Modalitäten einer interaktiven Kunstausübung
'Jeffrey Shaw
Jeffrey Shaw
Interaktive Kunst ist ein virtueller Raum von Bildern, Klängen, Texten und so weiter, der sich (teilweise oder ganz) darstellt, wenn mit und in ihm von einem Benutzer gearbeitet wird.
Dieser interaktive Raum kann innerhalb eines bestimmten Darstellungsmediums existieren (etwa eines Videomonitors), aber auch (kohärenter- und paradoxerweise) in den tatsächlichen Raum des Benutzers projiziert werden. Er kann auch zu einem den Benutzer ganz umgebenden völlig synthetischen Raum werden.
Die möglichen Mechanismen dieser Interaktivität sind verschiedenartig. Einerseits gibt es da die ganze Maschinerie, Temperaturfühler, Klang-, Druck-, Bewegungs-, Formmeßgeräte und so weiter, andererseits die ganzen Kommunikationssinne des Benutzers: Berührung, Gestik, Bewegung, Gespräch, Blick, Hören und so weiter.
Die technologischen Werkzeuge interaktiven visuellen Ausdrucks sind computerunterstützte Systeme digitaler Bildverarbeitung, synthetischer Bilderzeugung, und Random-access-Informationsspeicherung, weil diese Werkzeuge am effektivsten die Echtzeitkoordinaten eines virtuellen Raumes beschreiben können. Diese Werkzeuge können als Sprache das Vokabular aller früheren Kunstformen (Malerei, Skulptur, Architektur, Photographie, Kinematographie) verwenden, ebensogut aber auch das neue Vokabular der gänzlich synthetischen (programmierten) Sprachen.
Die interaktive Arbeit ist ein latenter Raum von Bildern, Klängen, Texten und so weiter, deren Ästhetik sowohl in den Koordinaten ihrer versteckten potentiellen Formen als auch in den Szenarien der interaktiven manifesten Formen eingegliedert ist. Die Szenarien solcher Kunstwerke sind gleichzeitig die manifesten Wege des Bedarfs und der Wünsche der Benutzer – das Kunstwerk wird bei jedem Benutzereingriff neu geschaffen und neu strukturiert. (Denkbar wäre auch ein komplexer Mechanismus, der sich tatsächlich als Reaktion auf seine Benutzer jedesmal modifiziert.)
Interaktive Arbeit ist Mechanismus, Programm und alle möglichen Formen seiner denkbaren Szenarien der Enthüllung. Jeder Benutzer ist Erzähler und Autobiograph eines dieser möglichen, Szenarien. Für den nichtaktiven Zuseher, der nur dieses interaktive Kunstwerk betrachtet, wie es von einem Benutzer manipuliert wird, ergibt es die einzigartige Erfahrung, es durch die Augen eines anderen erhellt zu sehen – seine Manifestation ist Performance.DIE LESBARE STADT Ein interaktiver Darstellungsraum in der Form einer simulierten urbanen literarischen Landschaft, die mit dem Fahrrad bereist werden kann.
Ein Projekt von Jeffrey Shaw und Dirk Groeneveld für die ARTEC '89 – World Design Expo, Nagoya, Japan, Juni–November 1989 und die Ars Electronica Linz 1989. Das Projekt versucht, einen Simulationsraum zu schaffen, in dem die psychologische Identität der "Stadt" durch die Verwandlung von Architektur in literarische Strukturen berührbar, erfahrbar gemacht wird, wobei letztere wiederum rein visuelle Strukturen sind, die vom Betrachter durchreist werden können.
Werkbeschreibung: Der Betrachter kann ein Fahrrad verwenden, um interaktiv in einem dreidimensionalen Raum aus Videoprojektionen zu reisen.
Der Raum, in dem sich der Radfahrer bewegt, ist eine Stadt, deren Grundriß aus tatsächlich bestehenden Großstädten abgeleitet ist: New York, Paris, Mailand, Amsterdam und andere. All diese Städte haben in ihrer Anlage eine starke "psycho-geographische" Komponente.
Diese Städte werden als Worte und Phrasen mit Hilfe eines real-time 3D-Computergraphik-Systems visualisiert. Die Worte und Sätze beschreiben die maßstäbliche Anlage der Stadt – also die Organisation ihrer Straßenzüge, Kreuzungen, Plätze … Nicht Häuser, sondern Buchstabenreihen und Wörter und Sätze sind die Architektur der Stadt.
Durch diese Stadt zu reisen bedeutet also, sich durch diese Stadt durchzulesen. Die Wahl der Richtung, die Entscheidung, abzuzweigen oder nicht, hängt von der jeweils gelesenen Geschichtenzeile ab.
Auf diese Weise wird die Stadt der Worte nicht zu einer urbanen Architektur eigener Art, sondern auch eine Art dreidimensionales Buch, das in jeder Richtung gelesen werden kann, in dem jeder Betrachter seine eigenen Geschichten zusammenstellen kann, wenn er mit dem Fahrrad seine selbstgewählten Wege entlangfährt.
Das Antlitz der Stadt wird durch eine real-time 3D-Computergraphik-Simulation erzeugt. Deren Bilder werden auf einen 3 x 4 Meter großen Bildschirm vor dem Radfahrer projiziert. Das Fahrrad ist fest montiert, der radfahrende Besucher steuert allerdings Richtung und Geschwindigkeit seiner Fahrt durch schnelleres oder langsameres Treten der Pedale und durch die Lenkbewegungen.
Die Stadt in diesem Werk wird physisch durch eine dreidimensionale Anordnung von Wörtern als Straßen dargestellt, die psychische Komponente hingegen ergibt sich aus den Bedeutungen, die diese Wörter annehmen, wenn sie vom Radfahrer auf seinem Weg gelesen und interpretiert werden.
© Shaw/Groeneveld 1988
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