gegenüber über das Publikum selbst … Diese Dinge werden nun Neo-Dada genannt.
Harald Rosenberg (über Rauschenberg, John etc.), Das Publikum als Inhalt, in: Laszlo Glozer, Westkunst, DuMont, 1981, S.255.

Weibel:
Diese Position des Zwischen finden wir auch bei seinem Freund, dem Musiker Morton Feldman, dem Mitstreiter von John Cage. Feldman sprach ausdrücklich von einer Musik "zwischen den Kategorien", von Werken "zwischen Zeit und Raum, zwischen Malerei und Musik". Eine "Ästhetik des Wandels" (Isko Press, 1987) auf einer radikal kybernetischen und konstruktiven Systemtheorie bzw. Kommunikationstheorie (nach G. Bateson) hat Bradford P. Keeney entwickelt. Ein Großteil der modernen Kunst setzte auf Wechsel, auf Prozeß, auf Moment. Diese Entwicklung wurde aber vom Markt, der handelbare Produkte braucht, immer wieder unterdrückt und gebremst. Vom Action Painting zur Performance wurde die Aktivität des Künstlers wie des Betrachters betont, der Markt hingegen versucht gerade die emanzipatorischen und partizipatorischen Aspekte der Kunstbewegungen zu vernachlässigen. Um die bürgerliche Ontologie des Objekts zu retten, hat die Gesellschaft nicht davor zurückgeschreckt, mit dem Markt als Kontrollmechanismus/Schnittstelle die Kunstgeschichte zu verstümmeln und zu verfälschen, indem sie ganze Kunstrichtungen vom Markt ausgeschlossen hat, oder von jenen Kunstrichtungen, die sie zeitweilig in den Markt inkludierte, deren eigentlich entscheidende Elemente unterschlug. So ist von der Op-Art das Spiel der Muster auf der Bildfläche rezipiert worden, aber nicht das Phänomen der realen Bewegung, die durch einen aktiven Betrachter bis zur Verwirrung des Betrachters hervorgerufen wird, siehe z. B. Bridget Riley. Der Betrachter wurde nicht nur perzeptuell aktiviert bzw. zum Bewegen veranlaßt, um das Kunstwerk überhaupt erfassen zu können, sondern das Kunstwerk selbst wurde in Bewegung versetzt (in der kinetischen Kunst). Der Betrachter wurde schon bei der Op-Art zum eigentlichen Benutzer, siehe Paul Tallmans "Kugelbild, K 100b", wo 100 Tischtennisbälle, die zur Hälfte weiß und zur Hälfte schwarz und auf einer Fläche quadratisch angeordnet sind, durch die Interaktion mit dem Benutzer, der die Bälle drehen kann, unendlich viele Bildmuster erzeugt werden. Es versteht sich, daß solche Aktivierungen des Betrachters von der Passivität zur Partizipation auch schon in den progressiven Kunstbewegungen vor dem Zweiten Weltkrieg explizit angestrebt worden sind, z.B. in den Proun-Räumen von El Lissitzky, siehe das "Kabinett der Abstrakten" (1927) in Hannover. Ebenso wurde in der Rezeption der Op-Art nicht nur der aktivierte Betrachter, sondern auch der deaktivierte Kreator vemachlässigt, wie er in den "Zufallslinien", in den Zufallsmustern, von François Morellet von 1957 auftaucht. Der aktivierte Betrachter wurde vom "Mitspiel" Claus Bremers bis zum Happening derart radikalisiert, um den Raum zwischen Kunst und Leben zu überbrücken, daß die Kunst selbst insgesamt in ein Zwischen von Aktion und Partizipation zerfiel.

Whether an Activity involves many participants, as in Kaprow's work, or a single performer, as in George Brecht's pieces, the fundamental principle is the same. Some Activities relate more to one art form than another, and there is no artform to which they could not relate, but these are questions of style rather than form. The important thing is the basic characteristic of interiorization that makes the Activity entirely different from any other art. Their development at this time in history seems to be another indication of man's concern with the dimensions of his own consciousness.
Michael Kirby, The Art of Time, E.P. Dutton, N.Y., 1969, S. 169.

Weibel:
Von der Musik zur Malerei, von der Literatur zum Kino, vom Theater zur Architektur, von der Wissenschaft zur Kunst entwickelten sich von 1950 bis zur Gegenwart nicht nur neue künstlerische Environments, nicht nur neue intermediale Formen der Kunst, sondern auch ganz neue interaktive Formen zwischen Kunstwerk und Betrachter, die sich von einer spielerischen Teilnahme bis zur wirklichen Kreativität entwickeln konnten. Vielfältig waren die Methoden der partizipatorischen Praktiken in der Kunst: vom Künstler des Random Access, J. Cage, bis zur Partitur der Aufforderung, Fluxus. Der eingeplante Zufall wie der aufgeforderte Zufallsakteur bildeten die Tore für die Teilnahme des Betrachters, für die Partizipation des Publikums wie des Performers.

The disappearance of the 'object' in art is closely linked with three recent developments. the participation of the public, the architectural factor and the use of entirely new, 'non-solid', plastic materials. The first of these departures is probably the least spectacular and obvious, yet it has perhaps been the most far-reaching. Moreover the role played in the development of spectator participation by Op art and the 'Nouvelle Tendance' must by no means be underestimated, despite the fact that it is less obvious than the more direct forms of participation.

The initial principle which determines the development within this field is that an attitude which transfers the accent to the spectator, both as regards his perceptual capacity and his powers to make permutations and combinations, necessarily weakens the separate status of the object or 'chef-d'oeuvre', which is viewed no longer as an autonomous unit but simply as a stimulus or incitement to a particular type of activity or perception.
Frank Popper, Art – Action and Participation, New York University Press, 1975, S. 13.

Weibel:
Dabei hat es sich gezeigt, wenn wir das Beispiel der ersten Videoinstallationen heranziehen wollen, die hauptsächlich Closed-Circuit-Installations waren, in denen der Betrachter als von der Kamera Aufgenommener und auf dem Bildschirm Wiedergegebener die entscheidende Rolle spielte, daß die modernen technischen Medien die Rolle der Partizipation am radikalsten vorangetrieben haben und somit die Idee des Kunstwerkes ein für alle Mal gespalten haben. In den klassischen Künsten Skulptur und Malerei ist der aktive Betrachter nur latent vorhanden, denken wir an die Perspektivespiele der Renaissance und das Illusionstheater des Barock. In der neuen Medienkunst ist der partizipatorische Betrachter, die Interaktion zwischen Kunstsystem und Benutzer, die Conditio sine qua non. Das bewegte Medium leistet nicht nur leichter, was das arretierte Bild kaum zustande bringt, das bewegte Medium erfordert nachgerade die Teilnahme des Betrachters. Ohne den Benutzer funktioniert das Medium nicht bzw. findet das Spiel gar nicht statt. Die Medienkunst, insbesondere die digitale, ist fast per definitionem interaktive Kunst. Sie hat die partizipatorischen Praktiken der Avantgarde zu einer Technologie der Interaktivität entwickelt. Sie benutzt zum Beispiel bei der interaktiven digitalen Videoplatte (ab 1978) die interaktiven Fähigkeiten des Computers, um zwischen dem "Werk", das natürlich nun nicht mehr ein Werk im klassischen Sinn ist und sein kann, und dem Betrachter einen Dialog, ja einen Polylog, um einen multiplen Kreationsprozeß zu ermöglichen. So wurde aus dem aktiven Betrachter und Benutzer der echte Teilnehmer an der Gestaltung des "Kunstwerkes". Vom Touchscreen (ein Bildschirm, der auf Fingerdruck reagiert) bis zur interaktiven computerunterstützten Toninstallation entsteht so eine Kunst, die mit dem Betrachter taktil, visuell oder akustisch interagiert.

What is interactive video? Quite simply, a video programme which can be controlled by the person who is using it. Usually, this means a video programme and a computer program running in tandem. The computer program controls the video programme – and the person in front of the screen controls them both. There are now interactive video systems based on the combination of domestic standard video equipment and home computers.(…)

Interactive video represents the fusion of these two persuasive technologies. It harnesses the versatility of computers to the fluency of video, and links two tools with tremendous potential for information storage. Together, a computer program and a video program can record, store, manipulate and display information from just about any source, from the venerable book to the digital bit.

Eric Parsloe (Hrsg.), Interactive Video, Sigma Technical Press, 1985, S. 1 +2.
L: Nachdem du nun direkt auf die kunstgeschichtliche Entwicklung eingegangen bist, möchte ich mich mit dem Problem der Mediatisierung abgeben und dem, was darin Passivität und Aktivität heißt. Schon früh wurde erkannt, daß das Medium nicht, so einfach und überzeugend es auch klingt, eine Botschaft ist, sondern daß die Medien recht eigentlich Pseudoaktionen sind, Deshalb kommt ja gerade den Begriffen Intermedia und Interaktion eine so große Bedeutung zu, weil die Pseudoaktion ja nichts anderes als passive Rezeption und aktive Produktion der Medien bedeutet. Die Pseudoaktion ist also eine Als-Ob-Aktion, und um sie durchschauen zu können, müssen wir das Als-Ob des Als-Ob kennen. Die Pseudoaktion ist deshalb so erfolgreich, weil sie uns in der endlosen Kette der Augenblicksfolge nicht zu uns kommen läßt. Sie ist gleichfalls das Rückgrat der unendlichen Mache der Images. Deshalb müssen wir uns ja für den Moment starkmachen, eine Zeiteinheit, die nicht meßbar ist, die somit auch die Zeiteinheit der Interaktion ist. Diese Zeiteinheit gewährt dem Macher wie dem Betrachter z.B. eines Kunstwerkes einen dynamischen Standpunkt, der der Dynamik der Zeit entsprechend natürlich immer wieder verschoben werden muß. Dann kann man nicht dem gewaltigen Druck der Augenblicke ausgeliefert sein.

Weibel:
Das ist ja gerade das Problem, daß in der Epoche der Renaissance sowohl die Kunst der Perspektive wie auch die Wissenschaft der Dynamik strukturell miteinander bedingt entwickelt worden sind und daß in der zeitgenössischen Kultur die künstlerische Ästhetik und die technische Wissenschaft auseinanderklaffen. Hätten wir auch in der Kunst eine Ästhetik entwickelt, die mit dynamischen Systemen und dynamischen Formen umgehen kann, so wie es in den letzten 30 Jahren Kybernetik, Komplexitätswissenschaft und Katastrophen-, Chaos- und Fraktaltheorie tun, dann wären wir den Effekten der Pseudoaktion, der Images, nicht so hilflos ausgesetzt, wie du es gerade demonstriert hast. Ich mache eben auch den Kulturbetrieb und seinen Gebrauch der Künste und der Medien für dieses Vordringen der Pseudowelt, der Verblendung und Passivität verantwortlich. Der Kunstbetrieb ist wirklich bankrott und verläuft neben der realen Wirklichkeit. Der Zynismus besteht aber darin, daß die Kuratoren dieses Betriebs so verschwenderisch auf dem Meer der Insignifikanz mit liberalen Begriffen segeln.

Lischka:
Auch die Soziologie ist wie die Kunst in den 50er Jahren darauf gekommen, daß die zwischenmenschlichen Beziehungen eingefroren sind, daß also Passivität das gesellschaftliche Klima beherrscht. Indem die Rollenspiele des Alltagslebens untersucht wurden, beobachtete man eine immer stärker werdende Verödung des Lebens, gerade durch die Pseudoaktion hervorgerufen. Bestimmt war Goffman in dieser Hinsicht ein den damaligen Kunstaktivitäten kongenialer Gesellschaftstheoretiker.

Der Vorgang der wechselseitigen Aufrechterhaltung einer Situationsdefinition in der direkten Interaktion wird sozial durch Regeln der Relevanz und Irrelevanz organisiert. Diese Regeln für die Handhabung der Versenkung scheinen ein nicht-substantielles Element des sozialen Lebens, eine Frage der Höflichkeit, der Manieren, der Etikette zu sein. Diesen schwachen Regeln und nicht dem unerschütterlichen Charakter der Außenwelt verdanken wir jedoch unseren unerschütterlichen Sinn der Realitat. (…)

Interaktionssituationen sind – das muß hinzugefügt werden – solche, in denen eine große Anzahl von Zeichenträgern, ob nun erwünscht oder nicht, verfügbar werden; sie sind daher Situationen, in denen viele Informationen über einen selbst verfügbar werden; Situationen direkter Interaktion sind in der Tat ideale Projektionsgebiete; der Teilnehmer muß sie einfach in kennzeichnender Weise strukturieren, so daß man, ob er nun will oder nicht, richtige oder unrichtige Schlüsse über ihn ziehen kann.
Erving Goffman, Interaktion: Spaß am Spiel/Rollendistanz. München 1973, S. 90, S. 115

Weibel:
Genau unter diesem Blickpunkt kann man sehen, wie der Kunstmarkt, der ja das Kunstwerk als Handelsware vertreten muß und daher einer bürgerlichen Ideologie unweigerlich verpflichtet ist, gerade die emanzipatorischen, progressiven und partizipatorischen Elemente der modernen Kunst unterdrückt, die mit den neuen Erkenntnissen anderer gesellschaftlicher Formen der Erkenntnis und des Wissens, nämlich von der Soziologie bis zur Physik, korrespondieren. Eine bestimmte Kunst wird durch den Markt zum Komplizen der Verblendung. Eine andere Kunst entwickelt sich aber weiter, wenn auch marginalisiert, jenseits des Marktes. Die neuen Medien bringen daher das Drängen der Partizipation, das im Kunstwerk schon lange als Keim verborgen war, nach vorne in Evidenz. Dies wiederum korrespondiert mit den neuesten Interpretationen der Quantentheorie.

Lischka:
Durch die Mediatisierung, die das Als-Ob ja schon voll abdeckt, kommt die Kunst eben in Bedrängnis, weil sie bis jetzt der Stellvertreter des Als-Ob war. Sie muß jetzt das Als-Ob des Als-Ob sein, also zur Metasprache der Medien werden, z.B. ein Intermedium, oder, was in der heutigen Mediatisierung dasselbe meint, sie muß zur Realität werden, zu dem, was schon früher einmal von dir angedeutet worden ist, zum Biotop und zum tatsächlichen Erlebnis. Das ist der Grund, weshalb in der Performance das Kunstwerk zur flüchtigen Demonstration des Künstlers und zum kreativen Moment des Betrachters werden konnte, was nichts anderes als Interaktion ist.

Weibel:
Eben, das klassische Kunstwerk ist produktorientiert, die Kunst der technischen Medien hingegen ist prozeß- und partizipationsorientiert. Insofern korrespondiert die technische Ästhetik mit der Quantentheorie. Durch Bohrs Komplementaritätsprinzip haben sich (1927) ja nur zwei Möglichkeiten für eine Interpretation der Welt ergeben. Wenn nämlich laut Bohr die Beobachtung des einen Aspekts eines Phänomens die Beobachtung anderer Aspekte des gleichen Phänomens verunmöglicht, dann kann ich einerseits nur wie Everett ein Pluriversum von Phänomenen, eine Many-Worlds-Interpretation, annehmen, wo jedes sich durch die Beobachtung spaltende Phänomen eine Vielzahl paralleler Welten erzeugt. Der Akt des Messens, der Beobachtung, wird dabei sekundär. Oder ich kann die eigentliche Konsequenz ziehen und die Beobachtung selbst in den Mittelpunkt stellen, was durch das Inequalitytheorem von John Bell (1965), das der Meßbarkeit und Korrelation solcher gespaltener Phänomene (zwei Partikel Quantensysteme) sehr enge Grenzen zieht, nahegelegt wird, weil es 1982 durch ein berühmtes Experiment (A. Aspect et al.) bewiesen wurde. Mit John Archibald Wheeler können wir sagen: Wenn die Wahrnehmung der Realität eben nur durch Messung und Beobachtung stattfinden kann, also durch Interaktion, wie auch immer, und die Wahrheit dieser Beobachtungen nur durch Kommunikation mit anderen Lebewesen einigermaßen überprüft werden kann, so ist die Lehre der Quantenphysik, daß eben unsere Welt, wo Phänomene nur existieren, wenn sie auch beobachtet werden, ein partizipatorisches Universum ist.

The first is the elementary quantum phenomenon which Bohr stressed so strongly. I try to put his point of view in this statement: "No elementary quantum phenomenon is a phenomenon until it's brought to a close by an irreversible act of amplification by a detection such as the click of a geiger counter or the blackening of a grain of photographic emulsion." This, as Bohr puts it, amounts to something that one person can speak about to another in plain language. Which brings us to the second aspect of this story. That is, putting the observation of quantum phenomenon to use. (…)

According to Follesdal's statement, meaning is the joint product of all the evidence that is available to those who communicate. So it's the idea of communication that's important. As animals have to communicate, the establishment of meaning doesn't require the use of English!
John Wheeler, in: The Ghost in the Atom, hrsg. von Davies & Brown, Cambridge University Press, S. 61 + 64.

Lischka:
Interaktionistisch gesehen muß man in diesem Fall mit Watzlawick, Beavin und Jackson sagen, daß man nicht nicht kommunizieren kann, weil man schließlich auch dann, wenn man alleine im Wartesaal sitzen möchte, von jemandem angesprochen werden kann. Weil Kommunikation also nur als offenes System und als Öffnung des Systems gedacht werden kann, kommt immer die Handlung dazu, was soviel heißt wie, daß Kommunikation als solche eine Öffnung ist, somit zur Interaktion führen kann.

Kommunikation zeichnet sich gerade dadurch aus, daß sie eine Situation für Annahme bzw. Ablehnung öffnet. (…)

Nur auf der Ebene des Gesellschaftssystems und seiner Subsysteme ist Evolution möglich, das heißt eine Änderung von Strukturen durch Variation, Selektion und Restabilisierung. Interaktionssysteme können zur gesellschaftlichen Evolution beitragen oder auch nicht; sie tragen bei, wenn sie Strukturbildungen anbahnen, die sich im Gesellschaftssystem bewähren. Ohne dieses riesige Versuchsfeld der Interaktionen und ohne die gesellschaftliche Belanglosigkeit des Aufhörens der allermeisten Interaktionen wäre keine gesellschaftliche Evolution möglich; auch insoweit ist also die Gesellschaft selbst auf eine Differenz von Gesellschaft und Interaktion angewiesen.
Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt 1987, S. 203, S. 575.

Weibel:
Gerade deswegen haben eben progressive Künstler, die im Einklang mit den Erfordernissen der Zeit und Erkenntnissen der Wissenschaft waren, ästhetische Formen entwickelt, welche solche offenen interaktiven Systeme darstellen, z.B. George Brecht und Robert Filliou und ihre spielerischen Szenarios und Spielanweisungen, wie sie in dem Buch "Games at the cedilla" (Something Else Press, 1967) dargestellt sind, z.B. "The believe it or not – game" oder folgendes Ein-Minuten-Szenario: "Ein Mann kocht sich seine Mahlzeit, die Kamera zieht auf, er steht in der Mitte eines Supermarkts." Nachdem 1944 auf Englisch und 1961 auf Deutsch das Buch "Spieltheorie und wirtschaftliches Verhalten" von John von Neumann und Oskar Morgenstern erschienen ist und 1961 Norbert Wieners Buch zur Kybernetik, haben spieltheoretische Strategien sowohl in der Musik wie auch in der visuellen Kunst unserer Zeit Eingang gefunden und damit eine weitere Öffnung des Kunstsystems und ein Drängen zur Partizipation bewirkt.

Lischka:
Partizipation wurde in den letzten Jahren immer wieder zu einem magischen Wort hochstilisiert. Wahrscheinlich gerade deshalb, weil in unserer Gesellschaft alles so eingleisig funktioniert. Selbst sogenannte Publikumspartizipation in den Medien ist ja nichts anderes als eine Farce, denn wie soll man partizipieren, wenn alles schon festgelegt ist und gar keine Möglichkeit zur Interaktion da ist, wenn die Räume fixiert und die Zeit klar bemessen ist.

Weibel:
In Wirklichkeit ist eben alles schon so fest verknotet, daß es gar keine Zwischenräume und Zwischenzeiten mehr gibt. Daher bedarf es künstlerischer Praktiken, die auf diesen Zwischenräumen und zwischenzeitlichen Formen insistieren, um die fatale Verknotung der Aktivität der Menschen und die starre Vercodung ihres Bewußtseins zu lockern.
INTERAKTION
Lischka:
Der fixe Zeitplan in den Medien ist die unausweichliche Folge des einen Augenblicks nach dem anderen Augenblick. Die Interaktion jedoch kann zu den Momenten führen, die uns zu uns bringen. Diese Momente sind nur in einer Situation möglich, die ich seit langem als Atmosphäre bezeichne. Diese Atmosphäre ermöglicht erst im tatsächlichen Sinne eine Interaktion. Sie ist die Voraussetzung zur lockeren Begegnung, zur Öffnung zur Kommunikation und letztendlich zu dem, was das alles zusammen radikalisiert, zum poetischen Akt.

Sie werden hier im Anschluß an die Arbeiten von Hermann Schmitz "Atmosphären" genannt. Die sind als "quasi objektiv" zu bezeichnen, insofern sie zwar nicht wie Objekte vorfindlich, aber doch durch gegenständliche Arrangements praktisch erzeugbar sind. In Atmosphären von Umgebungen, seien es nun Atmosphären von Landschaften, von Plätzen oder Innenräumen, kann man "hineingeraten". Atmosphären "hängen" an Dingen und gehen von Dingen und Menschen aus, Atmosphären sind zwar nicht "objektiv" – und das heißt im Sinne neuzeitlicher Wissenschaft durch Apparate – feststellbar, aber es gibt gleichwohl darüber eine intersubjektive Verständigung. Ebenso wie eine Theorie der Befindlichkeit könnte man also die Ästhetik, auf die wir uns zubewegen, eine Theorie der Atmosphären nennen. Die Ästhetik als Wahrnehmungstheorie in uneingeschränktem Sinne hat eben damit zu tun, daß man sich durch Umgebungen und Gegenstände affektiv betroffen fühlt bzw. sich jeweils in Umgebungen oder in Anwesenheit bestimmter Gegenstände in charakteristischer Weise befindet.
Gernot Böhme, Für eine ökologische Naturästhetik, Frankfurt 1989, S.11.

Weibel:
Henry Pierre Roche, der Freund Duchamps, sagte von diesem: Seine beste Kunst ist sein Gebrauch der Zeit. Insofern spielt sich der poetische Akt nicht mehr als Interaktion im Raum, sondern auch als Interaktion in der Zeit ab, und das bewirkt ja gerade den Bruch mit den klassischen Kunstmedien und ihrer arretierten starren Zeit. Zeitrebellen, die in der Chronokratie einen anderen Gebrauch der Zeit machen als den gesellschaftlich vorgeschriebenen, eröffnen somit neue Horizonte. Insofern können timebased, zeitbegründete Kunstformen als Technologien der Freiheit dienen. Interaktion ist eine Sequenzierung der Zeit in Helix-Form.

In Wirklichkeit bleibt ein reales, irdisches System niemals auf Dauer in ein und demselben Zustand. Zunächst einmal befinden sich fast alle Systeme in Berührung mit einer komplexen oder sogar unberechenbaren Umwelt. Diese führt ihnen beständig kleinere (oder manchmal auch größere) Mengen an Materie, Impuls oder Energie zu. Als Folge davon ist es praktisch unmöglich, irgendeine der Zustandsvariablen mit unbegrenzter Genauigkeit einzustellen.
G. Nicolis, I. Prigogine, Die Erforschung des Komplexen, Piper, 1987, S. 100,

Weibel:
Wie Nam June Paik sagt: In the past, art was 3D and 2D and didn't deal with time. Visual artists need to deal with time components – and that means video.

Lischka:
Der poetische Akt als solcher leuchtet aus dem Meer an Ästhetik, in dem wir heute primär schwimmen, auf. Alles ist Ästhetik geworden, was durch die Dominanz des Scheins der Mediatisierung bewiesen ist. Der poetische Akt ist genauso offen in dem Dazwischen, in dem Inter eben, angesiedelt, wie wir selber auch offen sein müssen, damit wir einen poetischen Akt kreieren können oder ihn als solchen decodieren können. Im Zeitalter der Medien müssen wir deshalb die Poesie neu definieren, gerade im Sinne dieser Offenheit, und das bedeutet, daß wir für den poetischen Akt auch sämtliche zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen können. So müssen wir auch neue Umschreibungen des poetischen Aktes finden können, wie z.B. Einbilden, das Flusser gebraucht, um die Dominanz des Bildes im Computerzeitalter als poetische Möglichkeit voll auszuwerten.

Eben hierin liegt ja das Neue der emportauchenden Einbildungskraft, das Neue des künftigen Bewußtseins: daß der Diskurs der Wissenschaft und der Fortschritt der Technik zwar als unerläßlich angesehen werden, daß sie aber nicht mehr für sich selbst interessant sind und wir das Abenteuer anderswo, in der Einbildung suchen.

Die Frage nach dem Einbilden ist daher von der Geste des Tastendrückens ins Bewußtsein des Einbildners zu übertragen, so wie ich es in bezug auf das Schreibmaschineschreiben zu tun versuchte. Und dann stellt sich heraus, daß zwar die Geste des Tastendrückens in beiden Fällen die gleiche ist, daß es sich aber beim Einbilden um ein anderes Bewußtsein handelt. Denn es geht hier eben nicht um durchsichtige Maschinen, sondern um undurchsichtige Apparate. Die Einbildner stehen nicht über den Apparaten, wie die Schreibmaschineschreiber über den Maschinen stehen, sondern sie stehen mitten in ihnen, sie sind mit ihnen und von ihnen verschlungen. Sie sind weit enger an die Apparate gebunden als die Schreiber an die Maschinen. Einbilden ist weit "funktioneller" als Textschreiben, es ist einprogrammierter Vorgang. Wenn ich schreibe, schreibe ich über die Maschine dem Text zu. Wenn ich technische Bilder einbilde, so bilde ich aus dem Inneren des Apparates her.
Vilem Flusser: Ins Universum der technischen Bilder. Göttingen 1985, S. 33.

Weibel:
Ich würde den poetischen Akt gerne technisch definieren mit Heinz von Förster, als circulus creativus oder als Interaktion im offenen System. Bei einem (kybernetischen) System geht es ja nicht um die Größe der (sozialen, biologischen) Einheit. Von kybernetischen Systemen spricht man, wenn Ereignisse rekursiv als Rückkopplung strukturiert sind. Zur rekursiven Organisation kommt durch die Feedback-Struktur die Selbstkorrektur des Systems, um ein bestimmtes Ziel (z.B. Individualisierung, Singularität) zu erreichen. In dem Bestreben um Eigenwert, Eigenzeit, Eigenmaß, Eigenraum etc. geht es darum, sich als Tanz der Teile in einem System zu verselbständigen, im Feuer des Kontrastes seine Identität auszudifferenzieren. Diese ganzen Theorien der letzten Zeit von den selbstorganisierenden bis zu den selbstreferentiellen Systemen, versuchen ja nichts anderes, als den Prozeß der Individuation in einem System durch die Interaktion autonomer Teile zu erklären und deren Gesetzmäßigkeiten herauszufinden. Insofern korrespondiert interaktive Kunst mit der aktuellen Erkenntnistheorie des radikalen Konstruktivismus (von Glasersfeld) und der evolutionären Erkenntnistheorie eines H. Maturana.

Lischka:
Der radikale Konstruktivismus und die Theorie der Autopoiesis lehren uns, daß wir, selber aus Punkten bestehend, zu einer Ganzheit werden, die wiederum als Punkt in einer unvorstellbaren Ganzheit des Universums lebt. Das Leben ist nur partikular erfahrbar, somit jede Erkenntnis nur an etwas verifizierbar. In der Kunst und der Literatur wurde deshalb parallel zur Philosophie und Erkenntnistheorie zu neuen künstlerischen Techniken gegriffen, die das veranschaulichen konnten. So folgten sich Montage, Collage, bis zu den Cut-up-Techniken. Wir leben heute, könnte man sagen, in einem riesigen Angebot, aus dem wir immer wieder neue partikulare Elemente herauspicken. Der Begriff des Materials ist durch diese Prozesse der Zerhackung auch fragwürdig geworden zugunsten eines Begriffs der Energie, die auch viel schneller ausgetauscht werden kann. Deshalb die Bedeutung des von Lyotard eingeführten Begriffs "Les Immatériaux", den wir zu deutsch als Immaterialien übersetzen. Das Bewußtsein von den Immaterialien gestattet uns, den weltweiten Prozeß der Mediatisierung zu begreifen.

Beim Begriff "Immaterial" handelt es sich nun um einen etwas gewagten Neologismus … Damit ist lediglich ausgedrückt, daß heute – und das hat sich in allen Bereichen durchgesetzt – das Material nicht mehr als etwas angesehen werden kann, das sich wie ein Objekt einem Subjekt entgegensetzt. Wissenschaftliche Analysen der Materie zeigen, daß sie nichts weiter sind als ein Energiezustand, d.h. ein Zusammenhang von Elementen, die ihrerseits nicht greifbar sind und von Strukturen bestimmt werden, die jeweils nur eine lokal begrenzte Gültigkeit haben. Die Wissenschaftler treffen sich da mit den Versuchen der zeitgenössischen Künstler, z.B. mit denen die neue Technologien verwenden: Videodisc, Laser, synthetisierte Bilder.
Jean-François Lyotard (mit anderen), Immaterialität und Postmoderne. Berlin 1985, S. 25.
ZUSAMMENSPIEL
Weibel:
Hier wiederholt sich ein Prozeß der Welterfahrung, wie er im 18. Jahrhundert sich in der Kosmologie abspielte. Nämlich die Debatte um die Pluralität der Welten. Da die Fähigkeiten Gottes selbstverständlich unendlich sind, meinte z.B. auch Kant in seiner "Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels" (1755), keinen Sinn darin zu sehen, Gottes unendliche Kraft auf das kleine Territorium unseres Globus zu beschränken. Daher mußten die Manifestationen Gottes eben unendlich sein und ein unendliches Universum kreieren, wo Welten ohne Zahl und ohne Ende existieren. Im gleichen Werk berührt Kant auch schon ein verwandtes Phänomen, nämlich die Frage von Ordnung und Chaos. Wegen der Existenz Gottes kann die Natur auch im Chaos nur ordentlich und regelmäßig operieren, wobei Kant graduelle Umwandlungen von Chaos in Ordnung voraussagt. Diese auf Gottes Eigenschaften begründete Kosmologie einer Pluralität von Welten ist heute deszendiert zu einer auf den Systemeigenschaften begründeten Wissenschaft der pluralistischen Weltbeschreibungen. Wir haben nämlich ein Auftauchen von Synthesetendenzen in den Wissenschaften in den letzten Jahrzehnten zu beobachten (ähnlich wie in der Kunst), die davon herrühren, daß ein System bei Variation der auferlegten Bedingungen (sei es ein soziales, chemisches, psychisches, thermodynamisches, biologisches, mathematisches, ökologisches System etc.) mehrere dem Wesen nach verschiedene Verhaltensweisen an den Tag legt. Ein System kann demnach unter verschiedenen Gesichtspunkten und Anforderungen mehrere verschiedene Aspekte zeitigen. Dadurch wird, wie Nicolis und Prigogine in "Die Erforschung des Komplexen" (1987) sagen, "eine pluralistische Betrachtungsweise der physikalischen Welt nahegelegt … Die Sicht einer in dieser Weise offenen Welt bildet den Kernpunkt … ". Die Pluralität der Welten verschiebt sich also zu einer Pluralität der Bilder und der Betrachtungen der Welt. Das pluralistische Zusammenspiel multipler Elemente, die steigende Partikularisierung bei gleichzeitig anwachsender Universalisierung haben eine Architektur der Komplexität erbaut, als Schnittstellen von Schnipseln collagiert und rekurriert, eine fragile Geometrie des Gleichgewichts.

Komplexität ist ein untrennbarer Bestandteil der Welt dynamischer Systeme. Henri Poincaré, das große mathematische Genie der Jahrhundertwende, erfand die moderne Theorie dynamischer Systeme und gab das Ziel vor, die Verhaltensweisen zu erkunden, welche von einem durch gekoppelte nichtlineare Gleichungen beschriebenen System zu erwarten sind.
Gregoire Nicolis, Ilya Prigogine, Die Erforschung des Komplexen, Piper, 1987.

Lischka:
Deshalb konnte William Burroughs in seiner "Elektronischen Revolution" von Viren sprechen. Diese Viren sollten und sollen das Programm, das eine Programm, so stören, daß nur noch viele Programme möglich sind. Natürlich gibt es heute ein riesiges Programmangebot durch die Medien, doch sehen wir genauer hin, ist dies nichts anderes als ein einziges Grau-in-Grau-Programm. Deshalb plädierte Borroughs letztlich – damals mit einem anderen Tonband-Schnitt-Begriff – dafür, daß jeder sein eigenes Programm machen solle, was wir natürlich auf alle Medien anwenden können, wie überhaupt auf das Erstellen eines Lebenssinnes. Da wir gemeinschaftliche Wesen sind, ist dieser Lebenssinn schließlich nur im Zusammenspiel aller zu sehen: Wenn eben z.B. Kommunikation zu einem Kommunikationsnetz des Austausches wird und demnach das eine Programm der tatsächlichen Programmvielfalt als spielerisches Zusammensein gewichen ist.

The central concept, from the artistic point of view, is that of collage, the juxtaposition of unrelated real-life elements in a relationship contrived by the artist.

Art influenced by Cage tends to be not only non-sequential (and thus, in intention, liberating) but unpredictable even to the artist.
Adrian Henri, Total Art: Environments, Happenings and Performance, Praeger 1974, S. 88 + 89.

Weibel:
Jeder als sein eigener Programmgestalter kann man sich als rekursive Rückkoppelung vorstellen, nämlich einer sendet ein Programm, der zweite bearbeitet dieses Programm, sendet es wieder weiter, der dritte bearbeitet wiederum dieses Programm und sendet es weiter etc., bis es wieder zum ersten zurückkommt – Modell einer Teilnahme am elektronischen öffentlichen Dialog. Dies könnte sogar live und simultan im schon existierenden Netzwerk der Telekommunikation funktionieren. Daraus ergibt sich die Forderung, der elektronische Raum, bisher monopolisiert, müßte ein rekursives Universum werden. Rekursionstechniken und Selbstorganisationsprozeduren, wie bei den zellularen Automaten müßten auch in die vom Staat hierarchisch monopolisierten Technologienetzwerke eingeführt werden. Wir zeigen bei dem diesjährigen Ars Electronica Festival genau deswegen eine Auswahl weltweiter Versuche und Anstrengungen, diese emanzipatorischen und befreienden Transformationen der Technokratie zu leisten. Von der telematischen bis zur digitalen Interaktivität, von der globalen Telekommunikation über Satellit bis zur lokalen taktilen Interaktivität mit einem Computer über seinen Bildschirm, vom visuellen bis zum akustischen Bereich wird ein Überblick über die verschiedenen Formen der interaktiven Kunst gegeben. Dabei entwickeln die Künstler nicht nur ihre eigenen Systeme, Programme und Apparaturen, sondern verwenden auch bereits existierende Systeme und Netzwerke, wie z.B. Computer, Radio und Fernsehen. Im Einklinken in vorhandene öffentliche Netze und Systeme der Kommunikation und Information demonstrieren ihre Werke erst recht das anfangs besprochene Primat der Gedanken über das Gebilde, des Codes über den Kanal, der Immaterialien über die Materie. Das häufige Verwenden real vorhandener Nachrichten-Systeme wie Post, Telefon, Radio, TV, dieser neue Meßton im Territorium terrestrischer Reichweiten, zielt weder auf "digitale Harmonie" (J. Whitney, 1980) noch auf Mißton, sondern auf das Durchlöchern der Systeme. Es ist ein neuer, medialer Realismus im Zeitalter der Hyperrealität.

Lischka:
Wenn ich vorher sagte, jeder soll sein eigenes Programm schreiben, heißt das natürlich, daß man als Programmierer auch Einsicht in Programme nehmen kann und deshalb das herrschende Programm decodieren kann. Diese Decodierungsleistung ist eine befreiende Tat und schüttelt die Imperative des einen großen Programms ab. Es fehlt in der Geschichte der Medien nicht an Bemühungen, den "Großen Bruder" loszuwerden. Schon Brechts Radiotheorie peilte ein anderes Programm an. Sie wurde durch Hitlers Monopolradio in die genau entgegengesetzte Richtung umgepolt. Hitler etablierte das erste perfekte alleinzige Großprogramm, das unter anderen Vorzeichen den Zweiten Weltkrieg überdauert hat und heute in Form von verwässerten Unterhaltungsprogrammen global präsent ist. Praktisch alle Ansätze zum interaktiven Umgang mit den Medien mußten bis heute den ökonomischen "Sachzwängen" weichen.

Weibel:
Genau die gleichen Sachzwänge gelten auch für die Kunst, wo ja immer wieder interaktive Praktiken der Herrschaft des Tafelbildes weichen mußten. Das ist ja gerade das Problem, daß die technische Medienkunst als einen ihrer zentralen Parameter die Interaktivität hat. Diese Interaktivität ist notwendig, weil die technische Kunst sich in die Erforschung komplexer Systeme begibt. Deswegen hat ja Lyotard bei seiner Immaterialien-Ausstellung den Begriff der Komplexität ebenso wie den der Immaterialität in den Mittelpunkt gestellt. Bei komplexen Systemen ist das dynamische Verhalten der Singularitäten und Irregularitäten wichtiger als die materia prima. Darum ist es ja gerade für mich so lächerlich, was im Kunstbetrieb als ökologische Kunst kursiert, die eine Reduktion komplexer biologischer Phänomene auf einfachste ästhetische Reize bewirkt (z.B. W. Laib). Die von dir angesprochene Energetisierung, die sich sowohl in dem berühmten Buch von Buckminster Fuller "Synergetics" schon angekündigt hat, wie auch das Thema der von Hermann Haken herausgegebenen Reihe zur Synergetik, die sich mit der Kooperation individueller Teile eines Systems beschäftigt – sowohl mit deterministischen wie stochastischen Prozessen, mit Musterformationen und chaotischem Verhalten –, ergibt sich ja aus dem Einstieg in die Welt selbstorganisierender Systeme höchster Komplexität.

We present the basic concepts of dynamics in four historical groups: Galilean, Newtonian, Poincaréan, and Thomian. From antiquity to Galileo, general physical concepts of kinematics were developed, especially space, time, curve of motion in space, instantaneous velocity at a point on the curve, and final motion or asymptotic destination of the curve – probably thought to be a limit point. From Newton to Poincaré, the mathematical expression of "local" concepts flowered: Euclidean space-time domain, integral curve, vector field, and attractor (taken to be a limit point, or a limit cycle).

From Poincaré to Thom, the global geometric perspective emerged; the state space (or mathematical domain) of the dynamical system expanded from an open region in a flat Euclidean space to a manifold, or smooth space of arbitrary geometric and topological type. The dynamic system came to be viewed globally also: analytically, as a "flow" (or group of motion of the space of states upon itself); and geometrically, through its phase portrait. More complicated limit sets, such as the ergodic two-dimensional torus of irrational rotation, became known and the revolutionary concepts of structural stability, generic property, and bifurcation emerged.
Ralph A. Abraham and Christopher D. Shaw, Dynamics, A Visual Introduction, in: Self-Organizing Systems, Ed. by F Eugene Yates, Mean. 1987, S. 544.

Weibel:
Hat die Kunst bisher mit einem statischen Weltbild korrespondiert und mit einem leblosen Materiebegriff, so ist seit der Beschleunigung durch die industrielle Revolution die Betonung des Studiums dynamischer Systeme nicht mehr wegzuleugnen. Dieser Wechsel von starren einfachen zu dynamischen komplexen Systemen und ihren diversen Eigenschaften stellt eine Herausforderung an die Kunst dar. Zwei Merkmale dieser Herausforderung haben wir schon beschrieben, zum einen der wechselnde Standpunkt, die pluralistische Betrachtungsweise, zum anderen das offene Netzwerk. Damit korrespondieren aber klarerweise die Substitution der Materie als wichtigster Faktor eines mechanischen Systems durch die Energie als zentrales Moment eines dynamischen Systems und zweitens die Interaktivität (von der Selbstorganisation bis zur Kommunikation). Es kann kein interaktives Tafelgemälde geben, hingegen ist Interaktivität das eigentliche Ziel von Video und Computer. Wenn mit Hilfe thermaler Techniken der Austausch von Strahlungsenergien von Oberflächen bestimmt wird und diese Techniken auf das Feld der Computergrafik angewendet werden, wie bei der Radiosity-Methode der Firma Silicon Graphics, so wird es möglich, interaktiv auf dem Computer durch ein Gebäude auf dem Bildschirm zu marschieren. Der Pavillon von Mies van der Rohe von 1929, Barcelona, wird in fotorealistischer Technik in allen seinen Elementen im Computer gespeichert, wodurch eine immense Komplexität der Berechnung notwendig wird. Mit Hilfe der erwähnten Methode, die ein Energie-Equilibrium für die sichtbare Energie des Environments berechnet, ist es möglich, in Echtzeit nicht nur durch alle Räume dieses Gebäudes interaktiv zu marschieren, sondern auch direkt durch die Wände, Decken und Böden hindurch. Oder die Firma Programination (N.Y.) hat eine Intelewall entwickelt, wo die einzelnen Monitore einer Videowand interaktiv vom Betrachter durch einen Laserstrahl auf den Monitor programmiert werden können. Dadurch entstehen vielfältige und komplexe Musterformationen. Die Zukunft ist interaktiv. Das interaktive Bild ist gekommen, um zu bleiben. Das interaktive Bild ist die Zukunft.

Lischka:
Mir scheint, man muß doch einen Unterschied zwischen Interaktion und Interaktion machen. Denn sonst wären ja all die statischen Bilder der Vergangenheit für nichts gewesen. Entsprechend dem Zeithabitus einer anderen Epoche hatte man auch mehr Zeit, um sich die Bilder anzusehen. So ist das riesige Gemälde von Tintoretto im Dogenpalast "Das Paradies" natürlich ein gigantischer Hollywoodfilm und z.B. Picassos "Guernica" auch erst in einer gewissen zeitlichen Dimension decodierbar. Das heißt, solche Bilder sind geistig interaktiv, man braucht Zeit, sie zu verstehen, man muß in sie eintauchen, Was du natürlich primär unter Interaktion verstehst, ist eine tatsächliche Interaktion, d.h. ein Hin und Her in einem Kommunikationsprozeß. Ich möchte diesen Prozeß nicht zu einem alleinzigen hochstilisieren, denn z.B. in einem Vortrag zuhören zu können und in einem Film sitzen zu bleiben etc., ist ja auch eine Form von Kommunikation und geistiger Auseinandersetzung, also virtueller Interaktion.

Weibel:
Interaktion bedeutet für mich eben wechselseitige Beeinflussung, und zwar sowohl auf materialer als auch immaterialer Basis, wechselseitige Beeinflussung im Verhalten wie im Bewußtsein.
Mutual and simultaneous activity on the part of both participants, usually working toward some goal, but not necessarily.
Andrew Lippman in: Stewart Brand, The Media Lab – Inventing the future at MIT, penguin Books, New, York 1988, S.46.

Weibel:
Dabei gibt es primär drei Stationen grosso modo zu unterscheiden. Erstens die Interaktion zwischen Materialien und Elementen, z.B. von Bild und Ton oder von Farbe und Musik (Synästhetik). Zweitens die Interaktion zwischen Energiezuständen (Synergetik), wenn ein (technisches) System, sei es auch der Kunst, auf Umweltveränderungen reagiert. Besonders deutlich ist hier die musikalische Arbeit von David Dunn zu sehen, wo Naturgeräusche bzw. Geräusche natürlicher Lebewesen, durch den Computer transformiert, wieder in die Natur zurückgespeist werden und dort das Tonverhalten der Tiere verändern. Hier wird deutlich, daß wir es mit lebenden dynamischen Systemen zu tun haben und nicht mit einem anorganischen toten System, weil das Ganze ja in der Stadt mit Autos nicht funktionieren würde. Die dritte Interaktionsstufe wäre zwischen Personen, d.h. zwischen Objekten und Personen und Personen und Personen. So kann sich die Formation von tausend Wassertropfen beim Springbrunnen ändern mit der Anzahl der Betrachter, und bei einem computerunterstützten Networking können sich die Meinungen und Gedanken der jeweiligen Benutzer ändern. Für mich ist sozusagen Interaktivität ein Oberbegriff für eine Vielzahl homeostatischer Prozeduren, die eben für das Funktionieren komplexer dynamischer Systeme notwendig sind. War die bisherige Kunst der starren Geometrie des Verhaltens verpflichtet, …

Lischka:
… ja es sogar produzierte, indem es die Hierarchie und somit eine starre Struktur produzierte und popularisierte, …

Weibel:
… löst die von der Technologie geforderte und geförderte Interaktivität diese starre Geometrie auf und wandelt sie in ein dynamisches Chaos um, in eine instabile Heterarchie selbst-organisierender Systeme.

Lischka:
Wie Jantsch sagt, ist Pluralismus das schöpferische Prinzip.

Indem wir Pluralismus zum schöpferischen Prinzip erheben, ordnen wir Menschheitsgeschichte in ihrer Gesamtheit sinnvoll ein in eine in ihrer Dynamik ganzheitlich wirkende Evolution. Indem wir uns selbst als Ganzes realisieren, werden wir zum integralen Aspekt einer universalen Ganzheit. Indem wir voll aus uns heraus leben, überwinden wir die kosmische Kälte und Einsamkeit.(…)

Es wird nun deutlich, daß Koevolution weder Aufbau von Grundbausteinen noch auch permanente Differenzierung eines ursprünglich homogenen Universums bedeutet, sondern die Ausbildung von hierarchisch geordneter Komplexität bis zur völligen Durchstrukturierung aller hierarchischen Ebenen.
Erich Jantsch, Die Selbstorganisation des Universums. Vom Urknall zum menschlichen Geist, München 1982, S. 116, S. 141.

If cellular automata can act as universal computers, then they are in a sense capable of the most complicated conceivable behaviour. Even though their basic structure is simple, their overall behaviour can be as complex as in any system.

This complexity implies limitations of principle on analyses which can be made of such systems. One way to find out a system behaves in particular circumstances is always to simulate each step in its evolution explicitly. One may ask whether there can be a better way. Any procedure for predicting the behaviour of a system can be considered as an algorithm, to be carried out using a computer. For the prediction to be effective, it must short cut the volution of the system itself. To do this, it must perform a computation that is more sophisticated than the system itself is capable of. But, if the system itself can act as a universal computer, then this is impossible. The behaviour of the system can, thus, be found effectively only by explicit simulation. No computational short cut is possible. The system must be considered "computationally irreducible".
Stephen Wolfram, Complex Systems Theory, in: Emerging Syntheses in Science, Ed. by David Pines, Addison-Wesley Publ., 1988, S. 188.

Weibel:
Interaktivität produziert ja geradezu eine Vielzahl von Veränderungen des Verhaltens und ist somit ein Kernbegriff des Pluriversums.
POLYSEMIE
Lischka:
Dein Pluriversum ist mir genauso lieb wie mein zersplitterter Universalismus. Wir tendieren doch beide dorthin, wo das eine große Programm mit seinem breiten Verteilerstrom des Ewiggleichen verwandelt wird in die vielen Programme der Vielen, die ich unter diesem Aspekt schon gar nicht mehr im alten Wortsinne als Programm sehen kann, sondern unter Einschluß des Möglichen – auf das du dich ja auch immer beziehst – als Projekt. Denn ein Projekt schließt automatisch das Werden, energetische Umwandlungen etc, ein und entbindet uns vom Zwanghaften des Programms.

Von Neumann was really talking about what is possible within the context of physical law. He showed that structure can grow richer under physical law (and nothing else). The processes that led to the formation of galaxies are nothing like the reproduction of Von Neumann's machines, but the object lesson is clear: Complexity is selfgenerating. The diversity of our world is understandable because it is possible to design imaginary self-consistent worlds potentially as complex as our own.
William Poundstone, The Recursive Universe, W. Morrow, N.Y., 1985, S. 232.

Weibel:
Damit wird klar, daß die bisherigen materialen Komponenten mechanischer Systeme die historischen Modelle für eine Epistemologie des Lebendigen dargestellt haben. Nun aber, mit einem komplexen offenen interaktiven Systembegriff und mit einer partikulären oder pluriversalen Betrachtungsweise, wird das Studium dynamischer, menschengemachter Systeme möglich, welche Eigenschaften natürlicher lebendiger Systeme zeigen. Insofern stellen die von uns angesprochenen Systembegriffe ein neues Modell der Epistemologie dar. Hierbei möchte ich auf den fundamentalen Unterschied zwischen linearen und nichtlinearen Systemen hinweisen, wobei die konstituierenden Teile eines linearen Systems unabhängig analysiert werden können. Dieses Superpositionsprinzip funktioniert bei nichtlinearen Systemen nicht, weil deren primäre Eigenschaften nicht durch die isolierten Teile entstehen, sondern eben nur durch die Interaktion zwischen diesen Teilen. Die interaktionsbegründeten Eigenschaften dieser komplexen dynamischen lebendigen Systeme verschwinden, wenn wir ihre Teile unabhängig voneinander studieren. So haben wir es also mit virtuellen Teilen zu tun. Das Interesse; das in jüngster Zeit an virtuellen Maschinen und virtueller Architektur entsteht, folgt dieser Einsicht in die Wissenschaft von der Komplexität. Auch die verschiedenen neuen Modelle des Geistes (Robert Ornstein, Multimind, der Geist als multidimensionales Gebilde aus vernetzten Teilen, Marvin Minsky, The Society of Minds, 1987) folgen dieser Logik der Pluralität. Schließlich gibt es auch Kunstmedien und Kunstformen, wie z.B. die nonlineare Erzählweise beim interaktiven digitalen Video (welches klarerweise die latente Nonlinearität der Cut-up-Methode nur fortführt), welche denselben Diskurs des Polylogs (eben als interaktive Summe, die mehr ist als ihre Teile) verfolgt. Insofern scheinen mir Partizipation und Interaktivität, dynamische Systeme und Komplexität vier Pfeiler für eine Epistemologie zu sein, wo virtuelle Teile das Pluriversum des Polylogs bilden. Mit anderen Worten, wo gerade eben diese virtuellen Teile die fundamentalen Atome und Moleküle des Verhaltens und unseres Bewußtseins bilden, die sich auch in der Kunst abbilden sollten.

However, this first era of evolution is drawing to a close and another one is beginning. The process of evolution has lead – in us – to "watches" which understand what makes them "tick", which are beginning to tinker around with their own mechanisms, and which will soon have mastered the "clockwork" technology necessary to construct watches of their own design. The Blind Watchmaker has produced seeing watches, and these "watches" have seen enough to become watchmakers themselves. Their vision, however, is extremely limited, so much so that perhaps they should be referred to as near-sighted watchmakers.

With the discovery of the structure of DNA and the interpretation of the genetic code, a feedback loop stretching from molecules to men and back again has finally closed. The process of biological evolution has yielded genotypes that code for phenotypes capable of manipulating their own genotypes directly: copying them, altering them, or creating new ones altogether in the case of Artificial Life.

By the middle of this century, mankind had acquired the power to extinguish life on Earth. By the middle of the next century, he will be able to create it.
Ch. G. Langton, Artificial Life, in: Christopher G. Langton (Hrsg.), Artificial Life, Addison-Wesley Publ., 1989, S. 43.

Lischka:
Das Programm, wie wir es kennen, ist der Monolog, der über unsere Köpfe hinweg gesprochen wird. Um diesen Monolog überhaupt einmal in einen Dialog zu überführen, dazu brauchen wir die Interaktion. Um auch über den Dialog hinauszukommen, d.h., uns wirklich in einem Kommunikationsnetz zu befinden, in dem wir tatsächlich Botschaften austauschen könnten, anstatt daß nur das Medium die Botschaft ist, dafür brauchen wir den Polylog. Der Polylog ist nichts anderes als das, was du als Pluriversum bezeichnest und wovon ich als versplitterter Universalität sprach, auf eine tatsächlich zwischenmenschliche Ebene geführt, in der das Netz der Systeme geknüpft wird als energetischer Austausch, der Sinn momentan konstruiert.